In vielen Jobs brauchen Arbeitnehmer ein dickes Fell. Das Leistungsniveau ist hoch, der Stresspegel ständig am Anschlag. Nicht selten setzen Recruiter die Bewerber und Bewerberinnen deshalb schon im Vorstellungsgespräch heftig unter Druck. Sie wollen die Durchsetzungskraft, das Selbstvertrauen und die Professionalität der Person überprüfen. Das sogenannte Stressinterview kann Teil des Vorstellungsgesprächs sein und wird in der Regel nicht angekündigt: Das Treffen startet freundlich, doch die Stimmung kippt schnell. Der Gesprächsführer spielt das „Good Cop, Bad Cop“-Spiel – nimmt jedoch häufig beide Rollen selbst ein.
Stresstests im Vorstellungsgespräch sind keine Seltenheit
In so einer Situation hat sich vor einigen Tagen auch die aus Manchester stammende Olivia Bland wiedergefunden. Die 22-Jährige hat sich bei einem Software-Unternehmen als Marketing-Autorin beworben. Das Vorstellungsgespräch beschreibt sie selbst als „brutal“. Nicht nur, dass es zwei Stunden gedauert habe, auch der Umgang mit ihr sei mehr als unfreundlich gewesen. Der CEO habe sie und ihre Schreibfähigkeiten regelrecht „zerfetzt“ und die junge Frau als „Underarchiever“ (zu Deutsch: Mindestleisterin) beschimpft. Nach dem Vorstellungsgespräch habe sie im Bus gesessen und geweint, wie sie anschließend auf Twitter erklärte.
Katrin Luzar von der Jobplattform Monster.de sind solche Stresstests nicht fremd. „Durchaus greifen Unternehmen hin und wieder auf Stressinterviews zurück, um die Belastbarkeit von Kandidaten unter Druck zu testen“, erklärt sie im Gespräch. Sie hält dieses Vorgehen jedoch für äußerst fragwürdig und zweifelt daran, ob solche Stressinterviews überhaupt sinnvoll sind. „Bewerbungsgespräche sind per se schon eine Ausnahmesituationen, in denen es für Arbeitgeber aufgrund der Nervosität der Bewerber oft schwer ist, das wahre Wesen der Kandidaten und Kandidatinnen zu erfassen und zu bewerten“, fügt sie hinzu.
„Nicht nur der Arbeitnehmer bewirbt sich um einen Job – auch das Unternehmen bewirbt sich als Arbeitgeber.“
Jobsuchende unter unverhältnismäßig hohem Druck zu setzen, fördere nicht gerade eine Atmosphäre, in der sich der Gegenüber öffnet und dem Recruiter einen möglichst authentischen Einblick in sein Wesen und seine Qualitäten gewährt. „Aber genau dafür sollte sich ein Arbeitgeber interessieren, um motivierte Talente zu identifizieren“, erklärt Katrin Luzar. Zudem macht sie darauf aufmerksam, dass qualifizierte Arbeitnehmer inzwischen bewusster nach Arbeitgebern suchen, die sich attraktiv präsentieren. „Letztendlich bewirbt sich nicht nur der Arbeitnehmer um einen Job – auch das Unternehmen bewirbt sich als Arbeitgeber.“
So hart wie der Fall in Großbritannien muss ein Stressinterview nicht per se sein. Weitaus sanftere Methoden sind ebenfalls nicht unüblich. Eine populäre Technik ist Desinteresse. So kann es vorkommen, dass der Interviewer zur Begrüßung weder aufsteht noch die Hand gibt, sondern sitzen bleibt und, ohne den Blickkontakt zu suchen, den Lebenslauf überfliegt. Auch mit Stille wird gearbeitet. Jobsuchende, die glauben, souverän auf eine Frage geantwortet zu haben, werden mit anschließendem Schweigen verunsichert. Eine Technik, die dazu provoziert, dass der Bewerber weiterspricht und sich im schlimmsten Fall um Kopf und Kragen redet.
Wer in einem Stressinterview landet, sollte sich insofern ein paar Dinge bewusst machen. Die goldene Regel lautet, nicht die Fassung zu verlieren. Desinteresse könnten Bewerber zunächst ignorieren. Auf Schweigen hin können sie sich erkundigen: „Habe ich Ihre Frage beantwortet oder möchten Sie noch etwas dazu wissen?“. Auch auf verbale Attacken sollten Jobsuchende sachlich antworten. Kritisiert ein Interviewer beispielsweise angeblich mangelnde Erfahrung und spricht von einer reinen Zeitverschwendung, können Bewerber beispielsweise antworten: „Sie haben mich eingeladen. Ich gehe davon aus, dass meine Fähigkeiten von Interesse sind.“
„Niemand sollte so behandelt werden!“
Dass Stressinterviews eine Grenze jedoch nicht überschreiten dürfen, zeigt das Beispiel Olivia Bland deutlich. Sie habe sich an ihren Exfreund erinnert gefühlt, der sie regelmäßig psychisch unter Druck gesetzt habe. „Zwei Stunden erzählte man mir, ich sei nicht gut genug. Ich habe das alles schon einmal erlebt. Und ich werde es nicht ein zweites Mal über mich ergehen lassen“, erklärt sie. Umso beachtlicher, dass sie im Gespräch scheinbar ruhig blieb und anschließend sogar eine Zusage bekam. Einzig und allein: Sie hat abgelehnt. „Niemand sollte so behandelt werden!“, schrieb sie in ihrem Tweet, der Hunderttausende erreichte.
Für das Software-Unternehmen ging das Stressinterview somit gehörig nach hinten los. Vor allem auch die Frage, warum eine angehende Marketing-Autorin derartigen Druck aushalten müsse, wird in Dutzenden Medienberichten unter anderem von der BBC laut gestellt. Um eine Antwort auf den Vorfall kam die Firma aufgrund des großen öffentlichen Interesses nicht herum. Sie dementiert die Vorfälle. Man habe bei einer internen Untersuchung keine Anzeichen von Einschüchterung gefunden, werde jedoch sorgfältig über den Rekrutierungsprozess und die Personalpolitik reflektieren. Eine Entschuldigung blieb bis heute aus.
Übrigens, auch dieser Beitrag könnte dich interessieren: Wie tickt das Unternehmen? Welche Kultur wird gelebt? Wie steht es um Aufstiegschancen? Bewerber sollten im Vorstellungsgespräch genau nachfragen, meint Karriere-Coach Karin Zintz-Volbracht. Lies auch: Rückfragen im Vorstellungsgespräch – So fühlt ihr dem Arbeitgeber auf den Zahn
Ich bin immer noch der Meinung, dass ein Vorstellungsgespräch – wie der Name schon sagt – ein Gespräch ist, in dem man sich gegenseitig vorstellt. Die Reaktion von Olivia finde ich super, denn so ein Verhalten im Vorstellungsgespräch lässt auch darauf blicken, wie das Unternehmen mit seinen Leuten im Alltag umgehen würde. Ich selbst hätte das Interview wahrscheinlich schon früher verlassen und die Tür mit vollem Karacho zugeknallt ;)
Die Reaktion des Unternehmens finde ich hingegen etwas seltsam. Haben wohl noch nicht erfahren, wie schnell sich so etwas im Internet wie ein Lauffeuer verbreitet.
„Welcome to the internet, Motherf*****!“