5 Gründe, warum neuroergonomisches Arbeiten euch vor Erschöpfung schützt

Die Erschöpfung der Beschäftigten steigt an. (Foto: Pheelings media / shutterstock)
Der Anteil an computergestützter Arbeit im digitalen Wissenszeitalter hat durch die Corona-Pandemie weiter zugenommen. So arbeiten ganze 48 Prozent der Beschäftigten in Deutschland am PC mit mindestens einer – und bis zu 40 – digitalen Lösungen. Ganze 148 Prozent mehr Meetings und 45 Prozent mehr Chatnachrichten als vor Covid-19 verdichten die digitale Arbeit spürbar. Das Ergebnis: Die Erschöpfung der Beschäftigten steigt an und das birgt enorme Gesundheitsrisiken – ausgelöst durch Stress, Multitasking und weitere Faktoren. Um diese Risiken zu senken, braucht es gehirngerechte Arbeitsmethoden.
Etwa die Hälfte aller Beschäftigten in Deutschland schätzt die eigene Produktivität während der letzten 1,5 Jahre als gleichbleibend oder sogar höher ein. Gleichzeitig fühlen sie sich weit mehr überarbeitet. Die Ursachen dafür liegen auf der Hand: Die steigende Anzahl an Chatnachrichten und Meetings fragmentieren den Arbeitstag noch stärker als zu Prä-Covid-Zeiten – vor allem, da 62 Prozent der Meetings ad hoc abgehalten werden und dadurch sogar ein Mindestmaß an Tagesplanstabilität entfällt. Dabei wurden Beschäftigte bereits vor 2020 während ihrer Tätigkeit – statistisch betrachtet – alle 10,5 Minuten unterbrochen und mit neuen Anforderungen konfrontiert. Eine der Hauptursachen für digitalen Stress.
Die flächendeckend zu beobachtende Coping-Strategie im Umgang damit lautet: im Multitasking-Modus arbeiten, um möglichst viele der Aufgaben zu erledigen. Und obwohl das Gehirn keine zwei konzentrationsbedürftigen To-dos parallel bearbeiten kann, zählt Multiswitching – also das permanente Wechseln – weiterhin zur gelebten Arbeitspraxis.
Anhaltendes Multitasking kostet Beschäftigte in aller Regel zwei bis drei Stunden des Arbeitstages. Denn: Das Gehirn braucht circa sieben Minuten, um in Konzentration zu arbeiten und ganze 23 Minuten, um konzentriert wieder dort anzusetzen, wo es unterbrochen wurde – wobei viele To-dos gar nicht zu Ende geführt werden. Da Multitasking aus Gehirn-Perspektive nichts anderes ist als eine intensive Fragmentierung, kommen zu den äußeren Unterbrechungen noch die inneren Impulse zum Wechsel zwischen den Aufgaben.
Der Zeitfaktor ist allerdings nicht das einzige, das dabei verloren geht. Die gemessene Zunahme von Erschöpfung, sogenannter digitaler Stress, lässt sich ebenfalls auf die gestiegene Unterbrechungsrate zurückführen.
Die menschliche Kompetenz, sich zu fokussieren, ist die Basis für hochrelevante kognitive Funktionen im Gehirn. Dazu zählen unter anderem Leistungen wie beispielsweise Fehler zu erkennen, passende Maßnahmen zu initiieren, gute Entscheidungen zu treffen sowie Lernprozesse per se. Aber auch soziale Prozesse zu erkennen und zu bewerten oder Angst zu regulieren gehören hierzu.
Es reichen schon Unterbrechungen von mindestens 2,8 Sekunden aus, um die Fehlerquote um 20 Prozent ansteigen zu lassen. Verliert man den Fokus, verschlechtern sich diese kognitiven Funktionen messbar, und das löst Folgekosten aus, die über Produktivitätsverlust hinausgehen.
Im Forschungsfeld der Neuroergonomie treffen drei Disziplinen aufeinander: Neurowissenschaften, Ergonomie und Psychologie. Hieraus lässt sich anhand dreier Beispiele erklären, warum viele Unternehmen weiterhin so arbeiten, obwohl sie wissen, dass Multitasking nicht möglich ist und ständige Unterbrechungen Stress auslösen:
Aus psychologischer Sicht ist es nachvollziehbar, dass man Multitasking als Coping-Strategie einsetzt, um Stress zu regulieren. Da vieles parallel bearbeitet wird, entsteht ein subjektives Erleben hoher Produktivität. Aus Effizienz-Perspektive handelt es sich eher um einen Bewältigungsmodus. So werden beschäftigt und produktiv sein kategorisch verwechselt.
Aus ergonomischer Sicht spielt außerdem auch die räumliche Umgebung eine tragende Rolle. So ist das Gehirn nicht in der Lage, menschliche Stimmen auszublenden. In der Folge führt das Arbeiten in Großraumbüros zu einem bis zu 70-prozentigen Verlust der direkten Kommunikation, gleichzeitig steigt die Ausschüttung von Stresshormonen an.
Das menschliche Gehirn arbeitet seriell und ist dabei im Singletasking bei mittlerem Anspannungsniveau am produktivsten. Stress steigert das Anspannungsniveau und senkt dementsprechend die Produktivität. Die Vorstellung, konzentriert nach dem Singletasking-Prinzip zu arbeiten, löst wiederum Stress auf psychischer Ebene aus, da das Gefühl, viele To-dos gleichzeitig bearbeiten zu können, entfällt.
Eine tägliche Fokuszeit von zwei Stunden für alle – von Praktikanten bis zum C-Level – steigert die Produktivität maßgeblich. Da ständige Erreichbarkeit häufig erwartet wird, entfällt die von vielen verspürte Hürde der sozialen Abgrenzung durch die kollektiv vereinbarte Fokuszeit. Bereits eine Stunde tiefe Konzentration lässt sich sogar abends noch am Cortisolspiegel ablesen, und Erschöpfungssymptome nehmen ab.
Zusätzlich dazu sind Pausen als Gehirnarbeitszeit zu werten, denn in diesen Minuten vernetzt das Gehirn, lernt und regeneriert, um wieder aufnahmefähig zu sein. Das heißt im Umkehrschluss: Wer seinem Unternehmen etwas Gutes tun möchte, hält regelmäßige Pausen ein.
Auch wichtig: Die Arbeitsorganisation wird in den meisten Unternehmen noch immer über die Führungsetage gesteuert. Gehirngerechtes Arbeiten ist aber nicht nach dem Top-down-Prinzip steuerbar. Die Teams selbst sind die Experten für ihre eigene Wertschöpfung. Konzentrationshinderliche Faktoren konsequent zu eliminieren, muss daher regelmäßig im Fokus der Teams stehen.
Auch Führung muss sich verändern. Wird in kurzläufigen Intervallen klassisch delegiert, wird sowohl die Zeit der Führungskraft als auch die der Beschäftigten zusätzlich fragmentiert. Ebenso sind viele interne Führungs- und Steuerungs-Tools nicht nur überflüssig, sondern führen auch zu weiterer Fragmentierung. Eine „Industriezeitalter-Inventur“ schafft also mehr Selbstorganisation und damit gehirngerechtes Arbeiten.
Zu guter Letzt braucht es eine Unternehmenskultur, die Konzentration und Fokus mehr wertschätzt als ständige Erreichbarkeit und lange Arbeitstage. Denn ein Acht-Stunden-Tag lässt aus neuroergomischer Sicht keinen Rückschluss auf die tatsächliche Produktivität zu: Acht Stunden lang im Multitasking sind weit weniger produktiv als fünf Stunden voller Fokus. Neuroergonomisches Arbeiten im digitalen Zeitalter setzt daher ein neues Produktivitätsverständnis voraus.
Arbeit im digitalen Zeitalter ist in weiten Teilen Gehirnarbeit: Was damals – als die Tätigkeiten weitgehend sitzend ausgeübt wurden – der ergonomische Bürostuhl war, sollte heute das neuroergonomische Arbeiten sein. Die Kompetenz, sich zu fokussieren, wird durch die aktuell stark fragmentierte Arbeitsweise massiv eingeschränkt. Das wirkt sich nicht nur produktivitätsmindernd aus, sondern steigert gleichzeitig digitalen Stress. Individuelle Produktivitätstechniken können nicht kompensieren, wenn das Umfeld fragmentiert arbeitet. Daher sollten Unternehmen nicht nur Individualkompetenzen zum gehirngerechten Umgang mit digitalen Tools fördern, sondern eine Systemkompetenz zu gehirngerechter Wertschöpfung aufbauen.
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