
Für Robert Amlung begann alles mit einem Video auf der Website des US-amerikanischen Fernsehsenders CBS: „Es kam in Briefmarkengröße durch die Analogleitung und ruckelte furchtbar“, erzählt der 53-Jährige und signalisiert mit Daumen und Zeigefinger, wie eng die Leitung gewesen sein muss. Für Amlung, heute Digitalexperte des ZDF, war dieser Moment Mitte der 1990er-Jahre ein Schlüsselerlebnis: „Das Internet wurde videofähig. Das betraf unser Kerngeschäft“, erzählt er. Amlung, zu dieser Zeit Redakteur bei der ARD, begann, in seiner Freizeit ein Konzept zu entwickeln und Vorgesetzte von der Wichtigkeit einer eigenen Website zu überzeugen. 1996 ging dann die erste Version von tagesschau.de live.
„Anfangs haben wir nur die 20-Uhr-Sendung im Netz abgebildet“, erinnert er sich. „Wir hatten eine textlastige Startseite mit ein paar kleinen Bildern, die Themen gelistet und die Videos der Sendung verlinkt hat.“ Aus heutiger Sicht die pure Nostalgie. Wer sich 2019 auf die Internetpräsenz der ARD begibt, findet von Livevideos und Mediathekaufzeichnungen, von Kommentaren und Reportagen bis hin zu Zusatzinformationen und Making-of-Videos eine wahre Fülle von Bewegtbildinhalten, die das ganze Arbeitsspektrum des Fernsehnetzwerks digital abbilden. Aus der anfänglichen Vernarrtheit eines jungen Redakteurs ist ein völlig neuer Service entstanden, der die Tagesschau früher als andere Fernsehsender ins Internetzeitalter gebracht hat.
Robert Amlung ist das, was man einen Überzeugungstäter nennen würde. In einer Zeit, in der nur die wenigsten Bundesbürger ahnten, welche Chancen das Internet mit sich bringen würde, erkannte er früh das Potenzial für die deutschen Rundfunkanstalten und war voller Elan, auch intern richtig Druck zu machen: „Das war eine enorm faszinierende Zeit“, sagt er rückblickend. Menschen wie er, die aus einer Leidenschaft heraus im Unternehmen selbst unternehmerisch aktiv werden, nennt man Intrapreneur. Wer Anglizismen meidet, redet lieber vom internen Unternehmer. Der Begriff wurde erstmals 1978 vom US-Amerikaner Gifford Pinchot III und Elizabeth S. Pinchot in ihrem Aufsatz „Intra-Corporate Entrepreneurship“ geprägt. Darin beschreibt das Ehepaar ein typisches Problem wachsender Unternehmen: „Sie werden so groß, dass die Manager, die Entscheidungen treffen, häufig von der persönlichen Kenntnis der zu lösenden Probleme isoliert sind.“ Sie seien zu sehr damit beschäftigt, Ressourcen und Abläufe zu organisieren, sodass sie anfingen, den Blick für Innovationen zu verlieren.
Eine Problembeschreibung, die auch heute noch gilt. Die Konzernwelt reagiert darauf mithilfe verschiedener Methoden. Ein wichtiges Instrument ist beispielsweise die Vernetzung mit Gründern und die Übernahme aufstrebender Firmen zum richtigen Zeitpunkt. Sich die Kompetenzen anderer einzuverleiben, ist gängige Praxis – so wie sich ein Fußballverein neue Spieler einkauft, kauft ein Konzern auch andere Firmen auf, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Doch die Impulse müssen auch aus dem Inneren herauskommen. Die Volkswagen AG hat im Geschäftsjahr 2017/2018 beispielsweise 5,7 Prozent des Umsatzes in die Forschung und Entwicklung fließen lassen. Angesichts dessen, was große IT-Konzerne abzweigen, ist das noch verhältnismäßig wenig: So hat Amazon im selben Geschäftsjahr 12,7 Prozent seines Umsatzes reinvestiert, Google-Mutter Alphabet sogar 14,6 Prozent. Viel Geld also, das die großen Konzerne bereitwillig ausgeben, um den eigenen Erfolg langfristig zu sichern.

Felix Plötz glaubt, die Zeit der Intrapreneure ist gekommen. (Foto: Heiner Hänsel)
„In vielen Firmen können engagierte Mitarbeiter schon früh beweisen, was sie unternehmerisch draufhaben.“
Felix Plötz Gründer und Buchautor
Gifford und Elisabeth Pinchot zeigen in ihrem Aufsatz einen weiteren Lösungsansatz auf, den ihrer Ansicht nach viele Führungskräfte häufig übersehen: An neuen Ideen mangele es meist auch in den Köpfen der eigenen Mitarbeiter nicht – und diese seien in der Regel um einiges günstiger zu bekommen. So wichtig Investitionen in Übernahmen und Innovationslabore auch seien: Wer den Entdecker- und Unternehmergeist der Angestellten nicht würdige, lasse viel Potenzial ungenutzt, so die Autoren. „Intrapreneure sind Mitarbeiter, die für Unternehmensinnovationen das tun, was ein Unternehmer für sein Startup tut“, heißt es in dem Aufsatz. Seit ihrer Arbeit sind mehr als 40 Jahre vergangen. Und dennoch hat die Beobachtung der Pinchots bis heute Bestand: Nur eine Minderheit der deutschen Unternehmen setzt derzeit auf die Kreativität der eigenen Mitarbeiter, wenn es um die Suche nach neuen Geschäftsideen geht.
Nach einer repräsentativen Bitkom-Umfrage aus dem Jahr 2018 haben gerade einmal sieben Prozent der Unternehmen ab 20 Mitarbeitern spezielle Programme oder Projekte zur Förderung internen Unternehmertums angestoßen, in kleineren Betrieben mit 20 bis 99 Mitarbeitern setzen sogar nur sechs Prozent dieses Instrument ein. In mittelständischen Unternehmen mit 100 bis 499 Mitarbeitern nutzen 14 Prozent Intrapreneurship. Nur in Großunternehmen mit 500 und mehr Beschäftigten fördern schon 22 Prozent entsprechende Projekte. „Die Digitalisierung erfordert von allen Unternehmen, ihre bisherigen Geschäftsmodelle auf den Prüfstand zu stellen und neue Ideen zu entwickeln“, erklärt Bitkom-Präsident Achim Berg. „Unternehmen sind gut beraten, ihr wichtigstes Kapital mit einzubeziehen: die eigenen Mitarbeiter.“
Felix Plötz würde es wohl genauso formulieren. Der Gründer und Autor beschäftigt sich in seinem aktuellen Buch „Das Ende der dummen Arbeit“ eingängig mit dem Thema Intrapreneurship. Die Zeiten für interne Unternehmer seien aktuell nahezu perfekt, sagt er – und argumentiert vor allem mit dem Wegbrechen der mittleren Managementebene. „Es gibt weniger Chancen auf einen Aufstieg, wenn Hierarchien bröckeln“, erklärt er. „Die Menschen müssen andere Möglichkeiten nutzen, um sich eine Karriere aufzubauen.“ Den Schlüssel sieht der Experte im unternehmerischen Handeln des Einzelnen innerhalb der Organisation. Etwas, das Angestellte seiner Meinung nach in den klassischen Karrieretunneln vergangener Jahre nicht tun mussten: Früher, so Plötz, hätten Berufstätige sich mit den Jahren einfach hochgedient. Darauf könne man sich heute jedoch nicht mehr ausruhen.
Darin liege weniger ein Nachteil, sondern vielmehr eine Chance für den Einzelnen, urteilt Plötz: „In vielen Firmen können engagierte Mitarbeiter schon sehr früh beweisen, was sie unternehmerisch draufhaben“, erklärt er. Und entsprechend schnell einen eigenen Verantwortungsbereich erhalten. Vor allem Startups böten ihren Angestellten die Möglichkeit, Unternehmer im Unternehmen zu werden. Als Intrapreneure hätten sie dort enorme Freiheiten. „In diesen smarten Organisationen zählt nicht, wie hoch du bereits auf der Karriereleiter emporgestiegen bist oder wer die imposantesten Powerpoints malt, sondern wer wirklich Werte schafft – beispielsweise durch neue Produkte, Services und Geschäftsbereiche.“ Interne Unternehmer wie Robert Amlung haben laut Plötz schon vor Jahren gezeigt, in welche Richtung die Arbeitswelt sich bewegt. Er plädiert dafür, dass Berufstätige umdenken und sich mehr wie der ZDF-Digitalexperte verhalten sollten, anstatt darauf zu warten, planmäßig befördert zu werden. Doch auch Unternehmen müssen in seinen Augen besser darin werden, Intrapreneurship zu fördern.

Vater von Tagesschau.de: Robert Amlung. (Foto: Rico Rossival)
„Wenn der Chef nur Manager und nicht auch ein bisschen Nerd ist, sieht es schlecht mit der Innovation aus dem Inneren aus.“
Robert Amlung Digitalexperte, ZDF
Von Startups lernen, das sollen vor allem Konzerne. Und da stimmt er mit dem Ehepaar Pinchot überein. Immerhin seien es die Dynamiken der Jungunternehmen, die in der Lage sind, etablierte Branchen auf den Kopf zu stellen. Kaum etwas fürchten die Großen so sehr wie die Disruption ihres Geschäftsmodells. Plötz lobt deshalb auch die Deutsche Bahn. Das Unternehmen hat 2016 das Programm „DB Intrapreneurs“ ins Leben gerufen, das allen 320.000 Mitarbeitern offensteht. „Es ist völlig egal, ob es sich um eine hochdekorierte Führungs- oder eine Reinigungskraft handelt. Wenn es ihre Idee schafft, ins Programm aufgenommen zu werden, sind alle Mitarbeiter gleich und hierarchielos“, erklärt der Experte. Der Konzern schult die Intrapreneure in Startup-Methoden wie Design Thinking und stellt sie bis zu hundert Prozent von ihrer eigentlichen Tätigkeit frei – zunächst mit Rückkehrrecht auf ihre alte Position. Bisher wurden über 80 Geschäftsideen eingereicht, darunter die Elektrolastenräder We Colli.
Ein beachtenswerter Einsatz – ob er Früchte trägt, hängt allerdings stark davon ab, ob es in der Unternehmenskultur und insbesondere auch in der Führungsebene genug Freiraum gibt, um den eingebrachten Ideen wirklich eine Chance zu geben. Intrapreneur Robert Amlung formuliert das so: „Wenn oben ein Manager sitzt, der sagt: ‚Ist mir doch egal, ob da ein uralter IC oder ein nagelneuer ICE 4 auf Interregio fährt – Hauptsache er kommt an’, dann wird das beste Intrapreneurship-Programm nichts bringen.“ Amlung spricht aus Erfahrung: Auch er stieß bei seinem Vorhaben anfangs auf Widerstände. Während sein Chefredakteur schnell von der Idee einer Website begeistert war, halfen auf der nächsten Ebene, beim Programmdirektor, alle Argumente und selbst die von Amlung in penibler Kleinarbeit erarbeiteten Wireframes nichts: Das Vorhaben wurde abgeschmettert. „Da hieß es zunächst: ‚Was soll der Scheiß’“, erinnert er sich.
Amlung gab trotzdem nicht auf, investierte weitere Zeit in seine Idee. Gemeinsam mit seinem Chefredakteur überlegte er, wie sich der Grundgedanke noch besser vermitteln lasse. Der zweite Anlauf gelang, der Programmdirektor gab Amlung erste Ressourcen für sein Projekt frei. Amlung wertet die Unterstützung seines direkten Vorgesetzten damals als erfolgsentscheidend: Hätte sein Chefredakteur das Potenzial der Idee nicht so schnell verstanden, wäre er wohl nie so weit gekommen. Amlung ist sicher: „Wenn der Chef nur Manager und nicht wenigstens auch ein bisschen Nerd ist, sieht es schlecht mit der Innovation aus dem Inneren heraus aus.“
Eine Aussage, die Kodak am eigenen Leib spüren musste. Mehr als ein Jahrhundert war das Unternehmen der Marktführer bei Kameras und Filmmaterial. Das Geschäft, das allein auf analoges Fotografieren und Filmen ausgelegt war, kam mit der Digitalisierung jedoch ins Straucheln. 2012 meldete die Firma sogar Insolvenz an. Besonders bitter daran: Schon im Jahr 1974 entwickelte der junge Kodak-Ingenieur Steve Sasson die erste digitale Kamera der Welt, jahrelang verdiente der Konzern kräftig an dem Patent. Nur selbst einsteigen wollten die Geschäftsführer in das Segment nicht, weil sie das etablierte und ertragreiche Geschäftsmodell nicht kannibalisieren wollten. Man verdiente ziemlich gut. Als der Groschen jedoch fiel, fotografierte bereits die ganze Welt digital und Kodak hatte den idealen Zeitpunkt für den Markteintritt lange verpasst. Ein Paradebeispiel für „Intrapreneurship done wrong“.

Michael Faust glaubt, dass Intrapreneurship ein wiederkehrender Hype ist. (Foto: Universität Göttingen)
„Nur temporäre und kleine Organisationen können ständig agil sein.“
Michael Faust Soziologe und Arbeitsforscher, Universität Göttingen
So bezweifelt auch der Göttinger Soziologe und Arbeitsforscher Michael Faust nicht, dass in Intrapreneurship-Programmen durchaus Potenzial schlummert. Trotzdem plädiert er dafür, das Thema deutlich unaufgeregter zu betrachten. Auf den aktuellen Intrapreneurship-Hype blickt er nach eingehender Forschung recht nüchtern: „Dass Unternehmen sich ständig reorganisieren müssen, liegt auf der Hand“, erklärt er. In den 1970ern sei es um die Revitalisierung bürokratischer Prozesse gegangen, in den 1990ern um die Dezentralisierung im Rahmen einer zunehmend globalisierten Wirtschaft. Aktuell sei es vor allem die Digitalisierung, die eine neue Form von Innovationsgeist fordere. Irgendwann setze jedoch auch wieder eine Ernüchterung ein. „Die Digitalisierung scheint mehr Anlass als Ursache der neuen Welle“, sagt Faust. Für ihn gibt es kein Entweder-oder. Nichts, worauf Unternehmen ihre Strategie oder Mitarbeiter ihre Karriere starr ausrichten sollten.
Er verbindet mit Intrapreneurship vor allem das Streben nach mehr Agilität, ein stetig wiederkehrendes Motiv im Unternehmensmanagement. Dieses Streben, so Faust, finde in Organisationen allerdings immer im Spannungsfeld von Rationalisierung und Kostenberechenbarkeit auf der einen und Unternehmergeist und Innovation auf der anderen Seite statt. „Dieses Spannungsverhältnis ist gewissermaßen unauflösbar. Nur temporäre und kleine Organisationen können ständig agil sein“, erklärt der Wissenschaftler. Die Antwort auf die Frage, wie sich internes Unternehmertum fördern lässt, liegt für Faust vielmehr in „losen Kopplungen“, wie er es beschreibt. Gemeint ist das Zulassen von Entscheidungsspielräumen und kreativem Ausprobieren der Mitarbeiter in wichtigen Schlüsselfunktionen. Außerdem sieht er großes Potenzial im Abschaffen oder zumindest Abschwächen rigider Beurteilungssysteme: Denn diese verkürzten den Blick der Menschen nur und führten zu oft zu kurzfristiger Erfolgsorientierung.
Hypes und Programme hin oder her: Internes Unternehmertum kann nur dort gelingen, wo der Hunger auf Fortschritt fest in der DNA der Organisation festgeschrieben steht. Wer keiner Vision folgt, kann weder große Hoffnungen erfüllen, noch große Vorhaben verwirklichen. In deutschen Unternehmen, die sich bislang noch nicht mit Intrapreneurship beschäftigt haben, basiert das laut Bitkom vor allem auf zwei Hauptgründen: Das Konzept ist unbekannt (46 Prozent) oder es wird darin kein Sinn gesehen (30 Prozent). Beide Argumente sollten Führungskräfte dringend angehen, wenn sie nicht Gefahr laufen wollen, die Zukunft zu verpassen.
Was jedes Unternehmen zudem tun kann: Der Bildung von Projektteams zustimmen, die sich zeitweise aus dem Tagesgeschäft herausziehen können, und ihnen Budgets, Räume und technische Geräte zur Verfügung stellen. Wer die Fähigkeiten der einzelnen Intrapreneure verbessern will, kann regelmäßige Weiterbildungen und Coachings anbieten. Das Wichtigste bleibt aber der Rückhalt in der Geschäftsführung, wie der Erfolg von Robert Amlung beim ZDF und der Misserfolg von Steve Sasson bei Kodak beweisen.
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