Telekom-Vorständin Claudia Nemat: „Vergessen Sie Technik“
Wer mit Claudia Nemat, Vorständin Technologie und Innovation der Telekom, am Rande einer Konferenz sprechen will, muss sich auf einen eng getakteten Slot einstellen. Nemat ist dafür bekannt, dass sie in gehörigem Tempo unterwegs ist und arbeitet. Nicht unwahrscheinlich, dass sie sich das in 17 Jahren bei McKinsey angewöhnt hat.
Kurz vor dem Interview saß Nemat noch auf der Bühne, in einer Diskussion zu ihrer These, dem Techxit. Mit dabei: ihre ehemalige McKinsey-Kollegin und jetzige Bundestagsabgeordnete Anke Domscheit-Berg. Die Macherinnen-Attitüde haben beide, nur dass Domscheit-Berg jetzt deutlich weiter links steht, während Nemat als Rezepte gegen den Techxit vor allem Deregulierung und die Kräfte des Marktes preist.
t3n: Frau Nemat, Sie warnen vor dem Techxit, dem technischen Ausstieg Deutschlands. Steht der Techxit kurz bevor oder war das eher rhetorisch?
Claudia Nemat: Ich habe das als Weckruf gemeint, nicht nur für Deutschland, sondern für Europa. Unter Techxit verstehe ich die Verabschiedung der Europäer von dem Anspruch, Technologieführerschaft zu haben in der Welt, im Vergleich zu China und Amerika. Die großen Digital-Giganten kommen heute entweder aus den Vereinigten Staaten oder als staatskapitalistisches Modell aus China. Und da besteht Anlass zum Handeln.
t3n: Und was genau muss also aus Ihrer Sicht passieren, damit wir diesen Techxit abwenden können?
Es lohnt sich, dafür zu kämpfen, dass unser Wertesystem in Europa im Wettkampf der Systeme nicht verliert. Wir müssen die Innovationsstärke voranbringen und als politische Entscheider darauf achten, dass Rahmenbedingungen so sind, dass sich Investitionen lohnen und bürokratische Hürden abgebaut werden. Nur ein kleines Beispiel: Durchschnittlich braucht es ein bis zwei Jahre Genehmigungsdauer für einen Antennenstandort.
t3n: Das heißt, mit weniger Bürokratie wäre Deutschland konkurrenzfähiger?
Ja, denn bürokratische Hürden gibt es nicht nur für Antennen. Das gilt auch für Strommasten und Windräder. Sämtliche Genehmigungsverfahren müssten verkürzt werden.
t3n: „Wettkampf der Systeme“ klingt, als ob sich mit der Technik aus einem Land auch dessen politisches System verbreitet. Wäre es da nicht naheliegend, als Telekom mehr bei Ericsson oder Nokia einzukaufen?
Aus Sicherheitsgründen arbeitet die Deutsche Telekom wie alle großen Telekommunikationsunternehmen mit Lieferanten aus verschiedenen Teilen der Welt zusammen. Insbesondere auch Ericsson und Nokia aus Europa oder Cisco aus den Vereinigten Staaten.
„Sie wollen nicht eine einseitige Abhängigkeit von den Chinesen. Sie wollen aber auch keine einseitige Abhängigkeit von den Amerikanern.“
— Claudia Nemat
t3n: Warum nicht nur europäische Hersteller?
Die Lieferketten sind heute komplett global. Beispielsweise werden mehr als 80 Prozent der weltweit produzierten IT- und Netzwerkgeräte in Fabrikationsstätten in China hergestellt. Und 90 Prozent der für die Chipproduktion notwendigen seltenen Erden kommen aus China. Bei Apple sind die Lieferketten in der Öffentlichkeit bekannt, aber auch Nokia und Ericsson haben im Grunde komplett vernetzte Lieferketten. Deshalb befürworten wir den Vorschlag, zu sagen: Egal, von welchem Hersteller und aus welchem Land die Ausrüstung kommt, kritische Elemente gehören zertifiziert und im Detail geprüft. Das ist eine Sicherheitsmaßnahme, und die gilt dann für jeden.
t3n: Gegen einen Techxit würde es auch helfen, beim 5G-Ausbau mehr auf europäische Anbieter zu setzen – um deren Geschäfte zu stärken.
Ja, daher arbeiten wir mit europäischen Unternehmen stärker zusammen. Aber wie gesagt, auch europäische Hersteller fertigen außereuropäisch. Bei dem Thema Techxit geht es natürlich auch um die Frage: Was sind die Zukunftstechnologien, die wir nicht verpassen dürfen? Da ist zum einen die Antennentechnologie. Aber aus meiner Sicht noch wichtiger sind Netzsteuerung und Cloud-Lösungen. Generell geht es um die Frage: Wo liegen die Daten und wer entwickelt die Algorithmen?
t3n: Als sie noch bei McKinsey waren, haben sie mal einen Weckruf für die europäische Tech-Branche geschrieben.
Was wir damals gesagt haben, war richtig und es ist noch viel schlimmer gekommen. Die Entwicklung der Marktkapitalisierung der Tech-Giganten – das war damals schon absehbar.
t3n: Welche Szenarien aus diesem Weckruf sind eingetroffen und welche nicht?
Es ging im Wesentlichen um die Frage, was Europa tun müsste, um bei den Kerntechnologien Weltmarktführer zu bleiben. Und die wesentliche Voraussage war die Marktkapitalisierung der Tech-Giganten. Damals hat sich schon eine „The Winner takes it all“-artige Monopolbildung abgezeichnet. Das ist in noch gravierenderem Ausmaß eingetreten, als ich es damals dachte.
t3n: Was hat die europäische Startup-Branche damals zurückgehalten?
Eines unserer wichtigsten Themen war aber auch „Speed to Scale“. Also die Frage „Wie schnell werden neue Geschäftsmodelle groß?“ China und Amerika haben als Binnenmarkt mit einer Sprache da einen natürlichen Wettbewerbsvorteil: Sie können im Heimatmarkt schon skalieren, also ein Produkt sehr vielen Kunden anbieten. Sehr kleine Länder übrigens, wie skandinavische Länder oder die Schweiz, wissen von vornherein, dass sie sich direkt auf den Weltmarkt stürzen müssen.
t3n: Der Weckruf war also: Europäische Startups sollen sich gleich auf den Weltmarkt stürzen?
Ja, genau. Wir müssen von vornherein sehen, dass wir Lösungen gerade im Technologiebereich für den Weltmarkt bieten. Deutschland als Exportweltmeister kann das vor allem in der Autoindustrie und im Maschinenbau gut. Aber wir brauchen mehr.
„Außerdem müssen wir Talente aus aller Welt anziehen und uns von stark rückwärtsgewandten Monokulturen verabschieden und gemischte Teams an die Spitze von Unternehmen bringen.“
— Claudia Nemat
t3n: Und hat ihr Weckruf gewirkt?
Es hat damals sehr viel Aufmerksamkeit produziert, vor allen Dingen in Frankreich. Aber, ja, wie das so ist mit Erkenntnissen …
t3n: … Sie meinen, es muss auch irgendwie umgesetzt werden?
Richtig. Wir haben mittlerweile kein Erkenntnisproblem mehr.
t3n: Zu viele Erkenntnisse, zu wenig Umsetzung?
Das stimmt.
t3n: Was sind denn Produkt-Innovationen, die gerade von der Telekom kommen?
Die wichtigsten Produktinnovationen rund um das Thema 5G in den nächsten zwei bis drei Jahren werden im industriellen Bereich passieren: Zum Beispiel bei der Automatisierung von Produktion. Viele Unternehmen wollen aber, dass Fahrzeuge, Maschinen, Roboter autonom herumfahren. Zum Start nutzen wir dafür das LTE-, dann das 5G-Netz, um die Maschinen präzise über Mobilfunk steuern zu können.
t3n: Die Telekom will also 5G für Unternehmensnetzwerke anbieten?
Neben der Konnektivität braucht man eine Cloud-Lösung, in der die Intelligenz zur Steuerung liegt. Das erste Campusnetzwerk haben wir mit der Firma Osram gebaut. Bis Ende des Jahres wollen wir ein marktfähiges Produkt haben, das wir dann im Folgejahr in größerem Stil auch für mittelständische Kunden anbieten.
t3n: Das würde dann so eine Art Telekom-Edge-Cloud werden?
Eine Kombination, wenn Sie so wollen, aus industrieller Edge-Cloud plus Konnektivität der Maschinen mit enorm hoher Verfügbarkeit. Und mit enorm schnellen Reaktionszeiten im Netz. Die mittelfristig relevanteste Anwendung für Privatkunden sehe ich vor allem im Spielebereich. Besonders wenn sehr viele Spieler gleichzeitig spielen und die physikalische Welt mit der virtuellen Welt verknüpft wird, also die sogenannte Augmented Reality.
t3n: Und wie könnten Produktideen von der Telekom da aussehen?
Heute ist es so, dass die Funktionalitäten für die Augmented Reality auf zentralen Servern liegen. Da haben Sie Probleme mit Latenzen, wenn viele Gamer gleichzeitig spielen und die virtuellen Charaktere des Spiels in Echtzeit auf die Spieler reagieren sollen. Deshalb haben wir im ersten Schritt an vier Orten in Deutschland im Telekomnetz Edge-Clouds implementiert. Wir haben zudem eine Firma im Silicon Valley gegründet, die ein offenes Software-System dazu entwickelt hat: eine Art Operating System, auf dem Entwickler aus der ganzen Welt Anwendungen programmieren können. Niantic, bekannt für Pokémon Go, war unser erster Kunde. Niantic hat beispielsweise Features für ein bestimmtes Spiel auf dem System programmiert.
t3n: Die neue Produktidee ist also schnelleres Internet für Spieler dank Edge-Clouds?
Und zwar in Kooperation mit anderen. Die Deutsche Telekom wird kein Spieleentwickler. Das ist nicht unsere DNA. Aber wir können bestimmte physikalische Infrastrukturen und Technologien bereitstellen, damit ein Spieleentwickler darauf bessere Spiele bauen kann.
t3n: So wie Fabriken sich ihr Campus-Netzwerk von der Telekom machen lassen können, sollen Spiele-Entwickler die neuen Edge-Clouds für ihre Projekte nutzen?
Bei dem Spielebeispiel gibt es grundsätzlich zwei Geschäftsmodelle: einmal den Spieleentwickler als Kunden. Aber natürlich können wir uns auch vorstellen, unseren privaten Kunden ein besseres Spieleerlebnis anzubieten.
t3n: Früher konnte man als Telko SMS verkaufen, Telefonminuten und so was. Jetzt verkauft man nur noch Datenpakete – Facebook und Whatsapp machen den Rest. Ist das ein Problem?
Ich neige nicht dazu, Angst zu haben. Respekt vor Businessmodellen schon. Und ja, diese – wir nennen Firmen wie Facebook „Over the Top“-Spieler – haben ganz stark das Kundenerlebnis mitgeprägt. Aber 5G und Edge-Cloud führen letzten Endes Kapazitäten und Intelligenz näher an die Anwendung. Das ist ja gerade der „Witz“: Die Welt der Clouds oder Cloudlets entwickelt sich weg von den großen Rechenzentren hin zu tief in die Netze integrierter Cloud-Kapazität, vom Campusnetzwerk bis zu Rechenleistung im Endgerät.
t3n: Dann wäre die Hoffnung also, über die 5G-Technik wieder diesen Mittelteil zurückzuerobern?
Es entstehen neue Märkte, bei denen wir weiter Kundennähe gewinnen könnten.
t3n: Kann man als Telko überhaupt Kunden begeistern? Ich meine: Entweder das Internet läuft oder nicht.
Wir haben eine ganze Reihe von Produkten für zu Hause: Nicht nur Sprachtelefonie und WLAN, auch Magenta TV und Smarthome. Und das ist genau unser Fokus: zu sehen, dass Menschen zu Hause ein Wow-Erlebnis haben, wenn die Dinge ganz einfach Plug-and-Play funktionieren. Dazu gehört auch Wartung aus der Ferne oder vorauseilende Wartung: dass, bevor ein Router bei Ihnen ausfällt, wir schon wissen, dass wahrscheinlich etwas kaputt geht. Dann können wir das Problem aus der Ferne fixen.
„Vergessen Sie Technik.“
— Claudia Nemat
t3n: Das heißt, das neue Produktversprechen von der Telekom wird eher so etwas wie „Einfachheit durch Technik“?
Ich würde gar nicht sagen, „durch Technik“. Vergessen Sie Technik, Technik muss mich als Kunde gar nicht kümmern, sondern letzten Endes entsteht ein Wow-Erlebnis zu Hause dadurch, dass alles wirklich einfach und gut funktioniert, für die ganze Familie.
t3n: Ich danke Ihnen für das Gespräch.
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