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MIT Technology Review Interview

Experte zu Emissionshandel: „Wir werden wieder einen Wilden Westen erleben“

Die Emissionshandelssysteme bekommen zwei weitere Spielarten: Was hinter den Artikeln 6.2 und 6.4 steckt, die auf der UN-Klimakonferenz beschlossen wurden, klärt der Kohlenstoffmarktexperte Carsten Warnecke auf.

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Wer welche Zertifikate kauft, ist dem Klima egal: Hauptsache, die Emissionen sinken. (Bild: petrmalinak/Shutterstock)

Freiwillige Klima-Kompensationen wie der Clean Development Mechanism (CDM) haben einen schlechten Ruf. So hat eine kürzlich erschienene Nature-Studie ergeben, dass die untersuchten Zertifikate weniger als 16 Prozent der ausgewiesenen Klimawirkung erzielt haben. Mit der Klimakonferenz COP 29 in Baku kommen nun zwei weitere Spielarten hinzu. Beide sind schon 2015 im Klimaabkommen von Paris in den Artikeln 6.2 und 6.4 umrissen worden. Carsten Warnecke, Kohlenstoffmarktexperte des NewClimate Institute, erklärt die Hintergründe und Folgen.

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MIT Technology Review (TR): Warum gibt es mit den Artikeln 6.2 und 6.4 eigentlich zwei verschiedene Mechanismen? Hätte man das nicht vereinfachen können? 

Warnecke: Bei Artikel 6.2 geht es um den direkten Handel zwischen einzelnen Ländern, bei Artikel 6.4 können Zertifikate auch für andere Zwecke und zwischen Privatunternehmen gehandelt werden. Letztendlich war das wohl ein Kompromiss: Einige wollten das eine, andere wollten das andere, also hat man beides reingeschrieben.

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Langer Verhandlungsprozess für neue Emissionshandelssysteme

TR: Der Artikel 6 stand schon im Pariser Abkommen von 2015. Warum hat man neun Jahre weiter darüber verhandelt?

Warnecke: Die Regeln waren bisher nicht so weit ausverhandelt, dass man mit der Umsetzung starten konnte. Die Positionen lagen sehr, sehr weit auseinander und es wurde hart verhandelt, weil viele ihre Position lange nicht aufgeben wollten.

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TR: Vor allem die EU hat jahrelang blockiert.

Warnecke: Ja, die EU hat darauf gepocht, dass wir Regeln bekommen, die ambitioniert genug sind und zu qualitativ hochwertigen Maßnahmen führen. Das ist lobenswert. Allerdings bekommen wir jetzt Regeln, die das nicht in allen Aspekten erfüllen. Und die EU hat trotzdem zugestimmt.

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TR: Wo liegen die Probleme?

Warnecke: Wir bekommen jetzt einen Mechanismus, den es aus meiner Sicht besser nicht geben würde. Die neuen Regeln können zu Maßnahmen führen, die das Pariser Abkommen unterlaufen, anstatt es zu stärken.

Bei Artikel 6.2 war die Befürchtung – und das hat sich jetzt bestätigt –, dass sehr wenig Überwachung stattfinden wird. Die UN wird keine große Rolle spielen, um sich die Deals zwischen den Ländern genauer anzuschauen und eventuell auch drauf zu pochen, dass Mindestqualitätsregeln eingehalten werden. Es wurden jetzt zwar einige Transparenzregeln vereinbart, damit man wenigstens weiß, wer was mit wem handelt. Aber wer sich nicht an diese Regeln hält, muss im Prinzip kaum Konsequenzen fürchten. Das läuft darauf hinaus, dass Länder undurchsichtige bilaterale Deals vereinbaren können, die nicht im Sinne des Pariser Klimaabkommen sind. Es wird sehr schwer werden zu verstehen, wie die Länder ihre tatsächlichen Klimaziele genau umsetzen. Das ist genau das, was einige Länder wollten. Wir haben es jetzt so bekommen.

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Bei Artikel 6.4 hat vor allem die ganze Industrie, die sich aus dem CDM, dem Clean Development Mechanism, entwickelt hat, sehr stark dafür gekämpft, dass dieser unter einem neuen Namen weiter existieren kann. Dort gibt es auch ein Supervisory Body der UN, das Regeln festlegt und entscheidet, welche Projekttypen erlaubt sind – ähnlich, wie wir es mit dem CDM schon kennen.

Es ist also für jeden etwas dabei. Jeder kann sich den einfachsten Weg aussuchen.

„Den Artikel 6 hätte man niemals ins Klimaabkommen reinschreiben dürfen“

TR: Ist die EU ist einfach eingeknickt oder haben sich die politischen Mehrheiten geändert?

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Warnecke: Die EU ist nicht eingeknickt, aber wir hatten da Verhandlungen zwischen knapp 200 Staaten. Da sind alle extremen Positionen vertreten, und niemand wird genau das bekommen, was er möchte. Das muss man akzeptieren. Die EU hat aus ihrer Sicht ein bisschen bekommen und an anderer Stelle etwas aufgegeben. Aber der eigentliche Fehler ist schon in Paris gemacht worden. Den Artikel 6 hätte man dort niemals ins Klimaabkommen reinschreiben dürfen. Das haben die EU-Verhandler aber selbst gewollt. Jetzt muss sie leben mit dem, was sie damals geschaffen haben.

TR: Was hat die EU im Gegenzug dafür bekommen?

Warnecke: Es gibt jetzt minimale Transparenzvorschriften und Regeln, die zum Beispiel darauf abzielen, keine Projekte mehr zu genehmigen, die einen Lock-in fossiler Infrastruktur bewirken. Das ist aus meiner Sicht aber eine Selbstverständlichkeit. Entscheidende andere Punkte sind weiterhin ungeklärt – zum Beispiel die Permanenzfrage. Was passiert, wenn eine Emissionsminderung nicht dauerhaft garantiert werden kann? Welche Vorkehrungen muss ich da treffen?

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Und es gibt auch noch den Artikel 6.1, der übergeordnete Bedeutung hat und von Artikel 6.2 und 6.4 fordert zu einem Ambition Raising beizutragen. Davon ist jetzt überhaupt nichts umgesetzt worden, stattdessen hat man die Fehler aus der Kyoto-Zeit wiederholt. Die EU hat sich lediglich darauf beschränkt, das Allerschlimmste zu verhindern.

Wie man Anreize verbessern könnte

TR: Ambition Raising?

Warnecke: Eigentlich sollte mit dem Artikel 6 ein Anreizsystem entstehen, dass die Länder befähigt, mehr zu reduzieren, als sie es ohne diesen Artikel gemacht hätten. Das heißt, es sollten nur solche Projekte gefördert werden, die ein Land nicht aus eigener Kraft stemmen könnte. Aber einen Wald aufforsten oder den zwanzigsten Windpark bauen, das können die Länder auch selbst oder mit einer alternativen Finanzierung auf die Beine stellen.

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Wenn ich aber mit einem Projekt zeige, dass etwa in der Mongolei Luftwärmepumpen noch bei minus 40 Grad funktionieren, dann ist das etwas, das die Mongolei niemals in ihre eigenen Ziele hineingeschrieben hätte, weil sie es nicht selbst finanzieren könnte und es viel zu riskant für sie wäre. Ein solches Projekt hält die Mongolei nicht davon ab, ihre Hausaufgaben zu machen, sondern setzt noch einen obendrauf. Und es ermöglicht der Mongolei, in fünf oder zehn Jahren die eigenen Ziele zu verschärfen, was so zu erhöhter Ambition auch unter dem Pariser Klimaschutzabkommen führen würde.

TR: Wie wird es nun weitergehen?

Warnecke: Wir werden wahrscheinlich wieder einen Wilden Westen erleben, mit sehr geringer Zertifikatsqualität, und in ein paar Jahren haben wir dann ähnliche Skandale und Studien, die uns zeigen, was alles schiefgegangen ist, und dass in Wahrheit kaum oder gar kein Klimaschutz stattgefunden hat.

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TR: Die Teilnahme der Länder an Artikel 6 ist freiwillig. Welchen Einfluss hat die Einigung auf verpflichtende Handelssysteme wie das europäische ETS? Besteht die Möglichkeit, dass auch Zertifikate nach Artikel 6.4 für das ETS zugelassen werden?

Das entscheidet nicht die Klimakonferenz, sondern allein die EU. Der europäische Emissionshandel hat bereits in seiner Anfangszeit CDM-Zertifikate zugelassen. Dann hat man gesehen, dass sie den Handel so stark verwässern, dass er seine Funktion nicht mehr erfüllt, und hat sie sukzessive wieder rausgeworfen. Wenn man wieder die gleichen Fehler macht wie früher, wäre der europäische Emissionshandel hochgradig gefährdet. Wir sollten alle ganz stark aufpassen, dass dies nicht passiert. Im Moment sieht es zwar nicht danach aus, aber niemand kann das für die Zukunft ausschließen. Es gibt eine Lobby, die das gerne möchte, weil sie höhere Preise für ihre Projekte erzielen kann, wenn der Anwendungsbereich für diese Zertifikate größer ist. Und wir haben die internationale Luftfahrt, die sich schon vor Jahren auf ein extrem schwaches Zertifikatesystem geeinigt hat. Auch da können und werden viele der minderwertigen Zertifikate reinfließen, anstatt dass die Branche einen ernsthaften Transformationsprozess startet.

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