Wie Siemens die Bahn pünktlich machen will
Dass es tatsächlich funktionieren kann, auch stark beanspruchte Hochgeschwindigkeitszüge nahezu ausfallsicher zu machen, zeigt das Beispiel Velaro RUS. Wenn man Kreß glaubt, erreicht das russische Pendant des deutschen ICE 3 auf der Strecke zwischen St. Petersburg und Moskau schon jetzt eine Verfügbarkeit von 99,98 Prozent. Er fällt also technisch bedingt nahezu nie aus.
Und das, obwohl der Zug während der Fahrt wegen der Temperaturunterschiede zwischen den beiden Metropolen an vielen Stellen vereist. Kunden würden diese neue Pünktlichkeit lieben, schwärmt IT-Mann Kreß, Tickets für den Sprinter seien mittlerweile rar.
Deutsche Bahn will digitaler werden
Für solche beachtlichen Zahlen interessiert sich wenig überraschend auch die Deutsche Bahn, ebenfalls Großkunde von Siemens Mobility und bei der Transformation des eigenen Unternehmens nicht weniger als die russischen Kollegen auf die Vorzüge von Big Data fokussiert. Erst kürzlich gab die DB Cargo, Gütersparte des Konzerns, bekannt, die eigene Fahrzeugflotte weiter digitalisieren zu wollen. Mit Siemens, hieß es, habe man die technische Aufrüstung von elektrischen Lokomotiven zu sogenannten „TechLOKs” vereinbart. Immerhin, bis 2020 sollen alle 2000 Fahrzeuge mit Diagnosetechnik ausgestattet sein.
Die aus den modernen neuen Loks gewonnenen Informationen sinnvoll zu verarbeiten, ist die Aufgabe von Gerhard Kreß’ Team im Mobility Data Services Center (MDS) von Siemens in München-Allach: „Hier kombinieren wir das High-End der Datenanalytik mit dem gesamten Domänenwissen des Eisenbahnbetriebs“, sagt er im Gespräch mit t3n.
Die meisten der „Scientists” in seinem Team hätten eine Promotion im maschinellen Lernen, sie seien also keine klassischen Eisenbahner und hätten dieses Feld demnach zunächst kennenlernen müssen. Schon aus diesem Grund sei das Depot, das sogenannte Rail-Service-Center von Siemens, in dem Loks instandgehalten werden, direkt an das Mobility Data Services Center angedockt: „Alles, was hier bei uns mit Loks zutun hat, geben wir zu den Kollegen rüber und probieren es dort auch gleich aus. Haben diese Fragen, können sie sich umgekehrt auch direkt an uns wenden“, sagt Gerhard Kreß.
Vorausschauende Wartung als Grundkonzept
Eines seiner großen Themen auf dem Weg zu den angepeilten 100 Prozent Verfügbarkeit von Schienenfahrzeugen und Infrastruktur ist Predictive Maintenance, also vorausschauende Wartung. „Wir versuchen dafür zu sorgen, dass eine Tür im Zug nicht mehr ausfällt, wollen also einen bevorstehenden Defekt vorhersagen können“, sagt Kreß. Ganz gut klappe das schon jetzt mit Problemen, die mit sogenannten verschleißbasierten Veränderungsprozessen zusammenhängen. In Hochgeschwindigkeitszügen wie dem ICE sind etwa stark strapazierte Lager und Getriebe besonders anfällig für Ausfälle, in Regionalzügen eher die Türen.
„Wir können zum Beispiel feststellen, ob eine Türbewegung anomal war, weil sich jemand dagegengelehnt hat, oder weil es wirklich ein Problem mit einer der Komponenten der Tür gibt“, sagt Kreß. In solch einem Fall spricht er von einer „Vorwarnzeit“ von knapp unter zwei Wochen. Das heißt auch, dass ein vom System als fehlerbehaftet gemeldetes Fahrzeug zur Reinigung noch zweimal regulär ins Depot fährt, bevor die beanstandete Tür tatsächlich ausfällt. Es bleibt also genug Zeit für die Reparatur. „Das Besondere bei Predictive Maintenance ist, dass der Ausfall einer Komponente zwar trotzdem passiert, aber wir uns aussuchen können, wann die Ausfallzeit ist“, sagt Kreß. Solche Planungssicherheit ist in der sehr zeitgetriebenen Bahn-Branche natürlich von Vorteil.
Überwachung englischer Züge von München aus
In München-Allach laufen auch die Informationen über den Tür-Zustand von 105 englischen Thameslink-Zügen ein, mit insgesamt immerhin 1,5 Millionen Türbewegungen im Monat. Hier werden die Daten der rund um London verkehrenden Fahrzeuge in einem zentralen Diagnosesystem analysiert, um daraus Fehlerprognosen zu errechnen. „Wir erkennen, wenn eine Tür anfängt, Probleme zu machen. Es kann sein, dass sich in einer Laufleiste irgendetwas verfangen hat, dass eine Fettung nicht mehr passt, das Schneckengetriebe anfängt zu vereisen, oder dass etwas mechanisch verbogen ist“, sagt Kreß.
Im Datenzentrum erkennt man also die Veränderung des Bewegungsmusters. Grundsätzlich geht es anschließend darum, dass Spezialisten vom System gemeldete Fehlerprognosen in sogenannte validierte Handlungsempfehlungen umsetzen. Diese wiederum übermittelt man direkt an die Techniker in den Werkstätten der Zugdepots – für akute oder terminierte Instandhaltungsaktivitäten. „Schaut euch die Tür mal genauer an!“, lautet dann der Appell. Grundsätzlich stehen die Diagnosedaten dem Betreiber und Instandhalter im laufenden Betrieb zur Verfügung und werden in einer übersichtlichen Darstellung visualisiert. Dadurch lasse sich der aktuelle Zustand eines Fahrzeugs kurzfristig erfassen, heißt es.
Deutsche ICE-Flotte wird überwacht
Neben England und anderen Ländern funktioniere das Wartungsgeschäftsmodell von Siemens auch in Deutschland, sagt Gerhard Kreß. Ende vergangenen Jahres hatten sein Unternehmen und die Deutsche Bahn bekanntgegeben, „eine Pilotanwendung für die vorausschauende Wartung und Instandhaltung” zu starten, und zwar beim Velaro D, also modernen ICE-Zügen. Erklärtes Ziel: Per datensammelnder Remote-Data-Access-(RDA)-Box von Siemens die Verfügbarkeit der Zugflotte erhöhen. Kreß spricht von einem Erfolg: Seit Siemens von der DB Fernverkehr den Auftrag erhalten habe, zum Beispiel Lager und Getriebe aus der Ferne zu überwachen, sei aufgrund dieser Teile kein Zug mehr ausgefallen, behauptet er.
Seit einigen Monaten also werten er und sein Team die Fahrzeugdaten der Velaro-D-Flotte nun aus, und zwar noch während die Fahrzeuge auf der Strecke unterwegs sind. All dies erfolge, sagt er, aufbauend und ergänzend zu der im ICE ohnehin verbauten On-Board-Diagnose. Und eben die ist beim neuen Modell der Baureihe 407 offensichtlich schon ziemlich gut. Zumindest sagt das Anja Ehret, bei der Deutschen Bahn Leiterin Fahrzeugmanagement ICE 3, im Gespräch mit t3n: „Der Prozess, den wir mit Siemens durchlaufen haben, hat gezeigt: Viele Daten, die wir aus der RDA-Box gewonnen haben, hatten wir schon über den regulär im Zug verbauten Datenkanal erhalten.“
Und: „Einen unmittelbaren zusätzlichen Nutzen für die Instandhaltung dieser Baureihe haben wir nicht erkannt.“ Immerhin dürfte die Siemens-Technologie für betagtere Fahrzeuge nützlich sein: „Wir fragen uns nun, ob die RDA-Box zur Aufrüstung älterer Baureihen sinnvoll sein könnte – bei Zügen, die ‚nicht so viel über sich erzählen‘ wie der neueste ICE 3“, sagt Ehret. Neue Loks hingegen, die das Siemens-Werk verlassen, hätten heute grundsätzlich alle eine moderne Telematik-Lösung an Bord, sagt Kreß. Vor drei Jahren sei das noch anders gewesen.
Plattform Railigent
Neben der vorausschauenden Wartung geht es dem Datenanalysezentrum von Siemens prinzipiell auch darum, beim Betrieb von Schienenfahrzeugen ohnehin anfallende Daten sinnvoll zu nutzen. Viele Applikationen, die Daten strukturieren, hat der Konzern deshalb in der Plattform Railigent gebündelt. Ein Programm etwa zeigt, wo sich ein Fahrzeug befindet, ein anderes, welchen Zustand es hat, daneben gehe es auch um Informationen aus der Signaltechnik und aus Stellwerken, sagt Kreß.
In diese Messinstrumente hätten viele der Siemens-Kunden aus der Bahnbranche sehr viel Geld investiert. Vom seinem Mobility Data Services Center werde nun erwartet, mit Hilfe intelligenter Analysemethoden Mehrwert aus „diesen Assets” zu schöpfen. Und weil der Einbau neuer Sensoren etwa in Weichen noch immer eine kostspielige Sache ist, arbeiten Kreß und sein Team nach eigener Aussage auch daran, bestehende Strukturen zu optimieren. Im konkreten Fall heißt das, dass man im Datenzentrum in München-Allach einen bevorstehenden Weichenausfall vorhersagen kann, ohne zuvor einen Sensor verbaut zu haben.
„Das Stellwerk weiß auch ohne Sensor, in welchem Zustand die Weiche ist, wann sie umläuft, und wann sie wieder in einem sicheren Zustand ist. Aus diesen Informationen und ein paar weiteren aus der Umgebung erhalten wir eine verlässliche Vorhersage über einen Weichenausfall, der ungefähr zwölf Stunden im Voraus sehr gut funktioniert“, sagt Kreß. Das, was man sich hier zunutze mache, seien keine Primärdaten, sondern abgeleitete Informationen. Mit genügend Analytik und maschinellem Lernen könne man diese kleinen Signale aus einem großen Datenrauschen herausrechnen – und damit dann „eine vernünftige Vorhersage” machen.
Schienenfahrzeuge als Sensor für Schienen-Zustand
Mittlerweile sei es möglich, sowohl Infrastruktur auf Fahrzeuge schauen lassen als auch umgekehrt. „Bei einigen Bahnen der Welt nutzen wir schon Schienenfahrzeuge als Sensor für den Zustand der Schiene, der Oberleitung oder der Signaltechnik“, sagt Kreß: „Der Zug an sich sei ein schlechter Sensor, wenn er aber oft genug fährt und es darüber hinaus viele verschiedene Züge sind, kriegen wir ein gutes Bild und können in naher Zukunft entstehende Probleme gut vorhersagen.”
Informationen aus dem Schienenverkehr sammeln, bündeln und intelligent verwerten soll die Plattform Railigent also, und so den Siemens-Kunden aus der Bahnbranche helfen, ihre Verfügbarkeit zu erhöhen, aber auch ihre Energieeffizienz zu verbessern sowie die Auslastung ihrer Züge zu erhöhen.
Dass in Zukunft dank intelligenter Loks und intelligenter Infrastruktur immer mehr Daten anfallen werden, nützt Kreß und seinem Team natürlich. „Ich glaube, wir haben auf unserer Liste momentan maximal zehn Prozent der möglichen Usecases”, sagt er. Heute schaue man noch verstärkt auf die klassischen Probleme mit Tür, Lagern, und eben solche Parameter, die das Fahrverhalten von Zügen direkt betreffen.
Da die Bahnen weltweit allerdings zunehmend hart miteinander konkurrieren, würden sie auch unter großem Druck stehen, stetig mehr Verkehr auf die Schiene zu bringen. Das, sagt Kreß, führe jetzt schon zu neuen Geschäftsmodellen. In Spanien etwa bietet die Staatsbahn Renfe eine Pünktlichkeitsgarantie. Ist der Zug verspätet, bekommt man als Reisender den gezahlten Ticketpreis komplett rückerstattet.
Deutsche Bahn will Klimaanlagen checken
Konkrete Zahlen zum Thema Verfügbarkeit der ICE-Flotte sind bei der Deutschen Bahn nicht zu bekommen. Das liege auch daran, dass man die RDA-Box von Siemens „bislang nur an der neuesten ICE-Baureihe getestet” habe, die als solche „sehr stabil” sei, wie Anja Ehret sagt: „Ein großer Hub der Verfügbarkeit ist damit per se gar nicht möglich. Eine endgültige Bewertung nehmen wir vor, wenn unsere Analysen abgeschlossen sind.“
Immerhin: Ihre berüchtigten Klimaanlagen will sich die Bahn jetzt „genauer ansehen“, wie Anja Ehret sagt. Im Fokus seien hier die sogenannten schnelldrehenden Komponenten bei den älteren ICE-Baureihen 403 und 406: Bei diesen Zügen möchte man nun die Instandhaltung der Klimaanlagen „optimieren”. Und: „An dieser Klimaanlage haben wir schon relativ viel gearbeitet. Derzeit sind wir dabei, einen zusätzlichen Sensor zu verbauen. Wir brauchen einen, der vor einer anstehenden Überhitzung die Anlage vorsorglich abschaltet und dann wieder zuschaltet“, sagt sie.
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