Selbstmitgefühl – was es ist, was es dir nützt und wie du es ausbaust
Etwas ist dir nicht gut gelungen, jemand hat dich kritisiert, du bist gerade mit dir selbst überfordert: Wer kennt das nicht? Aber mit sich selbst ins Gericht gehen, noch mehr Höher-Schneller-Weiter von sich fordern, das funktioniert nicht wirklich, oder? Hast du bestimmt auch schon festgestellt. Wie wäre es mit einem wohlwollenderen, konstruktiveren Umgang mit dir selbst? Selbstmitgefühl, das belegen inzwischen zahlreiche Studien, kann da hilfreich sein.
Was Selbstmitgefühl ist
Selbstverurteilung, Unzufriedenheit mit sich selbst, Ärger über eigene Fehler und Unzulänglichkeiten: Das sind Strategien, die uns zwar leicht zur Hand sind, aber in der Regel nicht gut tun – weder für unser Denken noch unser Handeln noch unser Fühlen. Erst recht nicht in Zeiten, wo wir durch Corona, Krieg und Krise vielleicht eh dünnhäutiger und weniger robust sind als sonst.
Wie wäre es da mal mit etwas anderem, mit einer Alternative? Mit Selbstmitgefühl? Kristin Neff, Psychologin an der University of Texas at Austin, gilt als die Erfinderin von Selbstmitgefühl (oder „self-compassion“ im Englischen). Sie definiert Selbstmitgefühl als „die Fähigkeit, sich selbst vollständig anzunehmen und sich der eigenen Person liebevoll zuzuwenden. Selbstmitgefühl beinhaltet, sich offen und wertungsfrei dem eigenen Schmerz, Fehlern und Unzulänglichkeiten zuzuwenden, sodass die eigene Erfahrung als Teil des menschlichen Lebens verstanden werden kann“.
Also kurz gesagt: Selbstmitgefühl mit uns üben wir, wenn wir in einer ähnlich verständnisvollen und unterstützenden Weise mit uns selbst umgehen, wie wir das mit einer guten Freundin oder einem guten Freund in schwierigen Momenten tun würden.
Was Selbstmitgefühl nicht ist
Selbstmitgefühl ist etwas anderes als Selbstwert. Denn der hat in der Regel mit irgendeiner Art von Vergleich zu tun, mit einer Orientierung am Außen. Aber es geht beim Selbstmitgefühl gerade nicht darum, mehr Likes auf Linkedin, ein dickeres Auto oder sonstige Statussymbole zu erhalten. Denn Selbstwert kann leicht, das hat die Forschung herausgefunden, zu Abwertung von anderen, zu Narzissmus oder zu neurotischem Perfektionismus führen. Selbstmitgefühl ist da die gesündere, auch sozial gesündere Grundhaltung gegenüber mir selbst.
Aber Selbstmitgefühl ist auch kein weinerliches, selbstmitleidiges Jammerlappentum – ganz im Gegenteil! Selbstmitgefühl kann auch viel mit Klarheit, Standhaftigkeit und notfalls auch Wehrhaftigkeit gegenüber Übergriffigkeit in Verbindung stehen.
Was Selbstmitgefühl bringt
Kurz gesagt bringt Selbstmitgefühl die Vorteile des Selbstwerts mit sich – ohne die damit verbundenen Nachteile. In unterschiedlichen Studien ist nachgewiesen worden, dass Selbstmitgefühl korreliert mit weniger
- ungünstigem Essverhalten,
- Gedankenkreiseln,
- Stresserleben,
- Depressivität,
- Angstzuständen,
- Selbstkritik,
- negativem Körperbild,
und mehr
- geistigem Wohlbefinden,
- Lebenszufriedenheit,
- Selbstsicherheit,
- körperlicher Gesundheit.
Ganz aktuell veröffentlichte Untersuchungen haben ergeben, dass sogar ein kurzes Online-Training zu Selbstmitgefühl selbstkritisches Denken und Handeln vermindern kann, und dass Eltern durch Selbstmitgefühl ihre Emotionsregulation in schwierigen Situationen verbessern können. Die Sonnenseiten des Lebens mehr auskosten können und die Schattenseiten besser aushalten – es scheint, als ob Selbstmitgefühl für beides gut ist.
Wie Selbstmitgefühl konkret geht
Wie aber Selbstmitgefühl konkret umsetzen? Michael Merks aus Hamburg ist einer der führenden Selbstmitgefühls-Experten in Deutschland. Auch weil er eine von zwei Personen in Deutschland ist, die ihre Zertifizierung am Ausbildungszentrum von Kristin Neff und Chris Germer erhalten haben. Für Merks ist Selbstmitgefühl letztlich ein Dreischritt aus Fühlen, Denken und Handeln.
Die drei Säulen oder Strategien sind:
- Achtsamkeit statt Über-Identifikation
- Geteilte Menschlichkeit statt Isolation
- Selbstfreundlichkeit statt Verurteilung
Mit Achtsamkeit ist gemeint: Die Gefühle, die dich gerade stressen, bewertungsfrei wahrzunehmen und zu benennen. Du bist nicht deine Angst, dein Ärger, dein Frust – aber du darfst diese Emotionen erst mal ohne Selbstabwertung registrieren. Mitmenschlichkeit bedeutet, dass du dir klarmachst: „Nobody’s perfect“, auch andere werden schon in ganz ähnlichen Situationen ganz ähnliche Nöte, Sorgen, Unzulänglichkeitsgefühle gehabt haben. Schritt 3, die Selbstfreundlichkeit: Ich stehe mir solidarisch und mitfühlend gegenüber und tue das, was mir in dem Moment guttut.
Wie du Selbstmitgefühl im Alltag verankern kannst
Du willst Selbstmitgefühl nicht nur verstehen, sondern auch anwenden? Du findest inzwischen viele Meditationsanleitungen, Online-Kurse oder Bücher zu dem Thema. Aber hier nochmal zwei ganz konkrete Tipps: Vielleicht gibt es ja eine Geste, eine Haltung, eine Bewegung, die für dich Selbstmitgefühl buchstäblich verkörpert? Ob du deinen Ehering dreimal linksrum drehst, ob du beide Hände aufs Herz oder an die Wangen legst oder was auch immer es sein mag: Probiere doch Gesten aus, die die Mischung aus Achtsamkeit, Mitmenschlichkeit und Selbstfreundlichkeit für dich zum Ausdruck bringen könnten!
Vielleicht findest du aber auch ein Mantra, einen Spruch, einen Ausdruck, der für dich in schwierigen Momenten Selbstmitgefühl auf den Punkt bringt. Zum Beispiel etwas wie: „Das ist jetzt gerade schwierig für mich. Und anderen geht das auch so. Deshalb gönne ich mir jetzt …“
Ein konstruktiverer Umgang mit den eigenen Gefühlen, Gedanken, die dich aus der Isolation ziehen, und schließlich ein selbstsolidarischeres Handeln: Das sind die drei Schritte von Selbstmitgefühl. In Zeiten von Unmut, Umbruch, Ungewissheit können sie dir dabei helfen, etwas klarer und gutmütiger mit dir selbst umzugehen.