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MIT Technology Review Interview

Medizinethikerin: „Wenn man die Gesundheitsdaten nicht nutzt, geht man ebenfalls Risiken ein“

Der Schutz von Gesundheitsdaten ist ein hohes Gut. Aber zu viel Schutz kann auch Schaden anrichten und sogar „statistische Leben“ kosten, bemängelt die Medizinethikerin Alena Buyx.

5 Min.
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(Foto: Metamorworks/Shutterstock)

Alena Buyx ist Direktorin des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin an der TU München (TUM) und ehemalige Vorsitzende des Deutschen Ethikrats. Die strenge Auslegung des Datenschutzes in Deutschland behindere die Forschung und könne sogar „statistische Leben“ kosten, kritisiert sie.

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MIT Technology Review (TR): Die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) der EU räumt der Medizinforschung explizit Freiheiten ein. Ist sie trotzdem noch zu streng?

Alena Buyx: Die DSGVO ist tatsächlich datennutzungsfreundlich. Für die medizinische Forschung erlaubt sie beispielsweise auch die sekundäre Nutzung von Patientendaten ohne Einwilligung. Vorausgesetzt natürlich, die Daten werden sorgfältig gesichert und es findet eine Interessenabwägung statt. Trotz dieser Erlaubnisklausel gibt es bei der Datennutzung in Deutschland noch immer etliche Hemmnisse, die nur sehr langsam abgebaut werden.

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Alena Buyx

Die Ärztin und Medizinethikerin Alena Buyx betreibt nicht nur eigene Forschung. Sie berät auch Politik und internationale Forschungskooperationen. (Foto: TUM / Lara Freiburger)

TR: Welche denn zum Beispiel?

Buyx: Zum Beispiel gab es bis vor Kurzem noch einen Paragrafen im Bayerischen Krankenhausgesetz. Der besagte, dass die klinischen Daten von Patient:innen nicht das Krankenhaus verlassen dürfen. Das kommt noch aus einer Zeit, in der man vermutlich befürchtet hat, dass Ärzt:innen Akten mit nach Hause nehmen, um Arztbriefe zu schreiben oder Ähnliches. Und Hindernisse dieser Art gibt es immer noch. Dazu kommen widersprüchliche Regeln, zum Beispiel wenn es darum geht, welche Daten in einem Register gespeichert werden dürfen und welche nicht.

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Wenn es um die Auslegung der Datenschutzregeln geht

TR: Aber das ließe sich doch sicher vereinheitlichen?

Buyx: Jurist:innen nennen das die Harmonisierung der Normen. Dafür müsste man einmal alle relevanten Vorgaben prüfen und schauen, wie die zueinanderpassen. Aber das ist auch nur das kleinere Problem. Das viel, viel größere Problem ist die Auslegungspraxis der Datenschutzregeln. Sie ist in Deutschland deutlich restriktiver als in anderen europäischen Ländern, zum Beispiel in Dänemark, Finnland, Italien oder Spanien. Das hemmt die medizinische Forschung wirklich sehr, teils auch die Behandlung.

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Mit TUM-Kolleg:innen haben wir zum Beispiel in der Pandemie eine kleine Studie zur datennutzerfreundlichen Erlaubnisklausel der DSGVO gemacht. Wir haben gedacht: Wann, wenn nicht jetzt, sollte man nach sorgfältiger Interessenabwägung und mit hohen Schutzstandards Daten austauschen, zusammenführen und diese Sekundärdaten für rasche Forschung und entsprechende Behandlung nutzen dürfen? Dann könnte man schnell sehen, wie die bisher unbekannte Krankheit unter welchen Bedingungen verläuft. Welche Therapie wirkt bei wem am besten, was schadet womöglich sogar? Das können Erkenntnisse sein, die Leben retten! Wir haben aber festgestellt, dass kaum jemand die Erlaubnisklausel kannte, und genutzt wurde sie nicht.

TR: Welche Hindernisse gibt es noch?

Buyx: Nehmen Sie die sogenannte Datenschutzfolgeabschätzung, etwa für digitale Technologien im Krankenhaus. Darin muss geklärt werden, wer wann und wie Zugriff auf welche Daten hat. Wie fließen die Daten und wo werden sie gespeichert? Das ist natürlich sehr wichtig. Aber in Dänemark sind die 10 Seiten lang, in Deutschland auch mal gern 200. In Deutschland müssen sich Forschende auch viel mehr selbst um Datenschutzdinge kümmern und sich reinarbeiten. In anderen Ländern erhalten sie ganz konkrete datenschutzkonforme Vorschläge, Studiendesigns quasi auf dem Silbertablett, und müssen da nichts gegen Widerstände durchboxen.

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„In Deutschland haben wir bei den Gesundheitsdaten eine Angstkultur“

TR: Wie groß sind denn die Widerstände hierzulande?

Buyx: Der Satz stammt ursprünglich nicht von mir, aber ich finde, er trifft zu: In Deutschland haben wir bei den Gesundheitsdaten eine Angstkultur, eine Risikoaversion, die Verantwortliche in Ethikkommissionen und Unternehmen zu einer sehr vorsichtigen Auslegung der Datenschutzrichtlinien bringt. Oft hört man fünfmal Nein, bevor ein Ja kommt. Dann geht aber viel Zeit ins Land und ein Forscher braucht seine Studie womöglich gar nicht mehr anzugehen, weil jemand in Finnland schon zum Thema publiziert hat. Viele geben auch auf, weil der Prozess so nervenzehrend ist. Das höre ich immer wieder. Um jedes Universitätsklinikum in Deutschland gibt es sozusagen einen Friedhof an Studien, die nicht gemacht wurden. Und an vielen internationalen Studien nehmen deutsche Forschende gar nicht mehr teil. Das können wir uns als Land einfach nicht leisten.

TR: Eine laxere Auslegung der Regeln könnte aber dazu führen, dass das Risiko des Datenmissbrauchs steigt.

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Buyx: Noch mal: Datenschutz ist superwichtig. Die informationelle Selbstbestimmung ist ein Grundrecht. Das ist kein Pipifax. Aber Sie können niemals alle Risiken eliminieren. Es kann nur eine verhältnismäßige Abwägung verschiedener Risiken geben. Und da stimmt die Balance einfach nicht. Denn wenn man die Daten nicht nutzt, geht man ebenfalls Risiken ein.

TR: Welche Risiken sind das?

Buyx: Patientinnen und Patienten können nur verspätet oder gar nicht von neuen Erkenntnissen profitieren. Sie leiden teils länger oder sterben früher, als es nötig wäre. Durch die Auswertung vieler sekundärer Patientendaten mithilfe von KI und maschinellem Lernen können Forschende eine Mustererkennung machen und zum Beispiel neue, frühe Warnzeichen für eine Krebserkrankung entdecken oder Hinweise auf besonders effektive Therapien.

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Über statistische Leben und statistische Todesfälle

TR: Gibt es Studien, die solche potenziellen Schäden im Gesundheitswesen beziffern?

Buyx: Ich würde mich sehr freuen, wenn das mehr erhoben würde. Das müsste man dann über statistische Leben ermitteln. Das wiederum ist komplex, denn wir bewerten statistische Leben anders als echte Leben. Wenn zum Beispiel bei einem Grubenunfall Menschen verschüttet werden, wird natürlich alles auf den Kopf gestellt, um sie zu retten. Gleichzeitig treffen Leute Entscheidungen über ein Tempolimit oder über den Kauf von Rettungshubschraubern – und nehmen dabei eine Zahl statistischer Todesfälle in Kauf, deren Zahl viel höher sein kann.

TR: Also ist auch Psychologie im Spiel?

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Buyx: Na klar, das sieht man auch daran (Alena Buyx hält ihr Smartphone hoch): Alle Daten hier drin sind ebenfalls hochsensibel. Wir geben Apps freien Zugriff auf alle unsere Fotos oder unseren Browserverlauf. Mit einem Klick werden 70 Seiten zur Einwilligung ganz selbstverständlich übersprungen. Wir müssten gesellschaftlich viel strenger dort sein, wo die großen Tech-Konzerne auf unsere intimsten Daten zugreifen und sich oft überhaupt nicht an die Regeln halten – und sind aber super streng in der medizinischen Forschung, die ohnehin eng überwacht wird. Wo es um Dinge geht, die uns allen zugutekommen können, und wo unsere Daten – auch mit weniger restriktiver Auslegung – viel besser geschützt sind.

Offenheit der Patient:innen zur Nutzung von Gesundheitsdaten

TR: Gibt es Erkenntnisse, wie die Deutschen zum Datenschutz in der Medizin stehen?

Buyx: Es gibt dieses Bonmot: Datenschutz ist was für Gesunde. Wir haben vor ein paar Jahren eine repräsentative Befragung in einer Klinikambulanz gemacht. Über 90 Prozent der Patienten waren bereit, ihre Daten für die nicht-kommerzielle Medizinforschung zur Verfügung zu stellen. Für kommerzielle waren es nur 37 Prozent. Also zumindest wer den solidarischen Nutzen vor Augen hat, ist für eine medizinorientierte Datennutzung sehr offen.

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TR: Das Thema scheint Sie auch emotional zu bewegen. Warum?

Buyx: So weit würde ich nicht gehen, aber ich beschäftige mich seit etwa 20 Jahren immer wieder mit dem Thema und da wird man auch mal ungeduldig. Es ist etwas anstrengend, wenn es so langsam vorangeht, auch bei der Digitalisierung. Aber ich will gar nicht zu pessimistisch wirken, vor allem weil es gerade durchaus Fortschritte gibt.

TR: Woran denken Sie dabei?

Die digitale Patientenakte kommt und wir haben in Deutschland endlich eine Handvoll Digitalgesetze mit guten Ansätzen, zum Beispiel das „Gesetz zur verbesserten Nutzung von Gesundheitsdaten“ – und ja schon länger etwa die Medizininformatik-Initiative, die unter anderem Standards für den bundesweiten Zugriff auf Klinikdaten entwickelt. Aber das alles muss jetzt erst mal verantwortlich auf die Straße gebracht werden.

 

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