Das Problem rund um den IT-Fachkräftemangel ist mit einer Zahl versehen: 85.000 IT-Stellen fehlen der deutschen Wirtschaft laut dem Bitkom. Und die Antwort darauf lautet: 42! Wer sich jetzt an Douglas Adams erfolgreichen Roman „Per Anhalter durch die Galaxis“ erinnert fühlt, liegt nicht ganz falsch. Denn auch diese Antwort scheint wie die des im Meisterwerk befragten Supercomputers auf die Frage aller Fragen „nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest“ zunächst völlig nichtssagend – zumindest ohne Kontext. Anders als die künstliche Intelligenz Deep Thought liefern wir den aber mit: Hinter 42 steht nämlich die Programmierschule École 42 aus Paris. Und auf deren Lernkonzept setzen viele Schwergewichte der deutschen Wirtschaft: allen voran Volkswagen, SAP, Bayer und T-Systems. Aber auch Konzerne aus den USA und Frankreich, wie Microsoft und Capgemini, unterstützen die IT-Schmiede.
École 42 eröffnet Progammierschule in Berlin
Selbstbestimmtes Peer-to-Peer-Lernen ohne Dozenten und Vorlesungen, allein in Gruppenarbeit unter Schülerinnen und Schülern – das ist das Konzept. „100 Prozent studentenzentriert“, nennt Max Senges den Fahrplan, der 2013 an der Mutterschule in Paris entwickelt wurde und mittlerweile an 36 Standorten in 22 Ländern umgesetzt wird. Im nächsten Jahr wird eine weitere Schule dazugekommen: 42 Berlin ist nach 42 Wolfsburg und 42 Heilbronn bereits die dritte Institution in Deutschland. Senges ist Gründungsrektor der Dependancen in Berlin und Wolfsburg und gab im Rahmen eines Presseevents bekannt, dass 150 Teilnehmerinnen und Teilnehmer im kommenden Jahr die Ausbildung in der Hauptstadt starten sollen. Bis zu fünf Jahre dauert sie. Inhaltlich wird zunächst klassisch C und später von Python bis Java ein bunter Mix an den wichtigsten Programmiersprachen gelernt.
Hinter dem innovativen Lehransatz, dass Studierende unter Studierenden lernen, stecke der Montessori-Gedanke, so Senges weiter: „Zeige mir, es selbst zu tun.“ Die École 42 erinnert dabei an die Konzepte vieler sogenannter IT-Bootcamps, die im Rahmen des Accelerate-Learnings Menschen schnell zu vollwertigen IT-Fachkräften machen wollen. Jedoch geht 42 mit dem völligen Fernbleiben eines Coaches einen noch radikaleren Weg. Das Curriculum funktioniert wie ein Computerspiel, in dem die Schülerinnen und Schüler von Level zu Level ziehen und Aufgaben selbstständig lösen müssen. Während anfangs noch ein simples „Hello World!“ auf den Bildschirm programmiert wird, steigt die Herausforderung bis hin zu einem Mini-Game und weiter zur ersten eigenen App. Am Ende präsentieren die Teilnehmenden ihre Ergebnisse, erklären den Weg dorthin und diskutieren, ob es anders hätte besser gehen könnten.
Dieser Ansatz sei zukunftsweisend, so Gunnar Kilian, Personalvorstand von Volkswagen. „Vor allem da die Studierenden nicht nur inhaltlich lernen, sondern eben auch komplett selbstständig im Team arbeiten.“ Das sei eine Kompetenz, ohne die es in der Softwareentwicklung gar nicht gehe, erklärt er den Pressevertretern. Der Automobilkonzern ist dringend angewiesen auf talentierte IT-Fachkräfte. Im Wettbewerb um das Auto der Zukunft hängt der Konzern ausländischen Herstellern, allen voran Tesla, hinterher. Mit 17 Millionen Euro haben die Unternehmen das Lernkonzept der 42 unterstützt. VW ist der Hauptsponsor und hat satte sechs Millionen Euro dazugegeben. Andere Firmen sind mit einer bis zwei Million Euro dabei. Viel Geld dafür, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer danach selbst entscheiden können, wohin sie mit ihren neuen Fähigkeiten im Gepäck ziehen.
Die Studentinnen und Studenten der 42 Berlin zahlen, wie an allen anderen Standorten auch, keinen Cent für ihre Ausbildung. Sie wird komplett von den Firmen finanziert. Die Unternehmen müssen anschließend dennoch um die Absolventinnen und Absolventen buhlen. Tatsächlich gibt es keine Garantie, dass danach ein gewisser prozentualer Anteil der IT-Fachkräfte eine Stelle besetzt. Um zu überzeugen, bieten die Sponsoren beispielsweise mehrmonatige Praktika im Rahmen der Kurslaufzeit an. „Wir brauchen Talente, aber Talente brauchen auch Herausforderungen“, sagt Andreas Greis, Leiter Digital Solutions bei T-Systems gegenüber den Pressevertretern. Nicht selten bieten die Firmen herausragenden Studierenden schon während der Ausbildung eine Stelle an. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Oft ist der Vorstoß erfolgreich. „Trotzdem müssen wir überzeugen“, fügt VW-Manager Kilian hinzu.
Keine Kursgebühren, keine Vorkenntnisse
Dass Studierende, unabhängig vom eigenen Einkommen oder dem der Eltern sowie dem Geschlecht oder der Herkunft an der École 42 einen Platz bekommen können, lobt vor allem SAP-Personalvorstand Cawa Younosi. „Diversität ist uns besonders wichtig!“ Teams bräuchten die unterschiedlichen Blickwinkel verschiedener Menschen. Interessierte bewerben sich und müssen in einem zweistündigen Auswahlverfahren überzeugen. Getestet werden beispielsweise Logikverständnis und Problemlösungskompetenzen der oder des Einzelnen. Bewerberinnen und Bewerber bräuchten keine fachlichen Vorkenntnisse, heißt es auf der Bühne. Englisch sollten die Studierenden jedoch draufhaben, denn das spreche man an allen Standorten. Inwiefern das Angebot dann tatsächlich noch auf weniger privilegierte Personen passt, bleibt abzuwarten. Meist haben ärmere Menschen oft auch eine schlechtere Schulbildung.
Wer es dennoch in die IT-Schmiede schafft und den hohen Leistungsdruck mit gehörig viel Selbstmotivation standhält, geht am Ende als fertiger „Full Stack Software Developer“ in die Arbeitswelt hinaus und verfügt den Betreibern der 42-Schulen nach über Softwarekompetenzen, die mit einem Masterabschluss in Informatik vergleichbar sein sollen. Die Absolventinnen und Absolventen sollen dann alle Vorteile am Jobmarkt auf ihrer Seite haben. So gut wie jeder Sektor – von der Automobil- und Pharmabranche über IT sowie Finanzen und Versicherungen – braucht die Fachkräfte und selbst während der ersten Coronamonate, in denen fast überall Einstellungsstopps herrschte, waren Softwareentwicklerinnen und -entwickler gefragter denn je. Das spiegelt sich auch im Einkommen wider: Zwischen 50.000 und 63.000 Euro soll das durchschnittliche Jahreseinkommen 2020 gelegen haben.