Mobile only, always on – eine Super-App dominiert Chinas Digitalwirtschaft
Wer Englisch nicht versteht, könnte Bay McLaughlin für einen amerikanischen Fernsehprediger halten, der hektisch auf sein Publikum einredet und es mit eindringlichen Appellen von einem Heilsversprechen überzeugen will. Doch McLaughlin spricht nicht in einer Megachurch, sondern auf dem Tech–Festival South by South West (SXSW) im texanischen Austin – und sein Thema ist kein religiöses Heilsversprechen, sondern ein geschäftliches: Wie so viele blickt der Unternehmer in diesem Jahr nach China und dessen Digitalwirtschaft, die von Unternehmen wie Tencent, Baidu und Alibaba dominiert wird. An die Zuhörer im Saal richtet er den Appell: „Ihr müsst dort hin!“
Lange schauten chinesische Firmen nur Richtung Westen, wenn es um digitale Geschäftsmodelle und Technologien ging – inzwischen hat sich der Wind gedreht. Facebook schaut mindestens so Richtung Fernost wie chinesische Unternehmen in die USA. Und das beschränkt sich nicht auf Chatbots. „Egal ob Clean Tech, autonomes Fahren oder künstliche Intelligenz – der chinesische Markt ist inzwischen in vielen Bereichen mindestens genau so innovativ wie der amerikanische“, sagt Fabian von Heimburg, Mitgründer und Geschäftsführer von Hotnest, eine Big-Data-Werbeplattform mit Sitz in Schanghai.
Die Übernahme von Whatsapp und die Experimente mit Bots könnten ein Anzeichen für Facebooks Blick auf China sein. Während sich im Internet des Westens mit Google und Facebook vor allem Unternehmen als dominante Player durchgesetzt haben, die auf eine Werbefinanzierung setzen, hat sich in China eine sogenannte Super-App durchgesetzt, deren Geschäftsmodell in erster Linie auf Transaktionen basiert: Die Messenger-App Wechat von Tencent.
„Eine Super-Applikation hat ein Ziel“, sagt McLaughlin: „Jeder anderen App den Sauerstoff zum Atmen entziehen“. Chinesen nutzen Wechat für alles, immer und überall – sogar auf dem Laufband im Fitnessstudio. Laut China Internet Watch erreichte Wechat im dritten Quartal vergangenen Jahres 846 Millionen monatlich aktive Nutzer – 768 Millionen davon waren sogar täglich aktiv. „Wechat ist ein soziales Medium – allein deshalb verbringen die Leute massig Zeit damit“, sagt Heimburg.
Wechat ist ein Abbild des digitalen Lebens der Chinesen – eine zentrale Plattform, über die alles zusammenläuft. Über Wechat wird nicht nur privat kommuniziert – die Nutzer bestellen Waren, machen Arzttermine aus, lesen Nachrichten, bezahlen ihre Wasserrechnung, nehmen Kredite auf oder überweisen Geld. Wechat ist in China damit eine Art Facebook, Whatsapp, Paypal, Mytaxi, Amazon und vieles weitere in einem – eben eine Super-App. „Alles ist in Wechat“, sagt McLaughlin.
Der US-Unternehmer mit Wohnsitz in Honkong spricht schnell und ohne Pause: „Facebook kopiert aktiv Tencent und Wechat“, sagt er, „Und wenn Facebook es tut, solltet ihr es auch tun“. McLaughlin, der mal für Apple gearbeitet hat, hat einen Accelarator für Hardware-Startups in Hongkong mitgegründet. Er hat also ein Interesse daran, dass sich westliche Unternehmen von den geschäftlichen Heilsversprechen von Fernost locken lassen.
Doch das Interesse an Chinas Modell der Internetwirtschaft ist auch bei anderen Unternehmen groß. Denn die werbefinanzierten Modelle von Facebook, Google, Twitter und Snapchat haben ihre Schwächen: Die Unternehmen sind von den Werbeausgaben von Unternehmen abhängig, die Nutzung von Netzwerken wie Snapchat und Twitter unterliegt Trends. Ein soziales Netzwerk, das heute angesagt ist, kann bald schon abgemeldet sein.
Chinas Internet-Riesen Tencent und Alibaba setzen dagegen in erster Linie auf Transaktionen – also Online-Käufe – über ihre Plattformen. Nutzer kaufen auf Wechat sowohl virtuelle Güter wie Emoji-Pakete als auch reale wie Schuhe oder Nahrungsmittel – und Dienstleistungen wie Taxis. „Die Leute benutzen Wechat fast schon auf religiöse Art und Weise – so etwas sieht man nicht im Westen“, sagt McLaughlin.
Weil die Digitalisierung Chinas später eingesetzt hat als im Westen, wurde bei der Privatnutzung PC und Laptop fast vollständig übersprungen. In China lautet die Strategie von Wechat-Mutter Tencent daher nicht „mobile first“, sondern „mobile only“. „Insgesamt wird viel mehr online gemacht – und alles fokussiert ausschließlich auf mobile“, sagt Unternehmer Heimburg. „Der PC wird hier außerhalb der Arbeit gar nicht mehr genutzt – egal ob das Streamen von Filmen, die Aufnahme eines Kredits oder der Arzttermin. All das wird alles auf dem Smartphone erledigt.“
Auch weil Wechat von vornherein ausschließlich auf die mobile Nutzung optimiert war, konnte die Plattform schnell ihre dominante Stellung erreichen. E-Commerce-Anbieter wickeln über Wechat nicht nur die Bestellung, sondern auch den Bezahlvorgang und den Kundensupport ab. Der Status als die dominante Online-Plattform im aufstrebenden China ist lukrativ: Derzeit gilt Tencent als profitabelster Tech-Konzern in Asien. 2016 erwirtschaftete das Unternehmen einen Umsatz von 20,42 Milliarden Euro – ein Plus von 48 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Der Netto-Gewinn zog ebenfalls kräftig an: Um 42 Prozent auf 5,57 Milliarden Euro. Erst kürzlich wurde bekannt, dass Tencent fünf Prozent am US-Elektroautohersteller Tesla erworben hat.
Ein Merkmal aller großen chinesischer Internet-Unternehmen ist, dass sie sich nicht mit ihrem Kernmarkt zufriedengeben. Nicht nur Wechat – auch E-Commerce-Riese Alibaba und die Suchmaschine Baidu expandieren in zahlreiche andere Bereiche. „Der Markt ist einfach so groß, dass es sich niemand leisten kann, das nicht zu tun“, sagt Heimburg. So sind beispielsweise sowohl Alibaba als auch Baidu in den Markt für Online-Essensauslieferungen eingestiegen, Baidu hat sich an Uber beteiligt und Audi arbeitet gleich mit allen drei der chinesischen Digital-Riesen – Alibaba, Baidu und Tencent – an autonomen Fahrzeugen.
Die Unternehmen wachsen nicht nur in andere Bereiche – sie experimentieren beim Geschäftsmodell. „Wäre Wechat so geblieben, wie es am Anfang war, würde es auch immer noch auf dem Werbe-Geschäftsmodell basieren“, sagt Heimburg. „Im Westen gibt es auch Plattformen wie Facebook – aber sie sind noch nicht so weit entwickelt.“ Das liegt nach Einschätzung des Unternehmers aber weniger an den Plattformen, sondern am unterschiedlichen Nutzerverhalten. Facebook experimentiert seit einiger Zeit mit Zusatzdiensten für seinen Messenger. „Doch das ist nicht so einfach, da der Großteil der Nutzer an Desktops und Laptops gewöhnt ist. Viele Nutzer sind auch einfach noch nicht so weit.“
Es ist daher vorstellbar, dass China und Wechat daher einen Blick in die Zukunft der Internetwirtschaft auch im Westen gewähren. „Wenn man sich Siebzehn- oder Achtzehnjährige im Westen anschaut, nutzen die auch fast nur noch das mobile Internet“, sagt Heimburg. Facebook und andere müssten noch stark auf die Bedürfnisse der Nutzer achten, die von der Desktop- und Laptop-Nutzung geprägt seien. „In China haben Leute in weiten Teilen vor 30 Jahren teilweise noch gehungert – inzwischen haben Städte wie Shanghai ein höheres Bruttoinlandsprodukt als die meisten westlichen Städte. Die Leute da haben einen so starken Wandel durchgemacht, dass sie sich viel schneller der Technologie anpassen“, sagt Heimburg. Wer heute ein Produkt für unter 25-Jährige im Westen entwickelt muss es auch „mobily only“ denken – so wie in China bereits die gesamte Digitalwirtschaft tickt.