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MIT Technology Review Feature

Krisen meistern: So verhelfen uns Meditation und Virtual Reality zu mehr Achtsamkeit

Was passiert in unserem Gehirn, wenn wir meditieren? Die Ergebnisse der Bewusstseinsforschung zeigen verblüffende Parallelen zu buddhistischen Schriften – und eröffnen vielleicht sogar Wege, mit globalen Krisen besser umzugehen.

Von Wolfgang Stieler
15 Min.
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Technischer Trip: In der Dream Machine liegen die Teilnehmenden mit geschlossenen Augen. Stroboskop-Lichter wechselnder Frequenz erzeugen vor ihrem inneren Auge bunte, geometrische Strukturen. (Foto: David Levene)

Marc Wittmann sitzt in seinem Büro und plaudert über seine Forschung. Es ist ein ganz gewöhnliches Büro, wie man es sich bei einem Universitätsprofessor vorstellt. Eine Tafel im Hintergrund enthält Gesprächsnotizen, es gibt viele Bücherregale und noch mehr Papier. Ab und zu trinkt Wittmann einen Schluck Tee, um dann weiterzusprechen. Wittmann erzählt begeistert von Experimenten mit psychedelischen Drogen, die seine Schweizer Kollegen durchführen, seinen Versuchen mit Isolationstanks und von Forschung zur Manipulation des Zeitempfindens in der virtuellen Realität. Und mit einem Mal werden die Sechzigerjahre wieder lebendig.

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Der Psychologe Timothy Leary predigte damals auf dem Campus der Harvard University den Gebrauch von LSD und anderen psychoaktiven Drogen. Er wurde dann wegen Marihuana-Besitz zu einer Gefängnisstrafe von zehn Jahren verurteilt, konnte mithilfe der militanten Weathermen fliehen, um schließlich ins Exil zu gehen. Oder John C. Lilly: ein Psychologe und Neurobiologe, der fest davon überzeugt war, wir könnten mit Delfinen kommunizieren. Der Isolationstank, in dem man in körperwarmem, hochgesättigtem Salzwasser schwebt, während man optisch und akustisch von der Welt abgeschlossen ist, ist ursprünglich Lillys Erfindung. Allerdings kombinierte er die Sitzungen im „Flotation Tank“ gerne noch mit Gaben von LSD – was ihn schließlich in immer fernere Sphären abdriften ließ: Gegen Ende seines Lebens war Lilly überzeugt, die Geschicke des Universums würden von hoch entwickelten außerirdischen Entitäten kontrolliert.

Dieser Text ist zuerst in der Ausgabe 2/2023 von MIT Technology Review erschienen. Darin setzen wir uns mit dem Thema Achtsamkeit auseinander: Wie kann Technologie helfen? Hier könnt ihr die TR 2/2023 bestellen.

Wittmann geht es allerdings – anders als den Gurus der Hippie-Bewegung – nicht um Selbsterfahrung, Subkultur und Spaß. Es geht um Wissenschaft, um Medizin und darum, neue Wege zu finden, Patienten mit psychiatrischen Auffälligkeiten, Depression und Schizophrenie zu behandeln. Das Potenzial dieser Forschung geht aber weit über medizinische Anwendungen hinaus. Denn die „veränderten Bewusstseinszustände“, die Wittmann und andere mittlerweile erforschen, verändern im besten Fall die Wahrnehmung des eigenen Selbst. Und damit, um es mit den Worten des Philosophen und Bewusstseinsforschers Thomas Metzinger zu sagen, könnte eine neue „Bewusstseinskultur“ – so auch der Titel seines neuesten Buches – entstehen. Eine Kultur, die sich auf rationaler und wissenschaftlicher Basis mit dem Innenleben des Geistes beschäftigt. Eine Kultur, die uns in Zeiten globaler Krisen befähigt, „weder den eigenen Verstand zu verlieren noch die eigene Würde“.

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Dreh- und Angelpunkt solch einer „Bewusstseinskultur“ sind Theorien und Forschungsergebnisse, die einen Zusammenhang zwischen der Wahrnehmung von Zeit, Raum, Realität und des Selbst herstellen. Noch sind diese Theorien lückenhaft. Sie beschreiben die Phänomene qualitativ und auf verschiedenen Ebenen der Abstraktion. Aber sie geben schon jetzt faszinierende Hinweise darauf, wie sich Bewusstseinszustände gezielt zu unserem Nutzen verändern lassen. Damit ist die Wissenschaft dabei, sich ein Gebiet zu erschließen, das jahrhundertelang Religion, Philosophie und Mystizismus vorbehalten war.

Können wir uns dem, was jahrhundertelang als unwissenschaftlich galt, mit wissenschaftlichen Methoden nähern? Sind Erfahrungen wie Flow oder Bewusstseinszustände, die während der Meditation entstehen, rational zu ergründen? Und können wir sie gerade in Zeiten globaler Krisen für uns nutzen, um achtsamer mit uns und unserer Umwelt umzugehen?

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Der Verlust des Zeitgefühls, eine Entgrenzung des Selbst, eine Art kosmische Verbundenheit mit der Welt wird zwar immer wieder von erfahrenen Meditierenden verschiedenster Kulturen und Regionen beschrieben – wie auch von Konsumenten psychedelischer Drogen. Doch das Einüben solcher Bewusstseinszustände ist nicht reproduzierbar. Die praktischen Techniken der Versenkung, die zur ersehnten Erleuchtung führen sollen, sind oftmals mit mystischen und esoterischen Erklärungen über den Ursprung und Sinn dieser Welt verknüpft. Das ist nichts für rational veranlagte Geister. Und die Einnahme psychoaktiver Substanzen ist nicht nur gefährlich, sondern obendrein verboten.

Wittmann empfiehl stattdessen eine spezielle Form des Badens. Der Floating Tank sei so etwas wie eine „Instant-Meditation“, schwärmt er. „Ich bin selbst kein großer Meditierer, aber im Floating Tank komme auch ich relativ schnell in tiefe, meditationsähnliche Zustände.“ In diesem Tank schwebt man auf körperwarmem, hochgesättigtem Salzwasser – wie im Toten Meer. „Die Außengrenze zur Umgebung verschwindet und man ist eins mit seiner Umgebung“, sagt er, „und dann verliert man das Gefühl für die Zeit.“

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Meditation, Achtsamkeit und das Zeitempfinden sind jedoch eng miteinander verknüpft. Wie man das Zeitempfinden gezielt manipulieren kann, haben Wittmanns Kollegen, angeführt von dem Kölner Psychiater Kai Vogeley, im Rahmen des Projektes Virtual Times (vor allem) in VR-Umgebungen getestet. Eine von ihnen entworfene Szene: Die User sitzen auf der Brücke eines Raumschiffs, während sich vor ihren Augen ein Sternenfeld bewegt. Sind die User gestresst, wird die Bewegung des Sternenfeldes beschleunigt, entspannen sie sich, bewegen sich die Sterne langsamer. Durch diese Manipulation konnten die Forschenden erreichen, dass die Zeit für die Probanden subjektiv schneller verging.

Ein anderes Experiment sollte die Probanden in den Flow-Zustand versetzen: „Thumper ist ein Spiel in VR, bei dem sie scheinbar in einer Achterbahn fahren“, sagt Wittmann. Auf dieser Fahrt kommen einem Gegenstände entgegen und man muss sie rechtzeitig beiseitedrücken, damit sie die Fahrt nicht behindern. „Man fährt auf dieser Achterbahn und muss sich ganz schön konzentrieren – so sehr, dass man Zeit und Selbst verliert.“ Je besser die Probanden im Spiel waren, so Wittmann, desto stärker war auch deren Flow-Empfinden und umso schneller verging für sie die Zeit.

Das VR-Spiel Thumper soll User gezielt in einen Flow-Zustand versetzen, in dem sie die Zeit und sich selbst vergessen, um Stress und Ängste abzubauen. (Bild: Screenshot: VirtualTimes / Thumper, © Drool LLC 2013–2019)

Genau dieser „Verlust von Zeit und Selbst“ ist für Wittmann und seine Kollegen der Schlüssel für eine Veränderung der Selbstwahrnehmung. Sie konnten nachweisen, dass sie Teil der achtsamkeitsbasierten Stressreduktion ist und sind davon überzeugt, dass sie eine ähnlich günstige Wirkung auf Patienten mit Angststörungen, Depression oder Schizophrenie erzielen können – vergleichbar mit der Wirkung von Antidepressiva.

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Der Grund: „Normalerweise denken wir ständig an Vergangenes, an die Zukunft“, sagt Wittmann. „Sie denken schon an die nächste Frage, die Sie gleich haben werden, oder denken vielleicht noch über eine alte Frage nach.“ Diese „Ausweitung der Präsenzzeit“ hänge stark mit dem „narrativen Selbst“ zusammen, erklärt er, „unserer eigenen Erzählung darüber, wer wir sind und wie wir in der Welt wirken“. Bei Patienten mit Depression oder Angststörungen sei jedoch genau dieses „narrative Selbst stark hochgefahren“, es entstünden „negative Gedankenschleifen, Ruminationen“. „Wenn ich jetzt auf diesen Präsenzmoment fokussiert bin – also das Hier und Jetzt –, dann verliere ich diese Ausweitung der Zeitzone auf die Vergangenheit und die Zukunft“, sagt Witmann. Das Zeitempfinden dient also als Hebel, um im Hier und Jetzt anzukommen und sich nicht mit Ängsten, Befürchtungen oder verpassten Gelegenheiten zu belasten. Genau dieses Im-Hier-und-Jetzt-Ankommen ist auch das Ziel von Achtsamkeitsübungen, die nicht nur kranken, sondern auch gesunden Menschen helfen sollen, besser mit Stress und belastenden Situationen umzugehen.

Dass dieser Zustand sich durch eine Manipulation des Zeitempfindens herbeiführen lässt, „ist eine interessante Idee“, sagt der britische Bewusstseinsforscher Anil Seth. „Aber ich glaube nicht, dass es dafür Belege gibt. Ich denke nicht, dass das Zeitempfinden ein Hebel ist. Ich glaube, das ist eher ein Seiteneffekt.“ Allerdings einer, der in seinen Augen eine Menge über die Struktur des Bewusstseins verraten kann.

Das Rätsel der Zeit
Wie Lebewesen das Vergehen von Zeit wahrnehmen, ist von der Wissenschaft noch immer nicht verstanden. Das Zeitgeber-Akkumulator-Modell wird von vielen Forschenden jedoch als „grobe Heuristik“ verwendet, um zu beschreiben, wie Zeitwahrnehmung funktioniert, sagt Marc Wittmann. Soll heißen: Das Modell beschreibt grob die Funktionen, ist aber höchstwahrscheinlich zu stark vereinfacht.Demnach gibt es in Lebewesen Zeitgeber, die in regelmäßigen Zeitabständen Impulse aussenden, die von einem Akkumulator genannten zweiten System gesammelt werden. Je mehr Pulse der Akkumulator gesammelt hat, desto länger wird die verstrichene Zeit empfunden. Zeitgeber und Akkumulator werden aber durch zwei Faktoren beeinflusst: Steigt das körperliche Erregungsniveau, feuert der Zeitgeber schneller, sinkt es, feuert er langsamer. Der Akkumulator hingegen sammelt nur dann Impulse, wenn die Aufmerksamkeit auf der Wahrnehmung der Zeit liegt. Achtet man nicht auf die Zeit, ist abgelenkt, vergeht sie wie im Flug.Die Theorie ist allerdings umstritten. Um sie zu testen, entwarf der Neurobiologe David Eagleman 2007 ein spektakuläres Experiment: Gemeinsam mit seinem Team entwarf er eine spezielle Digitaluhr, deren Display so schnell flackerte, dass es unter normalen Bedingungen nicht zu lesen war. Dann überredete er Freiwillige, aus 30 Metern Höhe in ein Netz zu springen, während sie auf ihre flackernden Uhren starrten. Wenn sich die innere Uhr tatsächlich beschleunigt, dann – so seine Überlegung – sollten die Freiwilligen sehen, wie sich die Unschärfe im freien Fall in lesbare Zahlen auflöst. Das konnten sie nicht – endgültig widerlegt ist die Zeitgeber-Theorie damit aber nicht.

Denn für Seth – und mit ihm einer wachsenden Zahl von Forschenden – liegt der Schlüssel zum Verständnis des Bewusstseins in der Wahrnehmung: Demnach sei Wahrnehmung kein passiver Prozess, bei dem Informationen von den Sinnesorganen von außen zum Gehirn geleitet und dort verarbeitet und interpretiert werden. Vielmehr laufe der Prozess in beide Richtungen: Das Gehirn produziert Hypothesen über Muster in den Sinnesdaten. Die gleicht es andauernd mit den Wahrnehmungen der Sinnesorgane ab und passt seine Hypothesen an. Dabei wird die Differenz zwischen dem Modell, das das Gehirn entwickelt, und den Sinnesdaten möglichst kleiner.

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Das Modell weist Ähnlichkeiten zu Autoencodern auf. Das sind künstliche neuronale Netze, die selbstständig lernen, wesentliche Eigenschaften ihrer Trainingsdaten zu erkennen und sie in einer kompakten, abstrahierten Form abzuspeichern. Bevor Seth sich der Bewusstseinsforschung zuwandte, hatte er Naturwissenschaften und Informatik studiert – die Parallelen sind also sicher kein Zufall.

Dieses Modell der subjektiven Wahrnehmung lässt sich nicht nur gut im Computer modellieren, sondern kann auch eine verblüffende Bandbreite von Phänomenen erklären. Optische Illusionen zum Beispiel, wie der Fall des berühmten „Dress“: Ein Hochzeitskleid, dessen Foto 2015 in sozialen Medien viral ging, erscheint manchen Betrachtern schwarz-blau, anderen weiß-gold gefärbt. Der Effekt lässt sich durch die sogenannte „Farbkonstanz“ erklären: eine Art automatischer Weißabgleich des menschlichen Auges, der uns auch bei wechselnden Beleuchtungsbedingungen Farben so sehen lässt, wie wir es gewohnt sind. Erdbeeren beispielsweise erscheinen uns immer rot, auch wenn sie in violettem Licht eigentlich ganz anders aussehen. Aber wie funktioniert diese Fähigkeit? Im Auge werden drei verschiedene Sorten von Sehzellen von Licht verschiedener Wellenlänge unterschiedlich stark angeregt.

Dieser physiologische Mechanismus allein würde jedoch bewirken, dass farbige Gegenstände unter verschiedenen Beleuchtungsbedingungen immer anders aussehen. Das Gehirn produziert nun aufgrund früherer Erfahrungen eine Erwartung davon, wie die Welt ist. Diese Idee legt sie über die Sinnesdaten, um sie zu gewichten und zu interpretieren. Das ergibt dann eine annähernd konstante Farbempfindung auch unter wechselnden Beleuchtungsbedingungen.

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Allerdings funktioniert diese interne Farbkorrektur nicht bei allen Menschen gleich. Da die Beleuchtung des Kleides auf dem Bild nicht klar zu deuten ist, führt sie in der Wahrnehmung offenbar zu vollkommen verschiedenen Ergebnissen. Eine „kontrollierte Halluzination“ nennt Seth das. Was wir subjektiv wahrnehmen, ist eine Mischung aus den Informationen der Sinne und unserer Vorstellung von der Welt. „Natürlich ist diese Vorstellung relativ nah an der realen Welt und stark davon beeinflusst“, sagt Seth.

Aber sie ist damit eben nicht identisch: „Wenn Sie und ich heute zusammen in Brighton spazieren gehen und wir sehen, dass der Himmel heute blau ist, benutzen wir vielleicht das gleiche Wort, um diesen Himmel zu beschreiben“, sagt Seth. „Aber Sie haben mit Sicherheit eine andere Farbempfindung als ich.“

Die Welt, die wir subjektiv wahrnehmen, enthält also immer etwas von dem Modell, das wir uns von ihr machen. Deswegen sehen wir manchmal Gesichter oder fantastische Wesen in Wolken – oder Monster in den Schatten. Und je mehr die Vorhersage-Modelle des Gehirns die Überhand gewinnen – bei psychischen Störungen oder unter dem Einfluss psychedelischer Drogen etwa –, desto mehr verzerren und verbiegen sie unsere Wahrnehmungen.

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Um diesen Effekt zu illustrieren, entwarf Keizo Suzuki gemeinsam mit Seth eine Computersimulation: die Hallucination Machine. Das System gibt das Video eines Spazierganges auf dem Campus auf einem VR-Headset aus. Allerdings durchläuft jedes einzelne Videobild zwischendurch einen modifizierten Deep-Dream-Algorithmus. Das ist ein 2015 entwickeltes, spezielles neuronales Netz, das das Input-Bild so verändert, bis es zu den Aktivierungsmustern der künstlichen Neuronen passt – grob gesagt verstärkt und visualisiert das den Effekt, den wir erleben, wenn wir Gesichter in Schatten oder Wolken sehen. Das Ergebnis ist trippy: Aus menschlichen Köpfen werden bunte Hundeköpfe, aus Gliedmaßen sprießen Blumen, farbige Ränder tauchen auf. Es ist tatsächlich eine Simulation „einer halluzinogenen Erfahrung in biologisch plausibler Weise“ – und zwar „ohne die zu Grunde liegende Neurophysiologie zu verändern“, betonen die Autoren. Ein Trip ohne Drogen.

Theorien des Bewusstseins

Schon die Frage, ob sich das Rätsel des Bewusstseins überhaupt lösen lässt, ist umstritten. 1974 schrieb der Philosoph Thomas Nagel, dass wir wahrscheinlich niemals verstehen könnten, wie andere Lebewesen die Welt erleben, oder, in seinen Worten, „wie es ist, eine Fledermaus zu sein“. Auch der Philosoph David Chalmers war 1995 nur wenig optimistischer, als er die Suche nach einer naturwissenschaftlichen Erklärung für subjektives Erleben als „Hard Problem“ bezeichnete. Ungeachtet dessen haben sich in den vergangenen 30 Jahren mehrere Theorien herausgebildet, die auf verschiedenen Abstraktionsebenen zu erklären versuchen, was Bewusstsein ist.

GLOBAL WORKSPACE

Die Global-Workspace-Theorie entwickelte der Psychologe Bernard Baars erstmals 1988, und der Neurowissenschaftler Stanislas Dehaene erweiterte sie. Nach dieser Theorie werden mentale Inhalte wie Wahrnehmungen, Gedanken und Emotionen in verschiedenen Hirnregionen autonom verarbeitet. Sie gelangen in das Bewusstsein, wenn mehrere verschiedene Hirnregionen synchronisiert auf diese Inhalte zugreifen, die dann in einem „globalen Arbeitsbereich“ zur Verfügung stehen. Die bewusste Wahrnehmung eines Objektes erlaubt es beispielsweise, mit diesem wahrgenommenen Objekt Aktionen zu planen. Die Theorie gehört damit zu den funktionalen Erklärungen, nach denen Bewusstsein in erster Linie über seinen Nutzen erklärt werden muss.

INTEGRATED INFORMATION

Die Integrated Information Theorie (IIT), die 2004 vom italienischen Hirnforscher Giulio Tononi vorgeschlagen wurde, geht das Problem auf einer sehr viel abstrakteren Ebene an. Nach dieser Theorie lässt sich jedem physikalischen System eine Bewusstseins-Maßzahl zuordnen. Diese Zahl Φ (der griechische Buchstabe Phi) liegt zwischen 0 und 1 und beschreibt, stark vereinfacht, die Menge an Informationen, die ein System insgesamt erzeugt und die über die Menge an Informationen hinausgeht, die von seinen einzelnen Teilen erzeugt werden. Obwohl sie sehr abstrakt und teilweise kontraintuitiv ist, ging aus der IIT ein Testverfahren hervor, mit dem gemessen werden kann, ob Koma-Patienten bei Bewusstsein sind.

PROGNOSE-MASCHINE

Der dritte große Block beschreibt in verschiedenen Variationen das Gehirn als selbstständig lernende Prognose-Maschine. Nach dieser Theorie bildet es ständig Hypothesen über die Ursachen und den weiteren Verlauf der eingehenden Sinnesdaten und gleicht sie miteinander ab. Bewusstsein ist, nach Anil Seth, das Resultat dieses Abgleichs, eine „kontrollierte Halluzination“, eine Vorstellung darüber, wie die Welt ist, basierend auf den Signalen der Sinne. (Anil Seth: Being You, Eine neue Wissenschaft des Bewusstseins). Mathematisch lässt sich das beispielsweise durch das Free Energy Principle des britischen Hirnforschers Karl Friston beschreiben.

Die Idee, dass Wahrnehmung keine Einbahnstraße ist, geht jedoch weit über die Erklärung optischer Täuschungen oder die Simulation von Drogenerfahrungen hinaus. Denn das Konzept gilt auch für andere Formen der Wahrnehmung: Die Wahrnehmung des Raumes, des eigenen Körpers, die Wahrnehmung von Realität. Alles beruhe auf Vorstellungen unseres Gehirns darüber, wie die Welt ist, sagt Anil Seth. Auch die Wahrnehmung von sich selbst in der ersten Person, die Idee, eine unveränderliche Persönlichkeit zu sein, beruhe auf diesem Mechanismus. Sie bündele diese Wahrnehmungen in einem „Selbstmodell“. Nur sei uns das normalerweise gar nicht bewusst – das Modell des Gehirns ist „transparent“, wie die Philosophen sagen.

Das könnte erklären, warum die Selbstwahrnehmung sich ändert, wenn Forschende in VR-Umgebungen mit dem Zeitempfinden ihrer Probanden spielen und weshalb sie Ängste löst und Wahnvorstellungen lindert. Es könnte erklären, warum der Isolationstank, der scheinbar die Außengrenze des Körpers auflöst und den Treibenden ganz auf seine Innenwahrnehmung reduziert, zu meditationsähnlichen Zuständen führt. Oder warum eine „Out-of-Body-Experience“ in VR, das Gefühl, nicht mehr im eigenen Körper zu sein, die Angst vor der eigenen Sterblichkeit lindert, wie Pierre Bourdin und Kollegen von der Universität Barcelona 2017 festgestellt haben – allerdings nur mit einer sehr kleinen Gruppe von Menschen.

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Was Seth daran interessiere, sei eine Erkenntnis, die auch nach ausgiebiger Meditationspraxis beschrieben wird: dass das Selbst unbeständig sei. „Es verändert sich ständig. Es ist kein Ding, es ist auch eine Form der Wahrnehmung, eine Art Konstruktion des Gehirns, um sein Verhalten in der Welt zu organisieren.“ Darüber werde in buddhistischen Texten „seit Tausenden von Jahren geschrieben“, sagt Seth. „Aber es ist auch etwas, das die moderne Neurowissenschaft herausgefunden hat.“

„Stimmt“, sagt der Philosoph und Bewusstseinsforscher Thomas Metzinger. „Meditation hat nachgewiesene positive Effekte.“ Durch die Ergebnisse der Bewusstseinsforschung versteht man mittlerweile auch immer besser mögliche „Kontraindikationen“, also Umstände, unter denen Meditation mehr Schaden anrichtet, als sie nützt. Ein wenig überspitzt gesagt, könnte man auch die Idee, Meditation und Achtsamkeit seien für sich genommen bereits eine Antwort auf die planetaren Krisen, als eine solche Kontraindikation betrachten. Es könne nicht die richtige Reaktion sein, sich im Rahmen einer kapitalistischen Selbstoptimierung „bloß eine Art geistigen Schnuller in den Mund zu stecken, um sich gut zu fühlen“.

Ähnlich wie Anil Seth ist auch Metzinger davon überzeugt, dass unser Ego eine Illusion ist, ein „Selbstmodell des Gehirns“, das es uns Menschen ermöglicht hat, evolutionär extrem erfolgreich zu sein. „Aber in der Evolution ist es nie darum gegangen, dass wir glücklich sind“, sagt Metzinger, „nur darum, dass wir möglichst gut unsere Gene weitergeben können.“ Das Resultat: „Gier, Neid und Dominanzstreben sind von der Evolution in uns eingepflanzt.“ Von diesen Verhaltensweisen, die Achtsamkeit und Resilienz diametral entgegenstehen, können wir uns lösen, wenn sie uns bewusst werden. „Nicht auf einer theoretischen Ebene, sondern direkt, unmittelbar, ohne Gedanken und Worte“, sagt Metzinger. Denn durch die Verschiebung der Aufmerksamkeit wird die Gewichtung des Selbstmodells in der Wahrnehmung schwächer – wir sehen die Welt im wahrsten Sinne des Wortes anders. „Dadurch können wir unsere Wahrnehmung, unser bewusstes Realitätsmodell als eine Konstruktion erkennen, eine Art Virtual Reality“, sagt Metzinger. Indem wir „die inneren, unbewussten Antriebskräfte erkennen“, haben wir eine Chance, zu entscheiden, ob wir wirklich so handeln wollen, wie wir das meist tun. Und möglicherweise einen Lebensstil entwickeln, der nicht auf immer mehr Wachstum beruht.

Anil Seth geht die Frage der Selbstmodulation pragmatischer an. Gemeinsam mit Forschenden und Künstlern hat er das Projekt „Dreamachine“ aufgesetzt: eine Art interaktive Kunstausstellung, halb Happening, halb wissenschaftliches Experiment. Die Besucher ruhen in Gruppen von 20 bis 30 Menschen auf bequemen Liegen, während sie mit geschlossenen Augen eine innere Reise antreten, angetrieben durch Musik und intensive Stroboskop-Lichter in verschiedenen Frequenzen.

„Wir fragen die Menschen hinterher, was sie gesehen haben“, sagt Seth. „Und da geht eine Menge vor sich. Sie sehen Farben und Formen und Geometrien. Es ist wie eine sehr intensive, fokussierte Meditationsphase.“ Diese intensive Erfahrung einer reichen, komplexen Innenwelt, sagt Seth, könne die Menschen verändern – sie aus den ewig gleichen Schleifen herausreißen, in denen sie immer nur nach einer Bestätigung dessen suchen, was sie sowieso schon für richtig halten. Die „innere Vielfalt“ anzuerkennen, „kann genauso transformierend für die Gesellschaft sein, wie es die Anerkennung der äußeren Vielfalt gewesen ist“.

Teilnehmer des Dreamachine-Experiments zeichneten später das, was sie während der Performance vor ihrem inneren Auge gesehen hatten: in der Regel abstrakte, bunte, geometrische Muster, die an LSD-Trips erinnern. (Bild: Dreamachine)

Während der Krieg in der Ukraine sich weiter zuspitzt, im Südpazifik schon der nächste Krieg droht, die soziale Spaltung weiter wächst, während wir gleichzeitig mit Vollgas auf eine unumkehrbare Erderwärmung zurasen, scheint diese Hoffnung naiv. Die Ergebnisse der Bewusstseinsforschung zeigen allerdings tatsächlich Wege und Techniken auf, sich aus zerstörerischen Endlosschleifen zu lösen. Und das, ohne Gurus, Gottheiten oder Geschäftemachern zu folgen und den rationalen, kritischen Verstand aufzugeben. Noch sind die Experimente und Technologien am Anfang, aber sie zeigen ein faszinierendes Potenzial. Jahrtausende Menschheitsgeschichte haben allerdings auch gezeigt, dass die Beschäftigung mit der eigenen Innenwelt allein nicht reichen wird.

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