Ist Tiktok noch zu stoppen?

Tiktoks Wachstum scheint nicht mehr zu bremsen zu sein. Muss man darauf reagieren? Darum geht es im heutigen t3n Pro-Briefing. Let’s talk about Tiktok. Denn die App der chinesischen Mutterfirma Bytedance ist schon lange nicht mehr die niedliche App für Kinder, als die sie einmal bekannt wurde. 2021 verbrachten Nutzer:innen verglichen mit Netflix mehr als doppelt so viel Zeit auf Tiktok, was Tiktok zur weltweit meistbesuchten Website machte. Doch obwohl man bei Tiktok liken, kommentieren und teilen kann, ist kein soziales Netzwerk Tiktoks schärfster Konkurrent, sondern zwei andere Tech-Giganten: Netflix und Youtube. Tiktok überholt Youtube Die Streaming-Plattform Tiktok, die sich auf kurze Handyvideos spezialisiert hat, hat es in den Jahren seit seiner Gründung im Jahr 2014 zunehmend geschafft, User:innen und Reichweite von Netflix und Youtube abzugraben. In den USA überholte Tiktok im letzten Jahr gar Youtube bei der KPI der durchschnittlich verbrachten Stunden auf der App (24 versus 22). In England passierte das bereits 2020. Hier ist der Unterschied sogar noch größer: 25 Stunden pro Monat verbrachten User:innen auf Tiktok, 15 Stunden pro Monat auf Youtube. Als Reaktion darauf launchte Youtube vor gut einem Jahr seine Youtube Shorts. [caption id="attachment_1475181" align="aligncenter" width="620"] Monatliche Nutzungsdauer von Tiktok und Youtube in Stunden, Android-only. (Grafik: App Annie Intelligence)[/caption] Ob das ausreichen wird, ist fraglich. Lediglich bei den Nutzer:innen-Zahlen hat Youtube noch die Nase vorn. Hootsuite zufolge zählte Youtube 2021 rund 2,5 Milliarden aktive Nutzer:innen weltweit, während Tiktok "nur" auf rund eine Milliarde kam. [caption id="attachment_1475183" align="aligncenter" width="620"] Die größten Social-Media-Plattformen weltweit. (Grafik: Hootsuite)[/caption] Tiktok wächst und wächst Tiktoks Wachstum scheint nicht aufzuhalten zu sein. Laut Statista verzeichnete Tiktok zwischen 2019 und 2021 einen Anstieg der monatlich aktiven Nutzer:innen weltweit um 38 Prozent auf 689 Millionen. In den letzten fünf Quartalen soll die App häufiger heruntergeladen worden sein als jede andere App. [caption id="attachment_1475185" align="aligncenter" width="620"] Wachstum der monatlich aktiven Nutzer:innen ausgewählter Social-Media-Plattformen weltweit von 2019 bis 2021. (Grafik: Statista 04/22)[/caption] [crosslinks ids="1474924,1470961,1474852"] App mit Suchtpotenzial Das Rezept von Tiktok ist dabei so einfach wie verlockend: Eine große Menge an Menschen kreiert freiwillig und in der Regel ohne Gage Videos für die Plattform – ein Luxus, von dem Netflix mit seinen horrenden Produktionsbudgets nur träumen kann. Scott Galloway schreibt auf seinem Blog: „Bei Youtube und Netflix gibt es Creator und Konsument:innen. Auf Tiktok sind sie ein und dieselbe Person.“ [caption id="attachment_1475186" align="aligncenter" width="620"] Angestellte in der Filmindustrie versus Tiktok-Creator. (Grafik: Scott Galloway)[/caption] Dabei lockt auch das schnelle Geld, denn der Ruhm auf Tiktok kann lukrativ sein: Die besten Creator:innen verdienen dort inzwischen so viel wie ein Fortune-500-CEO oder berühmte Hollywood-Schauspieler:innen. Mit der aktuellen Ankündigung eines neuen Features namens Live Subscriptions dürften sich die Perspektiven für Creator:innen noch weiter verbessern. Mit dem Twitch-ähnlichen Abo-Modell wolle Tiktok der Community die Möglichkeit geben, sich bei ihren Lieblingsproduzent:innen auf regelmäßiger Basis zu bedanken. Nach einem einmonatigen Testlauf ab dem 26. Mai 2022 soll das neue Bezahl-Modell bald für alle Kanäle mit mehr als 1.000 Abonnent:innen auf Tiktok verfügbar sein – wenn deren Betreiber:innen über 18 sind. Auch wer ein zahlungspflichtiges Abo abschließen möchte, muss mindestens 18 Jahre alt sein. [caption id="attachment_1475187" align="aligncenter" width="620"] Einnahmen großer Tiktok-Stars (schwarz) versus Schauspieler:innen und CEOs. (Grafik: Scott Galloway)[/caption] Risiken und Nebenwirkungen Dennoch sind die potenziell negativen Auswirkungen von Tiktok für Körper und Geist besonders für Jugendliche nicht zu unterschätzen. Denn die App kann regelrecht süchtig machen. Das Suchtpotenzial liegt in Tiktoks Algorithmus begründet, denn dieser spielt mit großer Treffsicherheit kurze Videos aus, die zu den Präferenzen der Nutzer:innen passen. Je mehr man die App verwendet, desto mehr versteht sie, was man mag. Durch die Kürze der Videos können in kurzer Zeit viel mehr Datenpunkte eingesammelt werden als beispielsweise bei Netflix. Zudem muss man sich im Gegensatz zu Netflix bei Tiktok nicht mehr entscheiden, was man schauen möchte, sondern nur, was man nicht schauen möchte, was einem das Leben leichter macht. Vor allem junge Menschen werden so stundenlang an die Plattform gefesselt. Das liegt auch daran, dass der präfrontale Kortex, der für die Entscheidungsfindung und Impulskontrolle zuständig ist, erst im Alter von 25 Jahren vollständig entwickelt ist. Zwar erinnert Tiktok jüngere Nutzer:innen inzwischen daran, Pausen einzulegen, um nach draußen zu gehen oder etwas zu essen. Aber ob das reichen wird, ist fraglich. Je größer Tiktok wird, desto mehr müssen auch Politik und entsprechende Aufsichtsbehörden auf den Tech-Riesen schauen, um die Bedrohung für die mentale Gesundheit von Tiktok-User:innen einzudämmen.