Studie: Neuroimplantat lässt Gelähmten wieder kommunizieren – er fragt nach Bier und Gulasch

Gehirnimplantate sollen zukünftig Kommunikation eröffnen, wo eigentlich keine mehr möglich ist (Symbolbild: Gorodenkoff/ Shutterstock)
Ein Gehirnimplantat als Hirn-Computer-Schnittstelle könnte der nächste große Schritt in der Forschung sein, um vollständig gelähmten Menschen einen Weg der Kommunikation zu eröffnen. Das gab nun ein Forscher-Team der Universität Tübingen bekannt, das seit 2000 ein derartiges Implantat an einem ALS-Patienten getestet hat. Die Ergebnisse ihrer Arbeit haben sie nun im Fachmagazin Nature Communications veröffentlicht und zeigen sich optimistisch.
Vollständig gelähmter ALS-Patient kommuniziert via Neuroimplantat
Eingesetzt wurde das Implantat einem 34-jährigen Mann, der an der Nervenkrankheit ALS leidet und mit fortschreitender Lähmung die Fähigkeit verloren hat, sich mitzuteilen. Auch ein durch minimale Mimik gesteuerter Sprachcomputer, wie ihn beispielsweise der berühmte Physiker Stephen Hawking einst genutzt hat, funktionierte nicht mehr, als er seine Augen nicht mehr bewegen konnte.
Bisher hatten alle Kommunikationswege für vollständig Gelähmte darauf basiert, dass zumindest kleinste Muskelbewegungen noch möglich sind. Das Team um Ujwal Chaudhary von der ALS Voice gGmbH und Niels Birbaumer, das die klinische Fallstudie durchgeführt hat, setzte hingegen auf ins Gehirn implantierte Elektroden, die Hirnströme messen und damit nicht die Augenbewegungen in Sprache übersetzen, sondern den Gedanken an die Augenbewegungen.
Locked-in-Syndrom macht Kommunikation unmöglich
Amyotrophe Lateralsklerose, besser bekannt als ALS, ist eine nicht heilbare, degenerative Nervenkrankheit, bei der diejenigen Neuronen abbauen, die für Muskelbewegungen verantwortlich sind. Die Folge sind zunehmende Lähmungen, die in fortgeschrittenem Stadium zum sogenannten Locked-in-Syndrom (wörtlich übersetzt: Eingeschlossensein-Syndrom) führen.
Menschen mit diesem Syndrom sind bei vollem Bewusstsein, können aber aufgrund fehlender motorischer Fähigkeiten nicht mehr oder kaum noch kommunizieren. Neben ALS sind auch Hirntraumata oder schwere Schlaganfälle mögliche Auslöser für das Locked-in-Syndrom.
Studie: ALS-Patient konnte sich Buchstabe für Buchstabe mitteilen
Bei dem ALS-Patienten aus der Fall-Studie war dieses Stadium erreicht. 2017 verlor er auch die Möglichkeit, mittels Augenbewegungen zu kommunizieren, woraufhin sich seine Familie an Chaudharys und Birbaumers Team wandte. Die Schnittstelle in seinem Gehirn wurde an einen Computer angeschlossen, und mit den beiden mittels Hirnströmen kommunizierten Angaben „Ja” und „Nein” konnte er einzelne Schriftzeichen aus einer Liste auswählen.
Buchstabe für Buchstabe – wobei das digitale Diktat jedes einzelnen eine Minute oder länger dauern konnte – konnte er auf diese Worte oder Sätze mitteilen, darunter eine Information darüber, was er gerne essen würde oder dass er sich häufigere Anwendung von Augentropfen wünschen würde. Auch mit seiner Frau und seinem Sohn soll er sich mit dem Kommunikationssystem ausgetauscht haben.
Wunsch nach Bier und Metal
Neben der Botschaft an Frau und Sohn hatte der damals 34-jährige Mann laut Futurism aber auch einige sehr konkrete Wünsche gehabt: Dazu zählten unter anderem Gulaschsuppe und Bier. Auch ein Musikwunsch des Patienten findet sich in der Studie wieder: Progressiv-Metal von der US-Band Tool – und zwar laut.
Forschung an Gehirnimplantaten steht erst am Anfang
Die Forschung in Sachen Kommunikation vollständig gelähmter Menschen hat sich zunehmend in die Richtung von Hirn-Computer-Schnittstellen bewegt. Doch steht sie in dieser Hinsicht erst am Anfang. So stellte auch das Team aus Tübingen fest, dass über die drei Jahre der Fallstudie hinweg die Antworten des Patienten zunehmend langsamer und unklarer wurden, wie die New York Times berichtet. Die Gründe hierfür sind nicht erwiesen, die Forscher vermuten jedoch technische Gründe wie ein Verfall der Elektroden.
Skepsis machte sich in Wissenschaftskreisen zudem breit, da der Ruf von Chaudhary und Birbaumer angeknackst ist, seit zwei vorherige Studien zum gleichen Thema retrahiert werden mussten, nachdem die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) ihnen wissenschaftliches Fehlverhalten vorwarf, darunter gefälschte Daten. Zu der aktuellen Fallstudie hätten die beiden allerdings sämtliche Auswertungen und Informationen vorgelegt und unabhängig prüfen lassen.