
Die Nachricht, dass IBM nach Bewerbenden mit zwölf Jahren Berufserfahrung in einer sechs Jahre alten Kubernetes-Technologie sucht, hat sich 2020 wie ein Lauffeuer verbreitet – und sorgte für großen Spott nicht nur unter Entwicklerinnen und Entwicklern. Dieser Fall ist allerdings nur ein Beispiel von vielen: Die Ansprüche an Jobsuchende sind bisweilen unverschämt und sorgen nicht selten für Unverständnis bei potentiellen Kandidaten. Ein Reddit-Thread, den Business Punk ausgegraben hat, zeigt, wie schlimm es auch in den Stellenanzeigen anderer Unternehmen zugeht.
Anforderungen an Bewerbende: „Gutes Aussehen!“
Da sucht ein Digital-Unternehmen beispielsweise nach Berufseinsteigern mit zwei bis drei Jahren Programmiererfahrung, die kostenlos und lediglich für weitere Erfahrung arbeiten. Ein Medien-Unternehmen sucht parallel die sogenannte eierlegende Wollmilchsau, die nicht nur in der Lage ist, Nachrichteninhalte zu konzipieren und zu recherchieren, sondern auch zu schreiben, aufzunehmen und sie schlussendlich zu vermarkten. Unter dem Strich heißt das: Sie möge doch bitte die gesamte Wertschöpfungskette abbilden. Andere Unternehmen schließen potenzielle Bewerbende gleich direkt aus, wenn sie beispielsweise Ärger im Privatleben haben oder schlicht und einfach nicht gut aussehen. Wie bitte?!
Was sich wie ein schlechter Witz anhört, ist tatsächlich jahrelange Praxis in vielen Unternehmen. Das Reddit-Forum r/recruitinghell existiert bereits seit 2016. Insgesamt 291.000 Personen verfolgen den Inhalt. Dieser Subreddit sei für all jene Personalvermittelnden und Kandidaten gedacht, die das Thema rund um diese unverschämten Ansprüche wirklich nicht verstehen, heißt es in der Beschreibung. „Veröffentliche deine Horrorgeschichten und zeige uns andere vermeintlich tolle Stellenangebote!“, so der Aufruf an alle Mitlesenden.
Da fallen euch doch bestimmt auch Beispiele ein?
Danke Dir, Andreas. Beliebt sind auch:
– „Wir können nichts zahlen, aber Sie können das als Referenz nutzen.“
– „Könnten Sie ein paar Tage probearbeiten?“
– „Bitte bereiten Sie sich auf einen mehrstufigen Bewerbungsprozess mit Erstellung von Arbeitsproben, zwei Interviews vor Ort und einem Tag im Assessment-Center vor“ – Es ging um eine Freelance Position, um low-level-Artikel zu erstellen. Köstlich.
Warum wird das gemacht?
Weil es funktioniert!
schon vor 20 Jahren war der Selbstausbeutung(!) von Einzelkämpfern Tür und Tor geöffnet. Viele sogenannten Consultants haben von sich aus angeboten, einige Tage umsonst zur Probe zu Arbeiten. Manche sicherlich auch, damit sie danach ihre Webseite mit unserem Logo schmücken konnten.
Andere haben tatsächlich themenspezifische Vorträge auf Anfrage vorbereitet.
Mit ein wenig Geschick kann man das kombinieren und so zu mehrtägigen Seminarveranstaltungen kommen.
Unternehmen gehen – nicht ohne Grund – davon aus, dass Freie und Einzelkämpfer aber auch ALLES tun, in dem Glauben, dass sie dann „einen Fuß in der Tür“ haben. Andererseits sind die Firmenlogos mancher Freelancer-Webseiten so beliebig, dass man sich als potentieller Auftraggeber schon manchmal fragt, ob da nicht einfach nur mal ne Birne gewechselt oder eine Pizza geliefert wurde.
Wen sollte ich fragen, um die Referenz zu überprüfen?
Das Ganze ist bereits so normal, dass es eben zu obigen „Überschneidungen kommt“. Personalabteilungen bekommen den Auftrag, bestimmtes Knowhow zu suchen und „beefen“ das Ganze nach ihrem eigenen Gusto und Erfahrung auf – es kommen eh genug Meldungen.
Es ist recht wohlfeil, sich über solche Anzeigen lustig zu machen.
Aber selbst wenn sie ein Versehen sein sollten, es gibt Bewerber!
Und daher sollte sich jeder einmal selbst fragen, in wieweit er oder sie an diesem System teilnimmt – wie weit würde ich selbst gehen, um einen Auftrag zu bekommen, welche Zugeständnisse machen, wenn 50k in den Raum geworfen werden?
Schwachsinnige Stellenanzeigen sind in der IT Branche nichts neues.
5 Jahre Erfahrung in Technologien oder Programmiersprachen, die es erst 3 Jahre gibt, sind ja inzwischen ein Klassiker. Ebenso planlose Aneinanderkettung von Buzzwords und Anforderungen, die mit 5 Senior Experten in Vollzeitanstellung gerade so bedient werden könnten.
Das Problem ist, dass eine digitale Kultur fehlt.
Anarchie, Chaos, Plan- und Ahnungslosigkeit dominieren die Bemühungen, die digitale Welt in den Griff zu bekommen und dies spiegelt sich in den Stellenbeschreibungen. Es fehlt die Fähigkeit und/oder der Wille zu Erkennen und zu Entscheiden, wo im Digitalen die Wertschöpfung überhaupt stattfinden soll um dann passend dazu die strategischen Entscheidungen bezgl. der einzusetzenden Technologien und Fachkräfte zu treffen. Dies ist auch der Grund, warum viele IT Experten wieder und wieder erkennen müssen, dass das Gewäsch und Dauergenörgel vom Fachkräftemangel und die tatsächliche Situation am Arbeitsmarkt nicht so ganz zusammenpassen und viele IT Anforderungen sich wie ein seltsamer Mix aus politischem Tauziehen und Beschäftigungstherapie anfühlen.
Meine Vermutung ist, dass dieses Problem noch eine ganze Weile bestehen wird, bis die Gesellschaft als ganzes und damit auch die Politik erkennt, dass der Umgang mit digitalen Endgeräten und digitalen Netzwerken eine Kulturtechnik ist, genau so wie Lesen und Schreiben. Und dass man eine Formalisierung dieser nicht einem freien Markt oder globalen Megakonzernen überlässt, sondern unabhängigen Fachleuten, um diese neuen Kulturtechniken dann der Gesellschaft und dem Nachwuchs bezubringen.
Aber wie gesagt, dass wird wahrscheinlich – leider – noch eine ganze Weile dauern.