Sexuelle Belästigung auf Vinted: Täter vernetzen sich über Telegram

Die Secondhand-Plattform Vinted ist für viele eine harmlose Verkaufshilfe. Doch eine investigativ-journalistische Zusammenarbeit zwischen dem Norddeutschen Rundfunk (NDR), dem Westdeutschen Rundfunk (WDR) und der Süddeutschen Zeitung (SZ) legt offen, wie aus der Plattform ein Ort digitaler Übergriffe geworden ist.
Vinteds Tragebilder: Harmlos gemeint, dennoch missbraucht
Was als Community-Feature gedacht ist, wird zur Schwachstelle. Nutzer:innen stellen Tragebilder ihrer Kleidung ein – etwa um zu zeigen, wie ein Kleid fällt oder wie eine Hose sitzt. Doch wer durchscrollt, scrollt nicht immer nur mit Kaufabsicht.
In einem Telegram-Kanal mit dem Namen „Girls of Vinted“ sind Hunderte dieser Bilder gelandet. Ohne Wissen der Abgebildeten. Kommentiert mit Flammen-Emojis. Verlinkt mit Profilen. Eingebettet in einen digitalen Raum, der kaum reguliert ist.
Vinted und die Schattenseite der Plattformlogik
Vinted, vormals als Kleiderkreisel bekannt, ist eine Plattform aus Vilnius, der Hauptstadt Litauens, die nach eigenen Angaben über 65 Millionen Nutzer:innen weltweit zählt, davon mehrere Millionen auch in Deutschland. Sichtbare Wohnorte, Klarnamen, direkte Nachrichten – vieles davon ist gewollt, weil es Vertrauen schaffen soll.
Doch in der Praxis entsteht daraus eine gefährliche Transparenz. Wer gezielt nach Nutzer:innen sucht, kann sie wiederfinden. Wer Bilder abspeichern will, kann das. Und wer Grenzen überschreitet, wird nur selten sofort gestoppt.
Und wieder: Telegram als Parallelwelt
Dass Telegram, die Plattform mit offiziellem Sitz in Dubai in den Vereinigten Arabischen Emiraten, wieder einmal Teil dieser Geschichte ist, überrascht kaum. In der Vergangenheit bot der Messenger-Dienst schon rechtsextremen Gruppen, Verschwörungsideolog:innen und Pornoringen einen Rückzugsraum.
Dieses Mal „Girls of Vinted“: ein Kanal, betrieben von einer angeblichen Frau aus dem italienischen Mailand, die zugleich sexuelle Dienstleistungen anbietet. Die Bezahlung läuft über In-App-Währungen. Der Kontakt ist automatisiert. Die Bilder sind öffentlich.
Papiertiger-Gesetz und Regulierung treffen auf Realität
Rechtlich ist der Fall klar umrissen – zumindest in der Theorie. Die unerlaubte Weiterverbreitung von Tragebildern kann einen Verstoß gegen das Recht am eigenen Bild darstellen und damit Persönlichkeitsrechte verletzen. Auch datenschutzrechtlich ist die Weitergabe personenbezogener Inhalte ohne Einwilligung unzulässig.
Doch was auf dem Papier eindeutig wirkt, ist in der Praxis schwer durchzusetzen. Gegen Administrator:innen vorzugehen, deren Identität verschleiert ist, erweist sich oft als nahezu unmöglich. Und wer Telegram belangen will, stößt schnell an internationale und rechtliche Grenzen.
Der Digital Services Act der Europäischen Union greift theoretisch. In der Praxis jedoch bleibt die Umsetzung zäh. Telegram verweist auf interne Moderationsteams, Vinted auf seine Meldefunktion – und viele Betroffene stehen zwischen den Zuständigkeiten.
Vinteds „Null Toleranz“ bleibt deklaratorisch
Ganz besonders betont das litauische Unternehmen seine Null-Toleranz-Politik. Accounts mit anzüglichen Nachrichten würden gesperrt – innerhalb von Tagen. Für Betroffene ist das allerdings kein Trost, zumal es auch nicht immer zu stimmen scheint. Denn der nächste übergriffige Account wartet oft schon im Posteingang.
Vinted empfiehlt, sich direkt an die Drittplattformen zu wenden, wenn eine Weiterverbreitung von Bildern bemerkt wird. Doch damit beginnt ein mühseliger Weg durch Screenshots, Supportformulare und die eigene Scham.
Telegram löscht „Girls of Vinted“
Die angebliche Betreiberin des Telegram-Kanals sagt, sie habe den Betroffenen mehr Sichtbarkeit verschaffen wollen. Dass Sichtbarkeit in diesem Fall bedeutet, zur Zielscheibe zu werden, lässt sie unbeantwortet. Der Kanal ist inzwischen durch Telegram selbst gelöscht worden. Der Schaden bleibt.
Auch bei Vinted-Nutzer:innen hinterlassen die Vorfälle Spuren. Einige berichten, dass sie keine Tragebilder mehr hochladen. Andere löschen ihre Accounts ganz.
Plattformverantwortung endet nicht beim Meldebutton
Vinted ist nicht allein mit diesem Problem. Auch Instagram, Tiktok oder Ebay Kleinanzeigen kennen Grenzverletzungen, Übergriffigkeit – und Algorithmen, die Sichtbarkeit oft nicht nach Sicherheit, sondern nach Reiz bewerten.
Doch es reicht nicht, Inhalte im Nachhinein zu löschen oder Accounts zu sperren. Plattformen, die Profite mit Nähe, Sichtbarkeit und Interaktion machen, müssen Schutz nicht als Feature begreifen – sondern als Grundfunktion.
Die Recherche des NDR, WDR und der Süddeutschen Zeitung zeigt, wie tief die Lücke zwischen digitaler Selbstverständlichkeit und strukturellem Schutz noch immer ist. Wer heute über Plattformökonomie spricht, muss auch über Verantwortung sprechen – nicht nur in der Theorie, sondern im Code und in der Architektur.