
Sie ist weltweit bekannt und das war von Anfang an ihr ehrgeiziger Plan: Anna „Delvey“ Sorokins faszinierende Geschichte wurde in der Netflix-Serie „Inventing Anna“ jetzt sogar verfilmt. Die Story, die auf dem Streamingdienst hypt, ist schnell erzählt: Die eigentlich stinknormale Anna aus dem deutschen Eschweiler gibt vor, eine reiche Großerbin zu sein, um sich unerkannt in der High Society von New York zu bewegen und die Nähe zum großen Geld zu suchen.
Es sind die richtigen Kleider, der richtige Jargon und die richtigen Gesprächsthemen, die die Upperclass interessieren und ihr blauäugig Tür und Tor zur Finanzwelt öffnen. Auffallend ist: Anna verkörpert den Habitus besser als manch einer der Yuppis, die sie nachahmt. Und das alles nur für ein Ziel: Sie will einen exklusiven Club für Reiche gründen, der sogar das weltberühmte Soho übertrifft. Sie will raus aus der „Stinknormalität“, aus der sie kommt, und hoch hinaus. Doch nach dem Raketenstart fällt sie tief: Ihr Schwindel fliegt auf. Was bleibt ist ein Schuldenberg und mehrere Anklagen wegen schweren Betruges.
Inventing Anna: It-Girl oder Unternehmerikone?

Hochstaplerin Anna Sorokin: „Fake it till you make it!“ (Foto: Netflix)
Die Zuschauerinnen und Zuschauer erleben diese dramatische Reise in der Netflix-Serie, die komplett auf den Recherchen der Journalistin Vivian Kent basiert, hautnah mit. Anna selbst löst gemischte Gefühle bei den Menschen aus. Um ihr Ziel zu erreichen, lügt sie teilweise bis sich die Balken biegen – Investorinnen und Investoren, Mentorinnen und Mentoren und selbst ihre eigenen Freunde täuscht sie immer wieder. Annas Mantra: „Fake it till you make it!“
Fans und Hater streiten um ihr moralisches Erbe: Ist sie eine Heldin der Millennial-Generation, die auf dem Weg nach ganz oben alles tat, was getan werden muss? Ist sie eine Unternehmerinnenlegende, deren einziger Fehler es war, in der falschen Schicht geboren zu sein? Hat sie als Frau den alten weißen Männern am vermeintlich längeren Hebel mal so richtig den Mittelfinger gezeigt? Oder ist Anna „Delvey“ Sorokin nur ein arrogantes It-Girl, das auf dem Weg nach oben sprichwörtlich über Leichen ging? Business-Ikone oder Betrügerin?
„Fake it till you make it!“
Annas Verhalten erhitzt die Gemüter: Sympathien für ihren unbändigen Siegeswillen wechseln sich mit der Abneigung für ihre krasse Rücksichtslosigkeit ab. Dabei ist Letzteres zumindest kein No-go, denn dieser Soft Skill zeichnet offensichtlich auch die wirklich erfolgreichen Menschen aus. Es sind Männer wie Steve Jobs oder Elon Musk, die quasi aus dem Nichts kamen und mit einer gepflegten Fuck-You-Attitüde das Establishment kräftig aufs Kreuz legten. Die Frage stellt sich: Ist diese Frechheit nötig, um erfolgreich zu sein?
Auch Jobs und Musk haben geschummelt, was das Zeug hält, um bis nach ganz oben zu kommen. Ersterer hat mit Apple nicht nur einmal ein Technologie-Patent wissentlich verletzt, sondern vielfach. Letzterer hat den Tesla-Aktienkurs nicht nur einmal mit kruden Fake-Tweets manipuliert, sondern vielfach. Der Betrug gehört scheinbar dazu: „Fake it till you make it“ ist Business-ABC.
Dennoch bleibt die Frage, ob es das im Falle eines potenziellen tiefen Falles wert ist, wie Annas dramatische Geschichte schmerzlich ins Gedächtnis ruft. Machen wir uns nichts vor: Wäre sie mit ihrer Scharade durchgekommen, hätte wir sie fast alle wohl für eine großartige Unternehmerin gehalten, die alles mitbringt, was es braucht: Risikofreude, Fokus, Selbstbewusstsein, Mut. Aber andererseits kritisieren wir es auch zurecht, wenn diese Erfolgsmenschen sich auf dem Rücken anderer Leute bereichern. Vor allem, wenn die Geschichte schlussendlich dann doch kein Happy End hervorbringt, rufen wir reflexartig nach anderen Eigenschaften: Loyalität, Verantwortungsbewusstsein, Bodenständigkeit.
Was man von der Hauptfigur aus „Inventing Anna“ ganz sicher lernen kann: Lügen haben kurze Beine. Irgendwann fliegen sie auf – entweder bist du dann „Too big too fail“ und kommst damit durch oder du landest wieder ganz unten.
„Don’t fake it, just make it!“
Problematisch an Anna „Delvey“ Sorokin ist eigentlich nicht, dass sie mit extrem viel Unternehmergeist an die Grenze des Möglichen gegangen ist, sondern dass ihr Antrieb eigentlich aus den völlig falschen Gründen entstand. Sie wollte nicht wie Jobs oder Musk die Welt verändern, sie wollte wie die ganzen ätzenden Celebrity-Promis auf Instagram sein, die vorgaukeln, dass nur ein Richkid-Dasein ein sinnvolles Ziel ist. Nur wer Prada trägt und Bentley fährt und sich von Kaviar und Champagner ernährt, ist in dieser Welt etwas wert. Eine ganze Generation an Mädchen und Jungen eifern ihnen nach – mit gefälschter Balenciaga-Jacke vor einem fremden Benz posierend. „Fake it till you make it!“
Am Ende schaffen es die wenigsten, weil es mehr braucht zum Erfolg als nur den schönen Schein. Es braucht vor allem Vertrauenswürdigkeit. Es ist jedem oder jeder zu gönnen, die nächste große Unternehmerikone zu sein. Aber in Zeiten, in denen „Unfuck the Economy“ gerufen wird, wäre es doch so viel wichtiger, den moralischen Kompass immer im Blick zu haben: „Don’t fake it, just make it!“