Öffis only: Besteht das 9-Euro-Ticket den Alltagstest?

Ein Artikel von Nadine Graf, Josefine Kramer, Kim Rixecker, Tobias Weidemann, Stella-Sophie Wojtczak, Caspar von Allwörden & Alexander Schulz.
Seit dem 1. Juni reichen neun Euro, um vier Wochen lang deutschlandweit öffentliche Verkehrsmittel, aber auch die Regio-Angebote der Deutschen Bahn nutzen zu können. Das neue Angebot entspricht dem, was Expert:innen seit Jahren fordern: günstiger Nahverkehr, einfach zu verstehen. Verkehrsexperte Thorsten Koska sagte bereits Ende 2021, dass eine Flatrate-Option ein sinnvoller Weg sei, langfristig das Nutzungsverhalten zu ändern. „Wenn ich einmal ein gutes und günstiges Ticket habe, lasse ich vielleicht das Auto häufiger stehen“, so Koska.
Aber jetzt mal die Tickets auf den Tisch: Hat das Neun-Euro-Angebot das Zeug, die Öffis für jeden interessant zu machen? Wir haben es ausprobiert. Vier Kolleg:innen haben im Juni das Neun-Euro-Ticket gebucht und haben Bus, U- und S-Bahn und Regionalverkehr genutzt, um zur Arbeit zu kommen, Freunde zu treffen und unsere täglichen Besorgungen zu erledigen. Nein, nicht um nach Sylt zu fahren.
Vom Dorf über den Speckgürtel bis zur Metropole
CvD und Software-Redakteur Kim Rixecker lebt in Berlin. Da liegt es nahe, dass er das Ticket in der Hauptstadt testen sollte. Für ihn sind die Öffis auch vor dem Neun-Euro-Ticket täglicher Begleiter gewesen. Tobias Weidemann, freier Redakteur für E-Commerce, war im Großraum München unterwegs. Er nutzt schon seit vielen Jahren intensiv den öffentlichen Nahverkehr. Das klappt gut, weil er bahnhofsnah in einer Kleinstadt wohnt und damit auch in den Abendstunden und am Wochenende Zugang zu Bus und Bahn hat.
Da über 70 Prozent der Deutschen aber eher im ländlichen Raum leben, haben wir zwei Kolleginnen genau dahin geschickt: in die tiefste Provinz. Josefine Kramer, Marketing-Redakteurin, ist in der Kleinstadt Barby an der Elb-Saale-Mündung aufgewachsen und für das Experiment zwei Wochen in die alte Heimat zurückgekehrt. Um arbeiten zu können, hat sie sich in einem Coworking-Space in Magdeburg eingemietet. Nadine Graf, Redakteurin für New Finance, kommt aus Ober-Ense, einem 200-Seelen-Dorf in Nordhessen und wohnte für unseren Test im Juni dort in ihrem Elternhaus. Auch sie hatte sich einen Coworking-Space für die Arbeit herausgesucht.
1. Der Arbeitsweg
Coworking-Space, das klingt nach Berlin und hipper Großstadt, aber tatsächlich finden sowohl Nadine im tiefsten Hessen als auch Josefine in Magdeburg entsprechende Angebote. Für Nadine bedeutet das eine Fahrt mit dem Bus, der eigentlich nur Schulkinder befördert. Ein Blick auf den Fahrplan zeigt: Er fährt alle zwei Stunden. Mit etwas Geduld und Glück können Fahrgäste sich in den Zwischenzeiten ein Anrufsammeltaxi herbeirufen, sodass ein öffentliches Verkehrsmittel pro Stunde gesichert ist. Auch bei Josefine sieht es nicht unbedingt besser aus. Der Arbeitsweg bedeutet für sie mit dem Nahverkehr vor allem: warten. Mit ihrer Verbindung kann sie entweder um 8:04 oder 9:22 in Magdeburg sein. Das Problem: Der Coworking-Space macht erst um 9 Uhr auf. Mit der früheren Variante hätte sie also jeden Morgen eine Stunde Zeit totschlagen müssen.
Tobias und Kim haben den Vorteil, dass sie überwiegend im Homeoffice arbeiten – der Weg ins Büro oder in einen Coworking-Space entfällt also. Dennoch sind beide auch beruflich mit dem Nahverkehr unterwegs. Tobias fällt dabei vor allem auf, dass es mit dem Neun-Euro-Ticket einfacher geworden ist. Früher musste er mit mehreren Verbundtickets, einer Bahncard und Bahnfahrkarten jonglieren, um von zu Hause ins etwa eine Stunde entfernte München zu gelangen. Jedes Mal stand er vor der Frage: Tageskarte oder Einzelfahrschein? Dank des Neun-Euro-Tickets war damit im Juni Schluss.
In Berlin beobachtet Kim, dass sich die Auslastung der U- und S-Bahn entgegen vieler Befürchtungen durch das neue Ticket nicht erhöht hat. Bisweilen war die Fahrt zu einem Interviewtermin für ihn unangenehm beengt, aber je nach Uhrzeit und Linie war das eben normal. Seine Beobachtung deckt sich mit einer Auswertung der Berliner Verkehrsbetriebe. Laut der gab es seit Anfang Juni zwar einen deutlichen Anstieg der Passagierzahlen – insgesamt sind aber noch immer etwas weniger Menschen in den öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs als vor Corona.
2. Einkaufen benötigt Planung
Ein ähnliches Bild ergibt sich beim Einkaufen. Kim hat in seinem Kiez alles, was er braucht. Edeka, Rewe, Lidl, Bio-Company: Bei der Auswahl fußläufig erreichbarer Supermärkte wäre es albern, ein motorisiertes Gefährt zu verwenden. Bei Tobias im Speckgürtel ist die Auswahl an Geschäften nicht ganz so hoch, aber auch er kann problemlos mit dem Nahverkehr einkaufen. Und das hat einen Vorteil: Tobias bemerkt, dass er gezielter einkauft, wenn er nicht aufs Auto bauen kann. Das funktioniert erstaunlich gut für ihn. Es sei denn, es dauert an der Kasse ewig, sodass er den angepeilten Bus nicht mehr erwischt.
In der Kleinstadt wird es für Josefine da schon schwieriger. Kleinkram kann sie innerhalb von Barby zu Fuß abdecken – größere Einkäufe erfordern Planung und müssen direkt nach der Arbeit erfolgen. Erst nach Hause fahren und dann einkaufen geht nicht, da fährt nichts mehr. Außerdem muss sie dafür einen Rufbus ordern, und das klingt einfacher als es ist. Ihre Kurzfassung: zwei Logins, zwei Websites, eine App und viel Verwirrung. Und Tiefkühl-Produkte sollte man besser auch nicht kaufen. Selbst mit Isoliertasche schmilzt alles bei 40 Minuten Warte- und 30 Minuten Fahrtzeit.
Nadine setzt auf Planung. In ihrer Familie wird das Einkaufs-Problem mit einer großen Tiefkühltruhe und noch größerem Vorratskeller gelöst. Wenn etwas fehlt, wird improvisiert. Ein Rucksack für den Einkauf per Busfahrt müsste ansonsten sehr groß sein. Nadine geht es wie Josefine: Wartezeiten und Entfernungen machen Einkaufen mit den Öffis in der hessischen Provinz unpraktikabel.

In Berlin lässt es sich leicht mit dem ÖPNV durch den Alltag kommen. (Foto: picture alliance / Bildagentur-online/Joko)
3. Freizeit mit dem 9-Euro-Ticket
Das Neun-Euro-Ticket gilt einen ganzen Monat und kann auch in den Abendstunden und am Wochenende genutzt werden. Dementsprechend treffen unsere vier Tester:innen Freunde, machen Ausflüge und wagen sich sogar an längere Strecken.
Tobias stattet Verwandten in der saarländischen Provinz einen Besuch ab. Von hier war er vor mehreren Jahrzehnten weggezogen, auch weil ein Leben ohne Auto nicht wirklich gut funktionierte. Bei seinem Besuch mittels Bus und Bahn hat Tobias ein Déja-vu. Das Warten an Haltestellen fühlt sich hier anders an, wenn der Bus nur selten kommt. Er versteht, warum rund 55 Millionen Deutsche im ländlichen Raum teils abwinken, wenn es um einen gut nutzbaren ÖPNV geht.
Zurück in seinem jetzigen Wohnort bemerkt Tobias hingegen die Vorteile des Neun-Euro-Tickets. Beim Treffen mit Kolleg:innen stellt er fest: Erstaunlich viele sind mit dem neuen Ticket da. „Da kann ich endlich mal etwas trinken“, begründet die eine, „da spare ich das Parkhaus“, erklärt der andere. Ab einer gewissen Uhrzeit greifen aber immer mehr zum Smartphone, um den Rückweg zu organisieren. Wer dennoch auf die Öffis setzt, kann in einigen Gegenden ab einer bestimmten Uhrzeit an einem beliebigen Punkt der Strecke aussteigen – das schafft nicht nur für Frauen ein Mehr an Sicherheit.
Doch dass es in den Abendstunden schwieriger wird, einen Bus zu erwischen, ist beileibe kein Phänomen der Kleinstadt. Ganz ähnlich geht es auch Nadine. Ihr Treffen mit Freunden direkt nach der Arbeit in der nächsten Stadt ist mit dem Bus gut machbar. Zumindest, wenn die Rückfahrt nicht nach 20 Uhr erfolgt. Nadines großes Glück ist, dass im Gemeinschaftsbüro auch immer Menschen mit ähnlichem Heimweg und Autoschlüssel sitzen.
Für Josefine ist ein einfaches Treffen mit Freunden mit dem Nahverkehr leider nicht möglich, außer die Treffen finden direkt in Barby statt. Da sie ihre Freundin nach der Arbeit, also nach 16 Uhr treffen würde, ist der Zug dann im wahrsten Sinne des Wortes schon abgefahren. Nach 19 Uhr bedeutet die Verbindung mit dem Nahverkehr einen riesigen Umweg inklusive Fußmarsch von fünf Kilometern. Josefine hat dann doch lieber wie früher das Eltern-Taxi angerufen.
Ähnlich sieht es am Wochenende für Ausflüge aus. Wenn Josefine etwas in Magdeburg unternehmen will, muss sie gut planen. Während des Tests gibt es für solche Reisen genau ein einziges Zeitfenster: Samstags um 9 Uhr per Bus die rund zwölf Kilometer von Barby nach Schönebeck und von da aus weiter in die Großstadt. Will Josefine noch am selben Tag wieder in ihrem Heimatort sein, muss sie um 17:25 Uhr den Rufbus von Schönebeck nach Barby nehmen. Große Ausflüge gar nach Hannover, wo Josefine eigentlich lebt, sind so nicht möglich. Was bleibt also übrig? Zum Beispiel ein Besuch im Magdeburger Zoo. War schön, aber es musste im Stechschritt durch gehen – stressfrei war das nicht und ein Mittagessen war auch nicht drin.
Deutlich entspannter ist Kim in Berlin unterwegs. Er besucht mit dem Regionalverkehr eine Freundin in Potsdam. Nach einem fünfminütigen Fußweg steigt er in die U-Bahn Richtung Hauptbahnhof und dort in die Regionalbahn. Das Neun-Euro-Ticket spart ihm Geld und Zeit – allerdings in überschaubarem Maße. Kim spart sich 1,80 Euro pro Strecke für den Anschlussfahrausweis, und die paar Minuten, die es über die gutgemachte BVG-App dauern würde, dieses Ticket auszuwählen und per Apple Pay zu bezahlen, fallen auch kaum ins Gewicht. Aber immerhin.
Als er Besuch von einer Freundin aus Saarbrücken erhält, rät Kim ihr vorab zum Kauf des Neun-Euro-Tickets. Zu Hause ist sie vor allem zu Fuß oder Auto unterwegs. Aber schon für einen viertägigen Berlinbesuch lohnt sich die Anschaffung. Immerhin kostet ein Tagesticket hier 8,80 Euro.
4. Unser Fazit
Tobias: „Ob uns diese drei Monate als Sommermärchen oder Chaostage in Erinnerung bleiben werden, bleibt abzuwarten – wahrscheinlich irgendwas von beidem. Klar ist bereits nach einem Monat, dass es im Rahmen einer modernen Verkehrspolitik nicht um die Entscheidung zwischen Auto und Bus oder Bahn gehen wird, sondern darum, wie, wo und wann wir situativ Verkehrsmittel kombinieren können. Ich habe durch das Neun-Euro-Ticket aber bereits feststellen können, dass all das gar nicht so desolat ist, wie erwartet. Wenn selbst Menschen in meiner Umgebung, die in den letzten Jahrzehnten nicht einmal mit dem Zug gefahren sind, jetzt über Taktzeiten und ohne Umsteigen erreichbare Ziele fachsimpeln, dann hat das Neun-Euro-Experiment schon etwas gebracht.“
Josefine: „Für mich ist klar, dass auf dem Land ein billiges Ticket nicht ausreicht. Das Neun-Euro-Ticket ist für mich der erste Schritt, jetzt muss mehr geschehen. Seht beim Nahverkehr mehr als nur den Bus: Baut Fahrradwege und an den Bahnhöfen sichere Unterstellmöglichkeiten für die Räder. Dann könnte ich wenigstens mit dem Rad zum Bahnhof fahren, ohne entweder auf der Landstraße von Lkw von der Fahrbahn geweht zu werden oder mein Fahrrad beim Wiederkommen ohne Räder vorzufinden.“
Nadine: „Mobilität auf dem Land ist schwierig. Daran ändert ein günstiges Ticket leider nichts. Mir ist aufgefallen, dass mehr los ist in Bussen und Bahnen – egal, ob am Wochenende oder werktags. Dasselbe hat mir einer der Busfahrer berichtet: Er würde zwei Drittel mehr Fahrgäste mitnehmen. An den Wochenenden auf beliebten Strecken spricht er von ‚Stehgästen‘, denn über volle Busse möchte er sich nicht so recht beschweren. Personalmangel und lange Arbeitsschichten machen ihm und seinen Kollegen deutlich mehr zu schaffen, als das Mehr an Fahrgästen, sagt er mir. Das Beste an den Neun-Euro-Tickets sei, dass sie so schön einfach zu kontrollieren seien.“
Kim: „Für mich ist bezahlbarer Nahverkehr wichtig und richtig, um Menschen vom Auto wegzubekommen. Ebenso wichtig bleiben aber anhaltende Investitionen in den Ausbau des Nahverkehrs. Denn die Situation in Berlin zeigt doch eigentlich, dass Menschen ÖPNV-Angebote durchaus annehmen, wenn diese entsprechend ausgebaut sind.“