Es ist okay, nicht zu wissen, was du willst. Alles an diesem Satz klingt falsch. „Nicht“ und „wissen“ und „willst“ in einem Satz – ganz schlimme Kombination, glaubt man dem Mainstream. Nur hast du gar keinen Grund, zu glauben, was andere Leute sagen. Sicher, oft ist etwas dran. Aber bei Zielen? Wer immer nur seinen Zielen entgegenstrebt, der verliert etwas sehr Wichtiges aus dem Blick: die ganze Welt drum herum.
Der Ziel-Fetisch war mal ein schöner Trend im Management und Life-Coaching. Und ausgehend davon, dass Menschen noch nie über Ziele nachgedacht haben, war der Tipp wertvoll: Überleg dir, wo du hinwillst, dann kannst du eine Strategie entwickeln. Bitte nicht falsch verstehen – der Ansatz ist super. Nur halt nicht die ganze Zeit.
Was weit weg ist, ist manchmal irrelevant
Schauen wir uns an, wann Menschen im Internet nach Zielen suchen: Häufig sind es die Morgenstunden, hinein bis in den Vormittag. Im Sommer suchen die Menschen eher wenig danach, sobald im Herbst die Sonne ausgeht wieder mehr. Nun ist Google als Life-Coach eher ungeeignet. Was sehen wir also wirklich? Menschen, die wissen, dass sie arbeiten sollten, aber erst einmal nach dem großen Ganzen suchen. Das ist reine Prokrastination. Zwei Beispiele:
- Eine Freundin von mir ist gerade in Elternzeit und wird sich Ende des Sommers selbstständig machen. Sie weiß, was sie kann. Sie weiß nicht, was sie will.
- Für einen Bekannten von mir endet bald ein größeres Projekt, in dem er als freiberuflicher Entwickler gearbeitet hat. Danach? Mal sehen.
Beide begleitet derzeit eine unterschwellige Nervosität. Dabei haben sie keinen Grund dazu. Er kann noch gar nicht absehen, welche Wege ihm offenstehen werden – aber sie werden kommen. Sie hat noch ein halbes Jahr Zeit, sich zu entscheiden, wie sie starten will. Und danach kann sie sich immer wieder verändern. Ziele sind gut; sie sind aber nicht so wichtig, wie behauptet wird.
„Wo siehst du dich in fünf Jahren?“
Die Standard-Frage der großen Visionen offenbart auch das große Missverständnis des Lebens: Wir gehen davon aus, dass wir einfach Karriere machen, und wer einen Plan hat, der kann ihn verfolgen. Das ist Unfug. Das galt vielleicht für die Männer der 60er und 70er, die ihre Arbeit vom Leben weitgehend unbehelligt leben konnten. Aber heute?
Menschen gründen eine Familie und Pläne ändern sich. Menschen lernen ihre Führungskräfte näher kennen und entscheiden: Ich geh mal lieber wieder. Pandemie. Gesundheit. Fortschritt. Fünf Jahre sind einfach viel zu weit weg, um eine vernünftige Idee davon zu entwickeln, wo das Leben dann hingegangen sein soll. Es ist nett, eine zu haben. Aber wir sprechen von der Gegenwart als Vuca-Welt: Volatility, Uncertainty, Complexity und Ambiguity, was wir mit „Kein Plan, wie sich das alles entwickelt“ übersetzen können. Ziele reichen nicht. Eine gewisse Selbstsicherheit im Umgang mit dem Ungewissen bringt uns voran.
Und dennoch fühlt es sich schlecht an, die Frage nach dem großen Ziel nicht beantworten zu können. Dabei liegt darin eine große Chance. Ich frage mich ungefähr alle anderthalb bis zwei Jahre, wie ich künftig mein Geld verdienen will. Und in diesem Winter hatte ich darauf schlicht keine Antwort.
Und dann passierte, was immer passiert: Gelegenheiten ergaben sich. Einige Wege schlug ich ein, an anderen ging ich vorbei, einige Tore schlossen sich direkt vor mir und klemmten mir dabei noch die Finger ein. Und während ich laufe, formt sich am Horizont ganz langsam wieder ein Ziel. Das ist in Ordnung so. Wer kein Ziel hat und nicht künstlich eines erzeugt, der wird eines finden. Auch ohne Plan gilt das Prinzip der Serendipität: Das Glück ist mit den Tüchtigen.