„Geht’s raus und spielt’s Fußball“, sagte Franz Beckenbauer bei der Weltmeisterschaft 1990. Ganz so einfach ist das heute nicht mehr, denn das vermeintlich einfache Spiel ist in Zeiten von falschen Neunern und abkippenden Sechsern immer komplizierter geworden. Längst reicht auch nicht mehr ein Übungsleiter. Stattdessen unterstützt gleich ein ganzer Staff den Cheftrainer. Beim FC Liverpool geht man sogar noch einen Schritt weiter. Seit drei Jahren arbeitet der Spitzenklub aus der englischen Premier League mit Googles Deepmind-Abteilung zusammen. Dabei ist TacticAI entstanden. Das KI-System soll Trainern bei der Ausführung von Eckbällen unterstützend zur Seite stehen.
TacticAI soll Ecken gefährlicher machen
„Eckstöße haben ein hohes Potenzial für Tore“, weiß Deepmind-Blog (und schon lange auch der Fan-Block). Die Ausarbeitung einer Routine erfordere aber einen Mix aus menschlicher Intuition und Spielgestaltung, um Muster bei Gegnern zu erkennen und darauf zu reagieren. Auftritt: TacticAI. Das System ermöglicht es Trainern, Spielerkonstellationen im Strafraum bei Eckbällen zu testen und zu bewerten.
Im Einsatz soll TacticAI drei Fragen beantworten. Was wird bei einer bestimmten Eckstoßvariante passieren? Haben ähnliche Taktiken in der Vergangenheit funktioniert? Und wie lässt sich eine Taktik anpassen, um ein bestimmtes Ergebnis zu erzielen? Bei der letzten Frage muss es nicht um einen erfolgreichen Torabschluss gehen. Auch die Aufstellung der Verteidiger soll sich so optimieren lassen. Auch wenn es Virgil van Dijk wahrscheinlich nicht nötig hätte.
So funktioniert TacticAI
Diese Vorhersagen sind auch für eine KI gar nicht so einfach zu treffen. Laut Deepmind werden pro Spiel in der Premier League im Schnitt nur zehn Eckstöße ausgeführt. Daten, um das Modell zu füttern, sind also rar. Von der Zufälligkeit des Spiels einmal abgesehen.
Um Ereignisse trotzdem so präzise wie möglich voraussagen zu können, setzt das Modell auf einen geometrischen Deep-Learning-Ansatz. Kurz: TacticAI hat einen eigenen Blick auf das Geschehen, Spieler werden mitsamt ihren Daten als Knoten in einem Graph gesehen, Spielsituationen sieht das Modell nicht nur im Original, sondern zusätzlich in drei Spiegelungen. Dieser Ansatz reduziere den Suchraum für mögliche Strukturen und führe zu allgemeineren Modellen, die weniger Trainingsdaten benötigen.
Der Vorteil eines solchen Modells liegt auf der Hand. Anstatt auf der Suche nach dem perfekten Eckball stundenlang Videos zu sichten, können Trainer einfach mit dem KI-Modell herumspielen. Dabei lässt sich nicht nur ein Blick auf die Vergangenheit werfen, Coaches können auch bei der Aufstellung im Strafraum variieren, um die bestmögliche Variante für Angreifer oder Verteidiger zu finden. TacticAI liefere dafür zudem Vorschläge zur Anpassung.
Läuft es im Fußball bald wie bei Fifa?
Laut Deepmind ist das Konzept durchaus erfolgreich. „In unserer quantitativen Analyse haben wir gezeigt, dass TacticAI bei der Vorhersage von Eckstoßempfängern und Schusssituationen sehr genau war und dass die Spielerpositionierung dem realen Spielverlauf ähnlich war“, schreiben die KI-Experten. Trainer aus Liverpool attestierten der Technik, dass die Vorschläge nicht von echten Eckbällen zu unterscheiden seien. In 90 Prozent der Fälle sollen die Trainer die Vorschläge von TacticAI der ursprünglichen Version sogar vorgezogen haben.
Laut Deepmind sei TacticAI sofort einsatzfähig. Ob der FC Liverpool schon in realen Spielen von der Technik Gebrauch gemacht hat, bleibt aber genauso offen wie die Frage, ob Eckbälle künftig wie bei der Fifa-Reihe für PC und Konsolen künftig zu garantierten Toren mutieren. Interessant wäre auch zu wissen, ob Deepmind schon 2019 eine Hilfe gewesen wäre. Da schoss Liverpool-Angreifer Divock Origi ein Tor nach einer sehr schnell ausgeführten Ecke von Trent Alexander-Arnold. Die komplette Hintermannschaft vom FC Barcelona hatte geschlafen – was für eine KI wahrscheinlich schwer vorherzusagen ist.