Nichts altert so schnell wie die Zukunft: Wie gehen Unternehmen mit obsoletem Wissen um?
Innovationsdruck steigt
Der rasante technologische Fortschritt hat Konsequenzen. Ein disruptives Geschäftsmodell kann mein Angebot über Nacht unbrauchbar machen. Der Wettbewerb findet nicht mehr nur zwischen Produkten oder Prozessen statt – sondern über Geschäftsmodelle. Was heute noch zählt, ist morgen vielleicht schon obsolet. Um am Markt mitzuhalten, müssen Unternehmen sich regelmäßig neues Wissen aneignen. Die Empfehlung „never change a running system“ ist nicht mehr zeitgemäß.
In Unternehmen basieren alle Prozesse, Richtlinien und Entscheidungen auf bestimmten mentalen, „historischen“ Modellen, Denk- und Handlungssystemen. Diese Systeme immer wieder mutig und ehrlich zu hinterfragen und mit der Aktualität abzugleichen, ist Aufgabe eines zukunftsbasierten Managements. Es gilt, innovativer zu sein als der Wettbewerb. Dabei kann es auch strategisch sinnvoll sein, das eigene Geschäftsmodell anzugreifen, bevor es andere tun.
Ent-Lernen ist Teil des Transformationsprozesses
Viele Verantwortliche wollen anfangs nicht akzeptieren, dass ein Umdenken in ihrer Organisation notwendig ist. Bis sie die Augen nicht mehr vor der Realität verschließen können. Die Medienbranche hat in den letzten zehn Jahren einen extremen, disruptiven Wandel vollzogen. Aber nicht nur die Musikindustrie, Verlagshäuser und die TV-Branche haben Content-Angebot und-Aufbereitung an das neue Nutzerverhalten angepasst. Viele Unternehmen müssen altbewährtes Wissen über Bord werfen, um Platz zu machen für neue Herangehensweisen bei Content-Fragen.
Heute, wo Umweltpolitik als Teil der Nachhaltigkeitsdebatte den öffentlichen Diskurs dominiert, muss sich die Automobilindustrie mit Ent-Lernen auseinandersetzen. Der Schritt vom Verbrennungsmotor zum Elektroantrieb wird zigtausende von Anforderungsprofilen „in die Mottenkiste“ befördern. In einer Zeit, in der konstante Veränderung zum Normalzustand geworden ist, müssen Unternehmen eine Strategie zum Umgang mit altem Wissen parat haben. Dabei sollten Verantwortliche Ent-Lernen als Teil des Transformationsprozesses sehen, mit all seinen Facetten.
4 Ansätze des Ent-Lernens
Es gibt explizites Wissen, etwa Konzepte oder Patente. Und es gibt implizites Wissen wie Werte, Gewohnheiten oder Haltung. Das „Ausmisten“ inadäquaten Wissens stößt in der Belegschaft nicht immer auf Begeisterung: Experten zu obsolet gewordenen Themen fürchten Macht- und Kontrollverlust – oder gar ihren Arbeitsplatz. Hier sind Fingerspitzengefühl und transparente Kommunikation gefragt, um Leistungsträger zu halten und das Gros der Mitarbeiter für die Sache zu begeistern. Hier sind Ansätze des klassischen Change-Managements sinnvoll, um Betroffene letztlich zu Beteiligten zu machen.
Wenn Verantwortliche das Konzept des Ent-lernens aktiv in die Unternehmenskultur integrieren, kann die Organisation flexibler auf Veränderungen reagieren und sich regelmäßig neu erfinden. Dabei gibt es vier Ansätze, wie Unternehmen sich von altem Wissen lösen können. All diese Ansätze setzen voraus, dass es ein Bewusstsein zum angewandten Wissensportfolio gibt: Was ist Kernwissen? Was ist Industriestandard? Welches Wissen ist obsolet? Wissen ist dabei einerseits in humaner Form vorhanden: Der Mensch als Wissensspeicher und -vermittler. Andererseits ist Wissen auch in analoger und digitaler Form vorhanden: Papierdokumente und Datenbanken beispielsweise.
1. Der Advocatus Diaboli im Haus
Ein Schritt ist, sich und allen Beteiligten im Unternehmen bewusst zu machen, welches Wissen veraltet oder schädlich ist. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, diesen Ansatz umzusetzen. So heben einige Wissenschaftler eine gesunde und respektvolle Skepsis und anhaltende Zweifel an gegenwärtigen Überzeugungen, Methoden und Denkweisen hervor. Denn: Wer Bedenkenträger im Haus hat, zwingt sich regelmäßig aus der Komfortzone heraus und hinterfragt immer wieder das eigene Tun und Handeln. Auch das Einbeziehen von Kunden in den Entwicklungsprozess gibt wichtige Rückschlüsse darüber, ob das angewandte Wissen noch relevant ist oder nicht.
2. Den Notschalter drücken:
Aufhören, altes Wissen anzuwenden, ist ein weiterer Schritt beim Ent-Lernen. Wer eine neue ERP-Software oder ein neues Betriebssystem einführt, stoppt beispielsweise die Nutzung des Vorgängers. Auch die Einstellung der Produktion aufgrund einer neuen Technologie ist ein Beispiel für diesen Ansatz. Das Thema Elektromobilität lässt grüßen.
3. Stopp der alten Wissensentwicklung:
Dieser Ansatz beinhaltet nicht nur, die Verwendung von obsoletem Wissen einzustellen, sondern auch den Prozess der Wissensgenerierung und -aufnahme zu verändern. Dazu gehört, Forschungs- und Entwicklungsprojekte zu veralteten Technologien einzustellen und den Wissenstransfer gezielt zu unterbinden. Aber auch Blackberry, das einstige Statussymbol für Manager, verpasste 2008 die Technologieentwicklung des Touchscreens. Als Konsequenz stellte das Unternehmen die Weiterentwicklung der obsoleten Tastaturen-Technologie ein und fokussierte sich nur noch auf IT und Dienstleistungen. Letztes Jahr gelang der endgültige Turnaround.
4. Der chirurgische Eingriff:
Der aggressivste Angang ist, alle veralteten Teile des organisatorischen Gedächtnisses zu entfernen. Dazu gehört, alte Hard- und Software wegzuschmeißen, alte Dokumente zu archivieren und sich von Experten des obsoleten Wissens zu trennen. Hier ist die Automobilindustrie wieder ein aktuelles Beispiel: Wie viele Stellenprofile des Verbrennungsmotors werden nicht mehr gebraucht, wenn sich der Elektroantrieb durchgesetzt hat? Und was geschieht mit diesen Menschen? Hier sind die Wirtschaft und die Politik gefragt, Antworten zu finden.
Fazit
Das Ent-Lernen veralteter Praktiken und das Verwerfen obsoleten Wissens ist für Unternehmen notwendig, um neues Wissen aufnehmen und nutzen zu können. Verantwortliche sollten Ent-Lernen als einen bewussten, systematischen Prozess verstehen, der inhärenter Bestandteil einer Transformation ist. Wer die Ansätze des Ent-Lernens in der Organisation aktiviert, meistert organisatorische und kulturelle Veränderungen, Kompetenzaufbau und Etablierung neuer Prozesse leichter. Oder wie es Peter Drucker auf den Punkt brachte: “The greatest danger in times of turbulence is not the turbulence – it is to act with yesterday’s logic”.