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Die Trello-Akquisition: Das letzte Teil des Puzzles

Für 425 Millionen US-Dollar wurde Trello von Atlassian übernommen. Seitdem kursieren kontroverse Theorien über die Strategie dahinter. Gastautor Martin Welker hat das letzte Teil des Puzzles.

Von Martin Welker
8 Min. Lesezeit
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(Bild: Trello)


Im Januar 2017 gab es ein kleines Erdbeben im B2B-Bereich. Der Publikumsliebling Trello, eine Produktivitätsplattform, wird für 425 Millionen US-Dollar von Atlassian übernommen, dem Platzhirsch des Segments. ??Akquisitionen sind seit langem fester Bestandteil der IT. Seit Jahren werden hier mittlerweile Milliarden-Beträge bezahlt.

Diese Übernahme aber ist insofern außergewöhnlich, als dass hier ein Produkt mit deutlich geringerem technischen Umfang und einem verschwindend geringen Umsatz gekauft wurde. Und das zum Preis eines kompletten Jahresumsatzes des Käufers. Bis heute werden die Hintergründe und Absichten unter IT-Experten intensiv und kontrovers diskutiert. Ein Indiz dafür, dass hier Bemerkenswertes geschehen ist.

Gründe für Trellos Verkauf

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In der Diskussion nimmt Szenekenner Hiten Shah die Käuferseite ein und beschreibt, warum Trello verkaufen musste. Seine Kernthese: Trello habe die Gelegenheit zum Exit genutzt, bevor der steinige Weg zur Monetarisierung notwendig wurde. Trello steht vor einem Vertikalisierungs-Problem. Als „horizontales“ Allzweck-Werkzeug ist es zu schwach, um in den umsatzstarken Segmenten wie Projektmanagement, CRM, ERP und Helpdesk mit den Markführern mitzuspielen. Dies ist aber notwendig, um sich langfristig etablieren zu können. ??Ob neben diesen technischen Indikatoren eine gewisse „Startup-Müdigkeit“ oder andere persönliche Interessen zu einem Verkauf geführt haben, wird man wahrscheinlich nie ganz aufklären können.

Damit ein Deal in dieser Größenordnung zustande kommt, muss natürlich auch der Käufer ein starkes Interesse an einem Abschluss haben. Denn zwar mag der Kaufpreis gemessen an den Milliarden-Deals von Instagram und WhatsApp oder den Bewertungen von Slack und Dropbox zunächst niedrig erscheinen. Aber dies war alles andere als ein Notverkauf: Bei einem geschätzten Jahresumsatz von (nur) 10 bis 15 Millionen US-Dollar geht man aus Trellos Sicht von einer hervorragenden Bewertung aus. Die Mechanik des Marktes zeigt somit an, dass es sehr starke Kaufanreize gegeben haben muss.

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Gründe für Trellos Kauf

Genau diese Anreize beleuchtete Mitt Tarasowski in einem vielbeachteten Beitrag und stellte die Notwendigkeit des Deals aus Perspektive des Käufers heraus. Mitts Ansatzpunk: Mit seinem Flaggschiff JIRA habe sich Atlassian in den letzten Jahren zu sehr vom (Einstiegs-) Markt für Projektmanagement entfernt. Dieses Vakuum werde jetzt durch das preisgünstigere und leicht erlernbare Trello gefüllt. In Zukunft werde Trello funktional an JIRA heranwachsen und es so vom Markt verdrängen. Nicht Trellos mittlerweile beeindruckende 20 Millionen Personen umfassende Benutzergemeinde oder seine Marke seien die Gründe für diese Bedrohung, sondern Preismodell und Funktionsumfang.

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Laut Tarasowski markiert die blaue Linie den „Industriestandard“ für Projektmanagement, also die Funktionalität, die Benutzer zu einem bestimmten Zeitpunkt von einem konkurrenzfähigen Produkt erwarten. Dieser Funktionsbedarf steigt mit der Zeit an, da Benutzer unbewusst immer mehr Funktionen verstehen und erwarten. In 2016 wurde dieser Standard zum Beispiel um das Kanban-Board erweitert, MS Planner und Asana fügten dieses Werkzeug zu ihren Produkten hinzu. Ebenso wurden erweiterte Datenfelder eingeführt (Asana, Trello). JIRA ist in dieser Darstellung bereits weit über den Anforderungen der Benutzer, und Trello nähert sich dieser Grenze von unten an. Sobald Trello den Industriestandard erreicht, steigt es zum neuen „König des Projektmanagements“ auf.

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Genau ab diesem Zeitpunkt wird Trello wiederum angreifbar für die Newcomer des Marktes, da fortan auch Trello „zu komplex“ wird.

Warum Trello keine Bedrohung für Atlassian ist

Mitts Argumentation klingt zunächst einleuchtend und ist – von außen betrachtet – absolut plausibel. Beide aufgezeigten Bedrohungsfaktoren erweisen sich bei genauerem Hinsehen als möglicherweise zu kurz gegriffen. So scheidet das Preismodell schnell als Faktor aus. In der Tat ist JIRA deutlich teurer als Trello.

Aber im Vergleich zu den übrigen SaaS-Kosten, die ein Unternehmen heute für die Bereitstellung von CRM, ERP und Kommunikation zahlen muss, sind die Kosten für JIRA aber zu vernachlässigen. Der Kampf der Produktmanagementsysteme wird (derzeit) nicht über den Preis entschieden. Zudem hätte Trello, um IPO-tauglich zu werden, sicherlich den Preis ebenso anheben müssen.

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War also der Funktionsumfang von Trello am Ende der ausschlaggebende Punkt?

In einem geschlossenen Markt mit nur zwei Marktteilnehmern (Trello und JIRA) mag das Vakuum-Argument zutreffen: „Ich wähle den einfachen Kandidaten Trello, weil mir JIRA zu kompliziert ist!“ Es gibt Märkte, in denen diese Alternativlosigkeit zutrifft (NASA vs. SpaceX), aber der Projektmanagementmarkt gehört nicht dazu. Er besteht aus einer Vielzahl von Wettbewerbern. Man könnte hier mittlerweile im Gegenteil von einem Red Ocean sprechen: Für jeden gewünschten Funktionsumfang gibt es mindestens einen Hersteller, der die Lücke füllt.

Somit scheidet auch der Funktionsumfang als Grund für die mögliche Bedrohung aus. Obwohl nun bereits fast alle möglichen Übernahmegründe und -faktoren auf dem Tisch liegen, scheint das Puzzle noch immer nicht ganz vollständig zu sein. Das macht die Frage, warum Trello dennoch gekauft wurde, nicht weniger spannend. Ganz im Gegenteil, führt es doch zu einer ganz neuen Sicht auf Software-Akquisitionen.

Die zwei Stämme

Mitts Graph ist mit leichten Veränderungen ein guter Ausgangspunkt für die weiteren Überlegungen. Dazu wird die blaue Linie in zwei getrennte Linien geteilt: Eine für die Käufer von Softwaresystemen und eine für die Benutzer, welche die Software im täglichen Gebrauch tatsächlich einsetzen. Diese Gruppen haben teilweise sehr unterschiedliche Vorstellungen und Bedürfnisse. Viele Funktionalitäten werden von Käufern gewollt und von Benutzern abgelehnt. Die Benutzer „zahlen“ sogar für die ungewollte Extra-Komplexität der Käufer mit ihrer Motivation und ihren Nerven.

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Der epische Wettstreit

Wir leben in einer ganz besonderen Zeit. Um uns herum tobt ein stiller, aber gigantischer Wettstreit zwischen den Unternehmen: Der „Krieg um Talente“. Dieser Kampf gibt den Benutzern mehr Einflussmöglichkeiten in Bezug auf ihre Arbeitsumgebung als jemals zuvor. In den 50er Jahren war es unvorstellbar, dass Angestellte echte Mitsprache über die eingesetzten Werkzeuge hatten. Und heute? Die neuen Generationen Y und Z kennen keine Gnade bei der Auswahl ihrer Werkzeuge – und sind sogar bereit, notfalls ihren Arbeitsplatz zu wechseln. Die Entwickler von heute stimmen gewissermaßen durch einen Arbeitsplatzwechsel ab, welches Unternehmen cool ist und welches nicht.

Der Widerstand, mit veralteten und überkomplexen Tools zu arbeiten, ist erheblich gestiegen – egal, ob in Startups oder Konzernen. Der Markt hat diese Situation erkannt und sucht nach Antworten.

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Mojo, Baby!

Und genau hier liegt das Vakuum, das Trello tatsächlich füllt: „Mojo“ – für die Softwareindustrie frei übersetzt: Die Liebe der Benutzer für das Produkt. Ein Faktor, der bis zur heutigen Zeit dramatisch unterschätzt wurde und immer noch unterschätzt wird. Diese (Gegen-) Liebe entsteht aus der Liebe für die Benutzer, ausgedrückt dadurch, dass Dinge so einfach und elegant sind, wie sie nur können. So werden aus Benutzern schließlich echte Fans. Das ist der Erfolgspfad, auf dem Trello in Unternehmen gelangt. Trotz des Widerstands der etablierten Strukturen wie Compliance, Firmenrichtlinien und strengen IT-Abteilungen. Es ist also kein Funktionsvakuum, das Trello den Siegeszug beschert hat, es ist ein „Coolness“-Vakuum. Coolness als entscheidender Faktor im Krieg um Talente wird in der Zukunft noch erheblich zunehmen, wenn die jungen Generationen ihre Toleranz gegenüber unmodernen Tools weiter senken.

Die Demokratisierung der Infrastruktur

In der Vergangenheit hätte sich Atlassian womöglich überhaupt nicht um Trello gekümmert. Das Management und der Funktionsumfang allein entschieden damals über die Anschaffung von Software. Die Benutzer waren konditioniert, die bereitgestellten Werkzeuge zu nutzen und stellten sie nicht infrage. Heutzutage entscheidet immer mehr das Mojo darüber, was vom Team akzeptiert und damit eingesetzt wird. Dropbox und andere Produkte wurden erst „enterprise ready“, nachdem sie bereits die Herzen der Benutzer gewonnen hatten.

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Smarte Unternehmen erkennen natürlich die unheimlichen Vorteile, wenn das Benutzerteam hinter dem Einsatz eines Systems steht, es vielleicht sogar vorgeschlagen hat: Mehr Mitbestimmung, mehr Motivation, mehr Produktivität, mehr Glück. Compliance kommt nun in so manch einem Fall bereits hinter Motivation. Der „kleine Dienstweg“ ist nie ganz ausgeschlossen. Unternehmen existieren schließlich nicht, um Regularien zu erfüllen. Sie sind nur ein Mittel zum Zweck. Produktivität und Kreativität der Mitarbeiter machen ein Unternehmen erfolgreich. Die Demokratisierung der Software folgt der Devise „Mojo first“ statt „Compliance first“. Schon gibt es die Bewegung hin zum „Chief Digital Officer“, der explizit nicht nur nach Risiken, sondern auch nach Chancen neuer Systeme Ausschau halten soll.

Natürlich gibt es auch Gegenwind zu dieser Bewegung. Shadow-IT ist das Buzzword für diese Art von Software in den IT Abteilungen. Das soll zum Ausdruck bringen, dass sich ein Produkt niemals offiziell als Infrastruktur durchsetzen wird. Die kalten Geschäftszahlen mögen noch immer auf der Seite der etablierten Softwaregeneration sein, doch das könnte sich schnell ändern. Letztendlich haben wohl wie immer beide Seiten ihre Berechtigung.

Der unberührbare Schatz

Um es also auf den Punkt zu bringen: Atlassian hat sich Mojo gekauft. Trello steht synonym für Coolness und Schlichtheit in seinem Segment. Somit ist es doch die Marke, die den Kaufpreis entschied. Aber die Mechanik des Deals geht noch tiefer. Wie nutzt man eine Marke, die man nicht „ausnutzen“ kann? Denn genau wie das Mojo im Kultfilm mit Austin Powers verfliegt der Glanz einer Marke allzu schnell, wenn sie in ein größeres Konzept eingebettet werden soll. Sobald Trello falsch weiterentwickelt wird, ist der Glanz dahin. Ein wenig zu viel JIRA-Integration, ein wenig zu viel „Enterprise readiness“ und es kann vorbei sein. Und zusätzlich wie jedes System ist auch Trello nicht davor gefeit, zu kompliziert zu werden. Die Uhr tickt also. Was macht man also mit einem Schatz, den man nicht anfassen darf?

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Die neue Art der Verteidigung

Natürlich kann man zunächst mal davon ausgehen, dass Atlassian all dies sehr genau weiß. Und es ist sehr wahrscheinlich, dass Trello von der Unternehmensführung niemals als echte Bedrohung für JIRA wahrgenommen wurde. Hier sollte kein Angreifer abgewehrt werden, sondern hier wurde eine ultimative Abwehrwaffe gekauft. Abwehr gegen den großen Unbekannten, der danach kommt. Den Kontrahenten aus der Zukunft. Man kann dies am Beispiel von Instagram sehen. War Instagram eine echte Bedrohung für Facebook? Aus heutiger Sicht und unter der Annahme, dass Instagrams Entwicklung unter Facebook nicht maßgeblich verlangsamt wurde, kann man heute sagen: Nein. Facebook hat Instagram „so gut wie“ nicht angefasst. Sein Mojo blieb erhalten.

Aber warum kaufte Facebook überhaupt? Um Konkurrenten zu schwächen oder wie Om Malik sagt, wegen der „passionierten Fans“? Das mag schon sein. Viel aufschlussreicher ist aber die jüngste Vergangenheit, in der sich zeigt, wie Instagram wirklich eingesetzt (und nun auch massiv geändert) wird: Als Verteidigung gegen Snapchat, den unzähmbaren Unbekannten. Hier kann Instagram nun seinen wahren Wert beweisen. Snapchat ist viel näher an Facebook und eine weitaus größere Gefahr als es Instagram jemals war.

Aber auf der anderen Seite ist es von Instagram nur ein kleiner Schritt, um elementare Funktionalitäten des Mitbewerbers bereitzustellen und ihn sozusagen von der „Mojo-Seite“ kaltzustellen. Darin liegt die Schönheit des Instagram-Deals. Und das Gleiche gilt auch für Trello. Trello sollte und wird niemals ein zweites JIRA werden. Es wird genauso einfach und beliebt bleiben wie es ist. Bis eines schönen Tages der große Unbekannte auf den Plan tritt. Dann muss sich der Herausforderer mit einer Herde von treuen Fans auseinandersetzen und sie überzeugen.

Fazit

Vor zehn Jahren wurden neue Herausforderer durch Regularien vom Markt ferngehalten. Heute schützen sich etablierte Firmen mit Publikumslieblingen vor echter Konkurrenz. Die neue Markteintrittsbarriere heißt „Liebe zum Produkt“. Diese Entwicklung wurde notwendig weil die Markmacht der Benutzer durch den Kampf um Talent stark zugenommen hat. So plausibel heute die Akquisition scheinen mag – vor zehn Jahren wäre sie weder denkbar noch sinnvoll gewesen.

Übersetzt aus dem Englischen. Der Originalartikel erschien bei The Next Web.

 

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