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MIT Technology Review Feature

Achtsamkeit: Was ist Hype und was hilft wirklich?

In Zeiten von Klimakatastrophe und Krieg ist es leicht, die innere Balance zu verlieren. Kann uns eine tausende Jahre alte und dennoch moderne Idee helfen?

Von Jan Vollmer
7 Min.
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Krise, Krieg und Klimakatastrophe: Das kann einem schon mal zu viel werden. (Symbolbild: Girts Ragelis/ Shutterstock.com)

Nach einer dreijährigen Pandemie, einem Krieg in Europa und mitten in der sich verschärfenden Klimakatastrophe kann man schon mal aus der Ruhe kommen. Viele Dinge, die wir über Jahrzehnte hauptsächlich aus den Nachrichten kannten, sind plötzlich in unserem Alltag angekommen: In der Pandemie hat unser Gesundheitssystem seine Grenzen erreicht, mit einem Krieg in Europa gehen Jahrzehnte der gefühlten Sicherheit zu Ende, in der Klimakatastrophe vertrocknen jetzt auch die Bäume im eigenen Garten.

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Ein Weg, um damit umzugehen, ist natürlich, den Krisen entgegenzutreten – etwas zu tun: In der Pandemie sind Pfleger und Ärztinnen über sich hinausgewachsen, während der Rest diszipliniert zu Hause blieb; nach anfänglich zögerlichen Hilfslieferungen von 5.000 Helmen in die Ukraine stellte sich die Bundesregierung immer entschlossener an die Seite des angegriffenen Landes; und gegen die Klimakatastrophe gehen zumindest die jungen Menschen im Rahmen der Fridays-for-Future-Demonstrationen auf die Straße.

Die Frage ist aber nicht nur „Was tun?“, sondern auch „Wie damit umgehen?“. Selbstsorge, Self-Care, Resilienz oder Mindfulness sind zu Schlüsselbegriffen unserer Zeit geworden. Google Trends zeigt, dass der Begriff Resilienz, mentale Widerstandsfähigkeit, nie vorher so oft gesucht wurde wie im April 2021.

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Dieser Text ist zuerst in der Ausgabe 2/2023 von MIT Technology Review erschienen. Hier könnt ihr die TR 2/2023 bestellen.

Auch der Begriff Achtsamkeit hatte ein Google-Rekordhoch im Januar 2022 – der Pandemie-Hochzeit. Und in Zeitschriften, Bücherregalen, im App-Store und als Podcast hat das Thema Achtsamkeit eine steile Karriere hingelegt: Allein bei dem Buchhändler Thalia gibt es mittlerweile über 1000 Bücher zu dem Thema. Die beiden bekanntesten Achtsamkeits-Apps Calm und Headspace haben mittlerweile jeweils mehrere Millionen Abonnenten und einen Unternehmenswert von jeweils mehreren Milliarden Dollar.

Die Sommersonnenwende gehört am New Yorker Times Square den Yogis. „Mind Over Madness“ heißt die Veranstaltung, die unter anderem das indische Generalkonsulat in New York sponsert. Sie fordert die Fähigkeit der Yogis heraus, Lärm und visuelles Chaos inmitten des städtischen Trubels auszublenden.

(Bild: Ddp)

Bei dem DAX-Konzern RWE spricht die Global-Wellbeing-Managerin derweil von „unserer Kultur der Achtsamkeit“. Auch im Silicon Valley werden nicht nur Achtsamkeits-Apps produziert: Unternehmen wie Alphabet, Meta, Twitter und Amazon haben Achtsamkeitsprogramme für ihr Personal aufgelegt. In San Francisco findet jetzt jährlich die Wisdom-2.0-Konferenz statt, bei der die Tech-Szene Achtsamkeitslehrern und -lehrerinnen lauscht.

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Das Thema Achtsamkeit ist so groß geworden, dass Roland Purser, Management-Professor an der San Francisco State University und praktizierender Buddhist, sich in seinem Buch McMindfulness sorgt, dass Achtsamkeit zunehmend aus dem vielschichtigen und auch ethischen Kontext des Buddhismus herausgeschält und als oberflächliches Produkt zur Entspannung angeboten wird. Beliebigkeit statt Lebenseinstellung; McDonalds statt Vollwertkost.

Der Bedarf ergibt sich jedoch nicht nur aus den großen Krisen unserer Zeit. Laut einer Studie der American Psychological Association ist in den USA finanzieller Druck einer der wichtigsten Stressfaktoren. Und eine Untersuchung im Auftrag der Techniker Krankenkasse erbrachte, dass in Deutschland der subjektiv empfundene Stress ansteigt. „Schule, Studium und Beruf“ zählen laut der Studie zu den größten Stressfaktoren.

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Allerdings werden eine schwierige finanzielle Situation oder ein stressiger Job in der Regel nicht allein durch Achtsamkeit besser. So ist auch die Kritik von Roland Purser, dass im Zuge der McMindfulness die Gründe für Stress in den Hintergrund geraten. Die Verantwortung für gesellschaftliche Probleme wie Stress durch Arbeitsbelastung, Armut oder die Folgen der Pandemie droht ins Privatleben der Menschen abgeschoben zu werden. Ann Gleig, Professorin der University of Central Florida, geht noch einen Schritt weiter und beschreibt die Debatte um Mindfulness als Allheilmittel sogar als „Mindfulness Wars“ – als Krieg um das seelische Wohlbefinden.

Auch wenn sie jetzt einen Hype erlebt – Achtsamkeit ist älter als unsere modernen Krisen. Wer sie erfunden hat, ist sehr schwer zu sagen. Die Ānāpānasati Sutta, eine der ältesten Überlieferungen und zentralsten Schriften des Theravada-Buddhismus, schlägt (grob vereinfacht) bereits vor, den eigenen Atem bewusst zu erleben. „Lange einatmend weiß er: ‚Ich atme lange ein‘“, steht da. Was heute, einige tausend Jahre später, Achtsamkeitslehrende, Bücher, Podcasts und Apps anbieten, geht auf genau dieses Prinzip des „bewussten Erlebens“ zurück. Die Idee dahinter ist, unser Leben zu verändern, indem wir vom Autopilotmodus des Alltags auf bewusste Wahrnehmung umschalten – spüren, was uns guttut, was uns nicht guttut oder wie es uns überhaupt gerade wirklich geht.

Achtsamkeit ist keine Technik, sondern eine Qualität: das achtsame Erleben der Welt und des eigenen Körpers und Geistes. Trainiert werden kann diese Qualität wiederum durch verschiedene Formen der Meditation. Aber auch der Meditationsbegriff ist dehnbar. Häufig wird Meditation als Praxis beschrieben, in der Menschen etwas bewusst tun. Sie setzen sich hin. Sie erleben bewusst den eigenen Atem. Sie gehen, essen oder singen bewusst. Dabei ist Meditation nicht auf die Lehren der buddhistischen Religion beschränkt, die als Wiege der Praxis gilt. Besonders das meditative Gehen ist Teil vieler Weltreligionen: Pilgern auf dem Jakobsweg oder der Gang um die Kaaba in Mekka sind nur zwei Beispiele.

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Im Buddhismus gibt es einen ethischen Rahmen und konkrete Vorschläge, wie wir ein achtsames Leben gestalten. Gebote, die gar nicht so weit von den zehn christlichen Geboten entfernt sind (unter anderem: nicht töten, nicht stehlen, nicht lügen), weisen den Weg in die Achtsamkeit. Auch Leid ist ein großes Thema im Buddhismus: Wie können wir mit unserem persönlichen Leid umgehen, wie können wir es verringern? Eine Antwort der buddhistischen Lehre auf Leid ist Mitgefühl. Mitgefühl mit sich selbst, mit anderen Menschen, mit allen Wesen, mit der Welt. Die buddhistische Lehre beschreibt die Welt als eins, versteht alle Wesen als Teil des großen Ganzen.

Die westliche, säkularisierte Idee der Achtsamkeit hingegen mündet oft kurz nach dem bewussten Erleben in Pragmatismus statt Spiritualität. Wenn wir dann bewusst den Klimawandel wahrnehmen, entscheiden wir, zu Aktivistinnen und Aktivisten zu werden oder bewusst Braunkohle abzubaggern, wie die RWE in Lützerath. Die US-Armee nutzt Achtsamkeitstraining mittlerweile auf einem hawaiianischen Stützpunkt, um Soldaten präziseres Schießen beizubringen. Immer mehr Buddhisten kritisieren daher diesen westlichen, pragmatischen McMindfulness-Einsatz ihrer Achtsamkeits-Lehren.

Inzwischen sind Meditation, Achtsamkeit und Resilienz allerdings keine religiöse oder spirituelle Domäne mehr. Auch die Forschung nimmt sich ihrer inzwischen vor allem in der Psychologie und der Neurologie an. Eine aktuelle Meta-Studie, die die Ergebnisse von 87 Studien zum Thema untersuchte, kam zu dem Ergebnis, dass Achtsamkeit uns generell aufmerksamer macht. Eine andere Meta-Studie, die 16 Publikationen speziell zu digitalen Achtsamkeitsangeboten untersuchte, kam zu dem Schluss, dass digitale Achtsamkeitsangebote einen „kleinen bis moderaten Effekt“ auf Stress und Achtsamkeit hatten.

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Auch Isabella Helmreich vom Leibniz-Institut für Resilienzforschung nähert sich dem religiösen Prinzip mit wissenschaftlichen Methoden. Sie versteht unter Achtsamkeit „eine Haltung, in der die eigene Aufmerksamkeit – in einer offenen und nicht-bewertenden Weise – auf die gegenwärtige Erfahrung ausgerichtet ist, also das ‚Hier und Jetzt‘“. Oder einfacher: Achtsamkeitspraktiken sollen uns helfen, wieder besser mit uns selbst und unseren eigenen Bedürfnissen in Kontakt zu kommen. Zugleich lernen wir dabei, dass wir nicht jedem Gedanken oder Handlungsimpuls, den wir haben, Folge leisten müssen.

Für Helmreich ist Achtsamkeit eine Haltung, die die eigene Resilienz stärkt. Resilienz definiert die Forscherin als „Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der psychischen Gesundheit während oder nach widrigen Lebensumständen“. Das Wort stammt aus dem Lateinischen: Resilire bedeutet so viel wie zurückspringen, abprallen und nicht anhaften. Es umschreibt die Fähigkeit, mit Herausforderungen umzugehen. Damit schließt sich der Dreiklang: Meditation ist eine Methode, um Achtsamkeit zu trainieren und darüber unsere Resilienz zu stärken.

Neben der Resilienzforschung arbeitet die Wissenschaft auch noch an einem anderen Zugang zu Achtsamkeit und Bewusstseinsveränderung. Über Wahrnehmungs- und Bewusstseinstheorien erschließen sich Forscherinnen und Forscher Gebiete, die Jahrhunderte lang Religion, Philosophie und Mystizismus vorbehalten waren. Sie ergründen, wie sich Selbstwahrnehmung modulieren lässt. Ein „Verlust von Zeit und Selbst“ ist etwa für Forscher Marc Wittmann der Schlüssel für eine Veränderung der Selbstwahrnehmung. Ist es möglich, mit technischen Hilfsmitteln wie Virtual Reality oder schwimmend in mit Salzwasser gefüllten Isolationstanks die Wahrnehmung des Selbst zu erweitern? Und kann uns das helfen, unsere Welt anders wahrzunehmen und sie mehr zu schützen?

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Natürlich werden solche gesellschaftlichen Trends auch immer von technischen Tools begleitet, die versuchen, die hochkomplexe Auseinandersetzung mit sich selbst möglichst einfach zugänglich zu machen. So sind die Entwickler der Meditations-App Headspace stolz darauf, die Wirksamkeit ihrer App in mittlerweile 16 Studien geprüft zu haben: Studien der Northeastern University sollen zeigen, dass nach drei Wochen Achtsamkeitstraining das Mitgefühl mit anderen Menschen um 23 Prozent steige und Aggressionen der Probanden um 57 Prozent reduziert würden. Eine Studie mit Pflegekräften soll sogar festgestellt haben, dass Achtsamkeitstraining via App besser funktioniert als herkömmliches Achtsamkeitstraining.

Was bedeutet all das jetzt für jede und jeden von uns? Können Achtsamkeit und Meditation uns tatsächlich helfen, besser mit der Welt zurechtzukommen, wie sie gerade ist? Isabella Helmreich bejaht das: „Achtsamkeitspraktiken werden in vielen Resilienztrainings vermittelt, um besser für sich zu sorgen und die eigene Aufmerksamkeit zu fokussieren und zu regulieren, um mehr im Hier und Jetzt zu sein.“ Die Wirksamkeit achtsamkeitsbasierter Verfahren zur Stressbewältigung sei in vielen Studien dokumentiert, sagt sie. „Und auch in eigenen Studien konnten wir zeigen, dass Resilienztrainings, die achtsamkeitsbasierte Elemente beinhalten, sehr effektiv sein können.“ Wenn Menschen, die Zeit und Energie darauf verwenden, sich selbst und ihr Innenleben zu beobachten, sich auch selbst besser verstehen, dann können sie auch mit sich selbst und den Herausforderungen, die das Leben ihnen stellt, besser umgehen. In diesem Sinne: Atmen Sie lange ein.

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