Veros schlüpfriges Geheimnis: Sorgten leichtbekleidete Influencer für den Durchbruch?
Eine umfangreiche Analyse von OMR zeigt: Kurz vor dem Anstieg der Download-Zahlen haben Hunderte von Nischen-Influencern auf Instagram und anderen Plattformen für ihre Vero-Accounts getrommelt. Viele von ihnen kommen aus der Kreativ-Szene, nicht wenige aber zeichnen sich auch durch Fotos mit knapper Bekleidung aus.
Ein „neues“ soziales Netzwerk, das seinen Content-Feed rein chronologisch anordnen und auf Werbung verzichten, sondern sich stattdessen vorrangig durch Abo-Einnahmen finanzieren will – jeder, der auch nur halbswegs digital-affin ist, dürfte in den vergangenen Tagen einmal diese oder eine ähnliche App-Beschreibung gehört und gelesen haben. Vero war plötzlich in aller Munde.
Ein Milliardär gibt das Geld
Dabei existiert das Betreiberunternehmen bereits seit einigen Jahren; die iOS-App ist seit dem Jahr 2015 verfügbar. Doch innerhalb der vergangenen Tage schoss die Anwendung innerhalb kürzester Zeit auf die vorderen Plätze. Das Berliner App-Analytics-Unternehmen Priori Data schätzt, dass die Vero-App über den App-Store und Google Play innerhalb der vergangenen 30 Tage weltweit 1,7 Millionen Mal heruntergeladen wurde. Woher rührt diese plötzliche Popularität?
Gründer von Vero ist Ayman Hariri, Mitglied einer sehr wohlhabenden Familie aus dem nahen Osten. Das US-Magazin Forbes schätzt sein Vermögen auf 1,33 Milliarden US-Dollar. Die Mittel, um die App mit Marketing zu pushen, dürften also mehr als zur Genüge vorhanden sein.
Exklusive Vorab-Fotos kommender Filme
In den vergangenen Monaten setzen die Vero-Macher in diesem Zusammenhang vor allem darauf, hochrangige Macher aus Filmwelt und Popkultur davon zu überzeugen, attraktiven Content exklusiv auf Vero zu posten. Der wohl Namhafteste darunter: Der US-Filmregisseur Zack Snyder (unter anderem „300“, „Watchmen“, „Man of Steel“ und „Batman versus Superman: Dawn of Justice“) postet auf seinem Vero-Account Set-Fotos von aktuell in der Produktion befindlichen Filmen wie „Justice League“, die in der Szene der Comic-Fans viel beachtet und unter anderem in Blogs und auf Plattformen wie Reddit heiß diskutiert werden. Außerdem produzierte der Regisseur exklusiv für Vero einen Kurzfilm mit dem iPhone. Snyder und Hariri kennen sich, seitdem der Milliardär im Rahmen einer karitativen Aktion eine Statisten-Rolle in „Batman versus Superman: Dawn of Justice“ ersteigert hatte. Wer Snyder dauerhaft auf Vero folgen möchte, muss sich die App installieren – ein Web-Interface gibt es nicht.
Der Filmemacher und Kameramann Max Joseph ist seit einem guten Jahr ebenfalls bei Vero aktiv. Joseph (ein guter Freund von Mega-Influencer Casey Neistat) spielt in der beliebten MTV-USA-Serie Catfish mit. Im Frühjahr 2017 veröffentlichte er auf Vero die mehrteilige Doku-Reihe „Dicks“, die sich mit egozentrischen Regisseuren auseinander setzt.
Nischen-Influencer statt Top-Kreative?
Ebenfalls für exklusiven Content sorgen der Hollywood-Set-Fotograf Clay Enos („300“ und „Wonder Woman“) und der kanadische Musiker und Social-Media-Star Chris Collins. Im Januar dieses Jahres stellte Mark Waites, Mitgründer der in der Werbebranche berühmt-berüchtigten britischen Werbeagentur Mother, einen für Vero produzierten Kurzfilm vor. Im Februar folgte ein Kurzfilm des britischen Comedians und Schauspielers Asim Chaudry.
Doch möglicherweise hat dieser hochwertige Content nicht gereicht, um den Schneeball-Effekt zu erzielen, der notwendig ist, um eine App in den Mainstream zu katapultieren. Denn bis Ende Februar 2018 dümpelte Vero in den App-Store-Rankings ganz weit unten. Haben die Vero-Macher deswegen einen Strategie-Schwenk vollzogen?
Brutto-Reichweite von 70 Millionen Followern in fünf Tagen
Eine Auswertung des Instagram-Analyse-Tools InfluencerDB, die OMR exklusiv vorliegt, zeigt, dass die Zahl der Posts, die Influencer (also Accounts mit mindestens 15.000 Followern) auf der Bilder-Plattform mit Hashtags zum Thema Vero abgesetzt haben, Ende Februar plötzlich sprunghaft anstieg. Besonders häufig wurde der naheliegende Hashtag #vero verwendet.
Die Gesamt-Follower-Zahl (also die Brutto-Reichweite) aller Influencer-Accounts auf Instagram, die zwischen dem 20. und 25. Februar auf der Plattform einen Post mit dem Hashtag #vero absetzten, beläuft sich auf 70,7 Millionen. Andere Posts zu Vero, bei denen die Influencer keinen Hashtag, der den App-Namen enhält, verwendet haben, sind in dieser Zahl noch nicht einmal enthalten. Am 26. Februar war die App in den USA erstmals auf Platz 1 des iOS-App-Stores. Sieht man sich an, welche Posts die meisten Likes gesammelt haben, und welche die follower-stärksten Accounts sind, die zu #vero gepostet haben, stößt man vor allem auf (im weiteren Sinne) Kreativ-Influencer: Illustratoren, Fotografen, Makeup-Artists und Tattoo-Influencer.
Wer brachte den Schneeball ins Rollen?
Möglicherweise sind viele der Beiträge, die mit für Veros plötzliche Bekanntheit gesorgt haben, schon gar nicht mehr verfügbar. Chris Messina, in der US-Digitalszene unter anderem wegen seiner ehemaligen Tätigkeiten für Uber und Google bekannt, äußerte bei Twitter die Einschätzung, dass sich Vero vor allem über Instagram Stories verbreite – und postete mehrere Beispiele. Die Kurzvideos verschwinden nach 24 Stunden wieder, wenn der Nutzer sie nicht ausdrücklich archiviert.
Die Übersicht zeigt, dass viele der reichweitenstärksten Instagram-Posts erst am 26. Februar abgesetzt wurden – als der Hype um die App schon nahe dem Höhepunkt war. Welche Accounts aber haben diese Entwicklung angestoßen? Welche haben im Zeitraum vom 20. bis 23. Februar bei Instagram zu Vero gepostet und somit den Schneeball erstmals ins Rollen gebraucht?
Die halbe Cosplay-Szene trommelte für Vero
InfluencerDB hat für diesen Zeitraum 192 Influencer-Posts zum Hashtag #vero gefunden. Wer sich die Accounts anschaut, stellt fest: Es überwiegend weibliche so genannte „Cosplayer“, die Vero kurz vor dem großen Hype promotet haben. Bei diesem japanischen Verkleidungstrend stellen die Teilnehmer Figuren aus Manga, Anime, Comics, Filmen oder Computerspielen dar. Die weiblichen Vertreter sind dabei nicht selten eher spärlich bekleidet. Aber auch Fetisch- und Tattoo-Models trommeln unter Zuhilfenahme von Akt-Fotos für Vero. Einige Beispiele:
Eine von der Social-Media-Monitoring-Plattform Talkwalker exklusiv für OMR erstellte Auswertung darüber, welche Tweets zum Thema Vero bei Twitter zwischen dem 20. und 23. Februar das meiste Engagement erhalten haben, zeigt ein ähnliches Bild: Sieben der zehn engagement-stärksten Tweets stammen von Cosplayern, sechs von ihnen sind weiblich.
Auf Facebook lassen sich ebenfalls Fotos von leichtbekleideten Models aus der Fetisch- und Tattoo-Szene finden, mit denen diese für Vero werben, etwa von der Berlinerin „Victoria Van Violence“ (1.100 Likes). „Vany Vicious“, mit mehr als vier Millionen Fans, hat sogar gleich fünfmal etwas über Vero gepostet – jeweils mit einem aufreizenden Foto.
Organische Viralität oder bezahltes Seeding?
Hat Vero also in großem Stil Nischen-Influencer bezahlt, um künstlich einen Hype zu generieren? Mit absoluter Sicherheit ist diese Frage nicht zu beantworten. Im Rahmen unserer Recherche sind wir auf keine Posts zu Vero gestoßen, die mit Hashtags wie #ad oder #sponsored gekennzeichnet waren. t3n.de-Chefredakteur Stephan Dörner hat sich auf Twitter bei einigen Influencern stichprobenartig erkundigt, ob diese für ihren Einsatz für Vero bezahlt wurden. Die Antwort durch die Bank weg: „Nein, natürlich nicht.“
Ohne Zweifel gibt es im Fall von Vero einige Faktoren, die eine organische virale Entwicklung begünstigt haben könnten – die zunehmende Unzufriedenheit der Influencer mit Instagrams Algorithmus etwa. Vor allem jene, die aufwändigen Content erstellen (wie Fotografen und Illustratoren), sind wütend über die daraus resultierenden Engagement- und Reichweiteneinbrüche. Mit Versprechen, den Feed rein chronologisch zu organisieren, rennt Vero bei dieser Gruppe offene Türen ein.
Haben die Netzwerk-Effekte ausgereicht?
Auch der Marketing-Kniff der Ankündigung, dass Vero nur für die erste Million Nutzer kostenlos sein werde, hat sicherlich viele Nutzer zusätzlich davon überzeugt, sich „mal eben schnell den eigenen Account noch gratis zu sichern“. Zudem ist das Risiko, dass mit dem Einrichten eines eigenen Accounts und dem Hinweis darauf verbunden ist, für Influencer relativ niedrig. Und es dürfte nie einfacher als in der Anfangsphase einer Plattform sein, auf dieser (kostenlos) Reichweite aufzubauen.
Und ist der Schneeball einmal ins Rollen gekommen, treten natürlich auch sich selbst verstärkende Effekte auf. Ist ein Hashtag einmal beliebt, wollen andere auch etwas von der Aufmerksamkeit und Reichweite abhaben, und nutzen diesen ebenfalls. Wenn eine App im App-Store aufsteigt, generiert die daraus entstehende Aufmerksamkeit zusätzliche Installs. Und erlaubt man Vero den Zugriff auf das eigene Smartphone-Adressbuch, erhält man in Folge massenhaft Notifications, wenn ein Bekannter sich auf der Plattform registriert hat.
Influencer glauben an eine Kampagne
Auf der anderen Seite wäre es erstaunlich, wenn so viele Influencer, die vorrangig von der Vermarktung ihrer Reichweite leben, diese auf einmal kostenlos zur Verfügung stellen, noch dazu für eine App, die in mehrerlei Hinsicht noch in den Kinderschuhen steckt. In der App Economy ist die Gewinnung von Nutzern durch Influencer Marketing seit etwa zwei Jahren weit verbreitet. André Kempe von der Mobile-Beratung Dynamo Partners (Kunden beispielsweise Zalando und Pro-Sieben-Sat1) glaubt dementsprechend auch im Fall von Vero an eine gesteuerte und bezahlte Kampagne. „Das sieht ja wirklich so aus, als hätten die die Influencer-Kategorie Cosplayer einmal komplett durchgebucht.“ Ihn erinnert das Vorgehen an jenes von Party-Veranstaltern: „Wenn die hübschen Mädels einmal alle in der Disco drin sind, dann kommen die Jungs von alleine.“
Auch die schwedische Nischen-Influencerin Ann-Sophie Carlsson, in der Gothic-Szene als „Adora Batbrat“ bekannt, glaubt an eine Kampagne. „Anhand der ganzen Vero-Posts, die jetzt auf Social Media auftauchen, kann man erkennen, wer von ihnen Geld angenommen hat. Bin ich eigentlich die einzige, die Dinge ablehnt, selbst, wenn Geld im Spiel ist?“, schreibt das Fetisch-Model. Nicht alle, die über Vero gepostet haben, seien dafür bezahlt worden, schreibt sie in einem Kommentar unter dem Post – „aber viele Influencer schon“.
Cosplayerin, die Posts verkauft, hat über Vero gepostet
Wer im Netz nach der Möglichkeit googelt, Werbeposts bei Cosplayern einzukaufen, stößt beispielsweise auf der Plattform Influence.co auf das Profil von Danielle DeNicola, bei der bereits ab 100 US-Dollar Posts gekauft werden können. Die Cosplayerin hat bei Instagram 139.000 Follower. Auch sie hat am 21. Februar mit einem Instagram-Post auf ihren Vero-Account aufmerksam gemacht:
Nach der erstmaligen Veröffentlichung dieses Artikels behauptete darüber hinaus Blogger Jochen Kolbe (Vater.Blog) auf Twitter, dass Vero auf der Influencer-Marketing-Plattform Blogfoster nach Influencern für eine Kampagne gesucht habe. Auf Anfrage von OMR dementierte dies ein Blogfoster-Sprecher: „Blogfoster hat und hatte keine Kampagne über Vero.“
Der Backlash rollt
Ob Vero von dem influencer-induzierten Schub langfristig profitieren kann, darf allerdings bezweifelt werden. So schnell wie der Hype kam, so schnell scheint er derzeit auch wieder zu gehen. Eine Backlash-Kampagne ist bereits in vollem Gange: Kritisiert werden unter anderem die AGB des Dienstes, das umständliche Prozedere, wenn Nutzer ihren Vero-Account löschen wollen sowie die Vergangenheit von Gründer Ayman Hariri als Geschäftsführer der saudi-arabischen Baufirma Saudi Oger, die einen großen Teil ihrer Arbeiter über einen längeren Zeitraum nicht bezahlt haben soll. Am meisten schaden dürfte Vero aber auf lange Sicht, dass die Macher der App auf den Ansturm offenbar auf technischer Seite nicht vorbereitet waren – die App scheint immer wieder überlastet zu sein und reagiert viel zu langsam. Das Angebot der kostenlosen Nutzung ist gestern übrigens – wenig überraschend – von Vero erst einmal verlängert worden.
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