Es ist Heiligabend irgendwo in Deutschland. Draußen schneit es, drinnen glimmt ein Kaminfeuer. Die Stube ist weihnachtlich geschmückt, ein festlich geschmückter Weihnachtsbaum darf natürlich auch nicht fehlen. Die Kinder sind bereits im Bett. Ihre Eltern sind noch wach – in Vorbereitung auf die Bescherung am Weihnachtsmorgen legen sie Geschenke unter den Baum. Und sie fügen das letzte Teil zur Weihnachtsbaumdekoration hinzu: die Weihnachtsgurke, ein gläserner Baumschmuck in Form einer sauren Gurke. Grün wie der Weihnachtsbaum selbst, ist sie schwierig zu entdecken, auch weil die Eltern sich extra Mühe geben, die Gurke gut im Geäst der Tanne zu verstecken. Am Weihnachtsmorgen würden die Kinder sich auf die Suche nach der Weihnachtsgurke begeben – und das Kind, das den besonderen Baumschmuck zuerst fände, würde ein zusätzliches Geschenk erhalten.
Über eine gute Geschichte, neudeutsch Storytelling, lässt sich fast alles verkaufen. Steiffs erster Bär zum Beispiel: Ursprünglich ein Flop, wurde er erst in Verbindung mit der Geschichte von Theodore Roosevelts gescheiterter Bärenjagd zum Erfolg.
What? 🧐
Zurück zur Gurke: In Deutschland kennt die Weihnachtsgurke außerhalb des thüringischen Lauscha, wo der Baumschmuck auch heute noch produziert wird, kaum jemand. Der Brauch vom Verstecken der Gurke ist in Thüringen wohl bekannt, gilt dort allerdings als amerikanische Tradition. Unstimmigkeiten bei der Beschreibung hiesiger Gepflogenheiten, zum Beispiel, was den Zeitpunkt der Bescherung angeht, nehmen der Geschichte zusätzliche Glaubwürdigkeit.
In amerikanischen Haushalten – besonders in solchen, die sich aufgrund ihrer Familiengeschichte mit Deutschland verbunden fühlen – fand die Story von der deutschen Tradition der sogenannten Christmas Pickle Anklang – und die gläserne Gurke regen Absatz. Auch heute noch kann man die Gurke kaufen. Ihr liegt typischerweise eine Karte bei, die Käufer an die vermeintliche deutsche Weihnachtsgurken-Tradition erinnert.
Nur, woher kommt die Story?
Um die Entstehung der Legende von der Weihnachtsgurke ranken sich einige Mythen. Dass es sich dabei um eine Marketing-Erfindung handelt, ist wahrscheinlich die plausibelste: Ein Woolworth-Salesman hat sich die „Tradition“ Ende des 19. Jahrhunderts ausgedacht, um den Gurkenbaumschmuck zu vermarkten, der sich – im Gegensatz zu den gläsernen Früchten, Keksen, Figuren und Kugeln, die der amerikanische Retailriese aus Deutschland importiert hatte – leider überhaupt nicht verkaufte. Möglicherweise aufgrund der Farbe. Grüner Schmuck in einem grünen Baum – eigentlich sind an dieser Stelle keine weiteren Fragen offen. Mittlerweile ist die Gurke schon lange ein Selbstläufer. In verschiedenen Ausführungen erhältlich, gibt es sie überall zu kaufen.
McDonald’s greift die Gurke auf
Auch in Deutschland wird die Gurke immer bekannter, auch aufgrund eines kürzlich gelaunchten Werbespots der Fastfoodkette McDonalds. Der Star des Spots: die Weihnachtsgurke. Auf die undurchsichtige Geschichte des gläsernen Gemüses geht der Werbefilm allerdings mit keiner Silbe ein.
Woher die Geschichte schlussendlich stammt, wird sich wahrscheinlich nie abschließend aufklären lassen. Aber selbst, wenn alles daran erfunden sein sollte, ist die Weihnachtsgurke ein Paradebeispiel dafür, dass Geschichten nicht wahr sein müssen, um Produkte zu verkaufen, die andernfalls gefloppt wären.
Kommt es beim Storytelling denn auf einen unbedingten Wahrheitsgehalt an? Oder liegt der Kniff nicht vielmehr in der Geschichte als solches? Auch wenn mir die Gurke sowas von egal ist: gut verpackt s̴c̴h̴m̴e̴c̴k̴t̴ ̴s̴i̴e̴ ̴ kommt sie trotzdem gut an. Frohe Weihnachten <;o)