Mit Virtual Reality gegen das Lampenfieber

Der Hamburger Verlag Dashöfer präsentiert in diesen Tagen eine neue Software, die Menschen die Angst vor einem öffentlichen Auftritt nehmen soll. Easyspeech ist ein Training in Virtual Reality. Der Speaker konfiguriert sich eine virtuelle Umgebung und ein Publikum und hält dann seinen Vortrag. Das Publikum hört entweder aufmerksam zu oder ist abgelenkt. Gelegentlich gibt sogar störende Zwischenrufe oder ein Handy klingelt. Situationen also, die so manchen unsicheren Redner aus der Contenance bringen.
Glossophobie heißt das in der Medizin. Das U.S. National Institute of Mental Health hat berechnet, dass 74 Prozent aller Amerikaner nicht gerne vor Menschen sprechen. Und 3,2 Millionen, also etwa ein Prozent der Bevölkerung, hat generell Angst vor Menschenmengen und vollen Plätzen.
Easyspeech ist eines von einem knappen Dutzend solcher Werkzeuge, die es inzwischen gibt. Die einfacheren unter ihnen, wie zum Beispiel Beyond Public Speaking von den Beyond VR Studios, arbeiten mit statischen Szenarien und einem eher oberflächlichen Reporting. Die ausgereiften Tools, wie Ovation oder Virtual Speech, sind gar keine Tools, sondern Plattformen, die einem didaktisch aufgebauten Lehrkonzept folgen. Neben dem reinen Simulationsmodus zum unmittelbaren Training eines bestimmten Vortrags haben sie auch Onlinekurse im Programm, die Schritt für Schritt Aussprache, Bühnenpräsenz, Blickkontakt oder sogar den Umgang mit Zwischenrufern lehren.
Ein großer Vorteil der Onlineplattformen besteht außerdem darin, dass man die aufgezeichneten Simulationen auch Trainern, Kollegen oder Freunden zur Verfügung stellen kann, um deren Feedback einzuholen. Eine physische Präsenz beim Speaker ist dafür nicht mehr nötig.
In dieser Liga will auch Dashöfer mitspielen. Die Kurse wurden von einem Sprechtrainer aufbereitet, die KI im Hintergrund kann mit den spezifischen Eigenheiten der deutschen Sprache umgehen und man hat besonderen Wert auf eine gute Optik gelegt, damit das simulierte Szenario möglichst realistisch ist. „Wir haben in den virtuellen Seminarraum keine Avatare, sondern reale Personen projiziert, um eine lebensnahe Situation für die Teilnehmer zu schaffen. Dabei gibt es wie in einem echten Seminar unaufmerksame Zuhörer und Zwischenrufer“, erläutert Fabian Friedrichs, Geschäftsführer von Dashöfer.
Exposure-Therapie
Das Speaker-Training per Virtual Reality ist keine Revolution, sondern der logische nächste Schritt in der Nutzung von VR als Business-Tool. Seit zwanzig Jahren nutzt die Medizin das Simulieren von Stressumgebungen per VR zur Bekämpfung von Symptomen. Wer Höhenangst hat, tastet sich Stufe für Stufe auf das Empire State Building hoch. Wer sich vorm Fliegen fürchtet, kann sogar gemeinsam mit Psychologen den Gang zum Flughafen, durch die Kontrolle und in die Boeing simulieren.
Das Prinzip der Exposure-Therapie, bei dem Patienten wiederholt Stresssituationen ausgesetzt werden und dadurch sukzessive die Angst davor verlieren, ist hinlänglich erforscht. Die Angst vor Spinnen lässt sich so reduzieren. Und Psychologen berichten, dass traumatisierte Soldaten aus dem Irak-Krieg sich erst dann für eine Therapie öffnen konnten, als man sie virtuell zurück in den Krieg versetzt hatte.
Auf der Grundlage dieser Erfahrungen präsentierte Albert „Skip“ Rizzo, Professor am Institute of Creative Technology an der University of Southern California, schon 2014 die erste Variante von Vita, dem Virtual Training Assistant. Der sollte zum Beispiel mit autistischen Jugendlichen Dialoge trainieren, etwa für ein Bewerbungsgespräch. Heute hilft Vita auch Strafgefangenen, sich auf das Leben da draußen vorzubereiten.
Josephine Lee, eine Sprechertrainerin, die unter anderem auf Ted-Konferenzen über die „Macht des gesprochenen Wortes“ erzählt, antwortet fast immer gleich, wenn sie gefragt wird, wie man ein guter Sprecher wird: üben, üben, üben. Lee sagt, dass es um weit mehr geht, als das Timing zwischen den Folien oder das Finden der richtigen Vortragslänge. „Wer vor Publikum übt, bekommt eine Art „Muskel-Gedächtnis für Stresssituationen“, so Lee. Der Körper gewöhnt sich an die überraschende Adrenalin-Ausschüttung und zeigt weniger Symptome. Außerdem lässt sich der Umgang mit spezifischen Störungen, wie etwa Zuschauern, die den Raum verlassen, oder Handys, die klingeln, konkret einüben.
Die individuelle Lernkurve
Es geht beim VR-Training also um deutlich mehr als um die Verringerung von Lampenfieber. Tools wie Easyspeech zeichnen den Vortrag auf und analysieren diesen. Benutzt man zu viel Füllworte? Verteilt man den Blick gleichmäßig über das Publikum? Spricht man zu schnell? All diese Parameter werden ausgewertet und in einem Report zusammengefasst. Der Trainierende kann sich dann daran machen, einzelne Disziplinen gezielt zu verbessern.
Und dabei findet jeder seinen eigenen Weg. Wer sich in das Szenario einfühlen möchte, dem sei dieser schöne Artikel von Lauren Mechling ans Herz gelegt. Die Buchautorin arbeitet am liebsten im stillen Kämmerlein, musste aber für eine Buchpräsentation vor Publikum sprechen. Sie trainierte, indem sie im (virtuellen) Publikum eine sympathische Person ausmachte und vorrangig zu dieser sprach. Dadurch „übersah“ sie die negativen Reaktionen anderer Zuhörer und lies sich nicht aus dem Konzept bringen. Und tatsächlich konnte Lauren exakt diese Technik dann auch live anwenden.
Wer selbst seine Speakerfähigkeiten verbessern und seine Bühnenangst verlieren will, dem sei zumindest der Test mit einer der unterschiedlichen VR-Umgebungen anzuraten. Voraussetzung ist der Besitz einer VR-Brille. Für Ovation braucht es die Oculus Rift, die HTC Vive oder Windows Mixed Reality. Easyspeech von Dashöfer läuft auf der günstigen Oculus Go, ebenso wie das Samsung-Angebot namens Be Fearless und Virtual Speech.
Die Auswahlkriterien für ein gutes Training sollten sein:
- Upload der eigenen Präsentation
- Zumindest rudimentäre Konfiguration der Auftritts-Umgebung
- Variables Akzeptanzniveau des Publikums
- Aufzeichnung des Vortrags
- Analyse und Reporting vor allem auch auf Grundlage der deutschen Sprache
Optionale Kriterien sind:
- Integration der Bewegung der Hände
- Präsentationstools wie Laserpointer, Mikrofon und Co.
- Ein konfigurierbares Setup an Publikumsfragen
Die optische Darstellung des Publikums und der Räumlichkeiten ist nicht das primäre Qualitätsmerkmal, auch wenn man dazu neigt, besonders darauf zu achten. Aber die letzten Jahre Erfahrung mit VR haben gezeigt, dass auch einfache grafische Umgebungen einen User in den Bann ziehen können, vor allem, wenn er sich emotional mit der Handlung verbindet. „Die wissen genau, dass sie eine Simulation sehen, aber der Stress, den sie erleben, ist so real, viele fangen zu weinen an“, sagt Skip Rizzo beispielsweise über die Zusammenarbeit mit traumatisierten Soldaten.