Ich habe einen virtuellen Supermarkt eröffnet und die Kunden haben mich echt zur Verzweiflung getrieben
Eine Kunde tritt an das Kassenband. Er kauft lediglich eine Dose Bohnensuppe und ein Päckchen Mehl für zusammen 4,98 Dollar. Ich ziehe die Produkte über den Scanner und der Herr lässt verkünden: „Ich glaube, ich bezahle heute mit Karte.“ Statt sein Versprechen wahrzumachen, hält er mir Bargeld hin: zehn Dollar. Ich gebe ihm kurzerhand das Wechselgeld in Cent-Stücken zurück. 502 Pennies, um genau zu sein. Er verlässt den Supermarkt, wahrscheinlich mit schweren Hosentaschen und einer Lektion übers Lügen.
Der nächste Kunde tritt an die Kasse heran und lässt eine Packung Chips darauf stehen. Warenwert: 1,99 Dollar. Er zahlt bar mit einem 100-Dollar-Schein. Mein genervter Blick wandert zu seinem ausdruckslosen Gesicht. Offenbar hat er die Transaktion und vor allem die zugehörige Lektion nicht ganz mitbekommen. Ich beginne langsam damit, Cents herauszukramen und bereite mich auf eine Sehnenscheidenentzündung vor.
Willkommen im letzten Supermarkt der Erde
Nein, das habe ich natürlich nicht an einem echten Kassenband eines Supermarktes mit echten Kund:innen gemacht. Das alles fand im Grocery Store Simulator statt, der auf Steam im Early Access erschienen ist. Nach einiger Zeit mit dem Simulator hätte ich aber ein uneingeschränktes Verständnis dafür, wenn reale Verkäufer:innen solche Aktionen mit Kund:innen veranstalten, die frech werden oder herummeckern.
Doch von Anfang an: In Grocery Store Simulator eröffne ich meinen eigenen Supermarkt. Ich muss mich um Warennachschub kümmern, ausreichend Regale und Kühlschränke bereitstellen sowie Preise festlegen und am Ende Kund:innen abkassieren. Das klingt nach viel? Ist es auch. Wenn der Grocery Store Simulator mir in den ersten Minuten eine Lektion erteilt hat, dann dass der Einzelhandel eine anstrengende Arbeit ist, wenn man alles allein bewältigen muss. Denn schon kurz nachdem die Schiebetüren meines Supermarktes öffnen, strömen die Kund:innen herein.
Mit Mach-3-Geschwindigkeit sprinte ich zwischen Kasse, dem Lager und den Regalen hin und her. Kurze Zwischenstopps am Computer im Lager sind einkalkuliert. Schließlich muss ich noch Waren nachordern. Die Kund:innen sind unersättlich, wollen immer mehr Dosenbohnen und sind verrückt nach Chips. Wäre Regale auffüllen, Warenlieferungen annehmen und Abkassieren eine olympische Disziplin, hätte ich eine Chance auf eine digitale Goldmedaille. Auch wenn die leeren Warenkartons im Eingangsbereich und Lager wohl Abzüge in der B-Note einbringen würden – wer hat schon Zeit, die wegzuschmeißen, wenn Kund:innen an der Kasse mit den Füßen scharren?
Dass so viele Kund:innen meinen Supermarkt besuchen, ist bemerkenswert. Denn er steht mitten im Nirgendwo. Vom Parkplatz aus sehe ich lediglich Wüste, einige karge Hügel und nichts weiter außer einer weit entfernten Stadt am Horizont. Doch wenn mein Supermarkt öffnet, dann pilgern alle Bewohner:innen dieser weit entfernten Metropole zu mir. Sie müssen stundenlang und kilometerweit reisen, um meine Waren zu kaufen – nein, um sie mir aus den Händen zu reißen. Ich vermute inzwischen, dass ich den einzigen Supermarkt im Umkreis von mindestens 1.000 Kilometern betreibe. Vielleicht auch den letzten Supermarkt der Welt?
Mein Supermarkt in Grocery Store Simulator kennt auch keine Öffnungszeiten, was zusätzlich für das dystopische Setting spricht. Ich kann lediglich einen großen roten Knopf drücken, um den Kund:innen mitzuteilen, dass der Kaufrausch – oder besser gesagt ich – eine Pause macht. Gäbe es eine simulierte Gewerkschaft, würde diese die virtuellen Hände über den Pixelköpfen zusammenschlagen. Bis diese aber ins Spiel implementiert wird, bleibt mir nur, auch Kund:innen zu bedienen, die kurz vor Mitternacht eine Packung Mehl kaufen wollen.
Warum die Gameplay-Karotte vor der Nase fehlt
Lohnt sich der spielerische Aufwand wenigstens? Je mehr Geld ich durch verkaufte Produkte anhäufe, desto weiter kann ich den Supermarkt ausbauen. Und damit ist nicht nur der Platz für neue Regale gemeint, den ich durch Upgrades bekomme. Mit dem Geld kann ich auch neue Produktpaletten freischalten, um Kund:innen andere Produkte zu bieten – beispielsweise gekühlte Getränke sowie frisches Obst und Gemüse.
Auf dem Papier klingt das nach Abwechslung und einem langfristigen Ziel. Allerdings verfliegt die Motivation spätestens nach dem zweiten oder dritten Upgrade. Ist es wirklich ausschlaggebend, dass ich den Kund:innen jetzt abgepackten Kuchen verkaufe statt weiterhin Kekse aus der ersten Produktcharge? Manche Produkte, die ich erst später freischalte, bringen sogar weniger Gewinn als die anfänglichen Lebensmittel. Will ich mehr Gewinn aus Bier und Milch herauskitzeln, beschweren sich die Kund:innen über die Preise und verlassen den Laden unverrichteter Dinge, um den stundenlangen Heimweg anzutreten. Immerhin ist die Reaktion auf horrende Preise realistisch simuliert.
Übrigens: Meine Erlebnisse im Handwerkersimulator und warum ich besser keinen handwerklichen Beruf ergreifen sollte, lest ihr im verlinkten Artikel.
Was habe ich vom Grocery Store Simulator gelernt?
Der Grocery Store Simulator hat mir hauptsächlich eines beigebracht: Simulatoren sollten auch ein Stück der echten Welt simulieren. Wie schon erwähnt, befindet sich das Spiel noch in einer frühen Phase und der Entwickler hinter dem Projekt gibt sich Mühe, möglichst schnell neue Inhalte und Verbesserungen zu liefern. In seiner rohen Form zeigt Grocery Store Simulator aber, dass Simulatoren ohne Simulation eher für Slapstick sorgen als für echten Spielspaß.
Das beginnt schon bei den fehlenden Öffnungszeiten für den Supermarkt und es erstreckt sich weiter über Kund:innen, die mit Karte zahlen wollen, aber dann Bargeld zücken. Und obwohl mir meine Arbeitsmoral gelegentlich entgleist, bleiben wutentbrannte Reaktionen der Kund:innen aus. Sei es, weil sie durch unzählige Kartons stapfen müssen, um zu den Regalen zu kommen oder weil ich sie zehn Minuten warten lasse, während ich in der echten Welt ein Päuschen einlege. Dennoch bedanken sich gleich mehrere Kund:innen für das schnelle Abkassieren und den guten Service.
Auch wenn es manche Spiele gibt, deren Realismus schon kritisiert wurde, braucht es doch für Simulatoren ein paar Anker aus der realen Welt. Allein schon, um ein Spiel glaubwürdig zu machen. Und wenn es diese Bezüge zur realen Welt nicht gibt, muss die fiktive Welt diese Regeln selbst setzen. Ohne diese Grenzen herrscht Chaos vom Kühlregal bis hin zur Kasse – und schnell Langeweile vor dem Bildschirm. Grocery Store Simulator benötigt diese Regeln noch. Und dann kann das Spiel womöglich auch das sein, was es sein will: ein Simulator.
Könnt ihr die Artikel nicht mit und ohne gendern schreiben und dann umschaltbar machen? Das ist so ätzend zu lesen :|