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MIT Technology Review News

Alarm bei Klima-Kipppunkten: Vereinigtes Königreich will weltweit erstes Frühwarnsystem aufbauen

Die Advanced Research and Invention Agency (ARIA) stellt umgerechnet 96 Millionen Euro zur Verfügung, um Wissenschaftsteams bei der Suche nach verräterischen Anzeichen für eine Klimaspirale zu unterstützen.

Von MIT Technology Review Online
8 Min.
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Die Gletscher – hier im Westen Grönlands – sind von der steigenden Erderwärmung stark betroffen. (Foto: Delpixel/Shutterstock)

Eine neue britische Moonshot-Forschungsagentur hat gerade ein mit 81 Millionen Pfund (96 Millionen Euro) dotiertes Programm zur Entwicklung von Frühwarnsystemen gestartet. Sie sollen Alarm schlagen, wenn die Erde dem Überschreiten von Klimakipppunkten gefährlich nahekommt.

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Ein Klimakipppunkt ist eine Schwelle, bei deren Überschreitung bestimmte Ökosysteme oder planetarische Prozesse von einem stabilen Zustand in einen anderen übergehen und dramatische, sich oft selbst verstärkende Veränderungen im Klimasystem auslösen.

Die Advanced Research and Invention Agency (ARIA) hat Anfang September ankündigt, dass sie Vorschläge für die Entwicklung von Systemen für zwei verwandte Kipppunkte des Klimas sucht. Der eine ist das beschleunigte Abschmelzen des grönländischen Eisschilds, das den Meeresspiegel dramatisch ansteigen lassen könnte. Der andere ist die Schwächung des Nordatlantischen Subpolarwirbels, einer riesigen, südlich von Grönland gegen den Uhrzeigersinn rotierenden Strömung, die möglicherweise eine Rolle bei der Auslösung der sogenannten Kleinen Eiszeit um das 14. Jahrhundert herum.

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Klimakipppunkte besser verstehen

Ziel des auf fünf Jahre angelegten Programms ist es, die wissenschaftliche Ungewissheit darüber zu verringern, wann diese Ereignisse eintreten könnten, wie sie sich auf den Planeten und die darauf lebenden Arten auswirken würden und über welchen Zeitraum sich diese Auswirkungen entwickeln und andauern könnten. Am Ende hofft ARIA, ein Konzept vorzulegen, das zeigt, dass Frühwarnsysteme „erschwinglich, nachhaltig und gerechtfertigt“ sein können. Bisher gibt es noch kein solches System, aber es wird viel geforscht, um die Wahrscheinlichkeit und die Folgen des Überschreitens dieser und anderer Klimakipppunkte besser zu verstehen.

Sarah Bohndiek, Programmdirektorin des Tipping-Points-Forschungsprogramms, sagt, dass wir die Möglichkeit unterschätzen, dass das Überschreiten dieser Punkte die Auswirkungen des Klimawandels erheblich beschleunigen und die Gefahren vergrößern könnte, möglicherweise innerhalb der nächsten Jahrzehnte.

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Durch die Entwicklung eines Frühwarnsystems „könnten wir in der Lage sein, die Art und Weise zu ändern, wie wir über den Klimawandel denken und wie wir uns auf ihn vorbereiten“, so Bohndiek, Professor für biomedizinische Physik an der Universität Cambridge.

ARIA beabsichtigt, Teams zu unterstützen, die auf drei Ziele hinarbeiten:

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  • Die Entwicklung kostengünstiger Sensoren, die rauen Umgebungen standhalten und präzisere nötige Daten über den Zustand dieser Systeme liefern können
  • Den Einsatz dieser und anderer Sensortechnologien, um „ein Beobachtungsnetz zur Überwachung dieser Kippsysteme“ zu schaffen und
  • Den Aufbau von Computermodellen, die die Gesetze der Physik und der künstlichen Intelligenz nutzen, um „subtile Frühwarnzeichen des Kippens“ in den Daten zu erkennen.

Beobachter betonen jedoch, dass die Entwicklung präziser Frühwarnsysteme für beide Systeme keine einfache Aufgabe wäre und möglicherweise nicht in naher Zukunft möglich sein wird. Nicht nur, dass die Wissenschaftler:innen nur ein begrenztes Verständnis dieser Systeme haben, auch die Daten über ihr Verhalten in der Vergangenheit sind lückenhaft und verrauscht. Die Einrichtung umfangreicher Überwachungsinstrumente in diesen Umgebungen ist teuer und umständlich. Dennoch besteht weitgehende Einigkeit darüber, dass wir diese Systeme und die Risiken, denen die Welt ausgesetzt sein könnte, besser verstehen müssen.

Abschmelzen des Eisschildes mit Folgen

Es ist klar, dass das Kippen schon eines dieser Systeme enorme Auswirkungen auf die Erde und ihre Bewohner haben könnte. Als sich die Welt in den letzten Jahrzehnten erwärmte, schmolzen Billionen Tonnen Eis vom grönländischen Eisschild ab, wodurch frisches Wasser in den Nordatlantik floss, der Meeresspiegel anstieg und die Wärmemenge, die Schnee und Eis in den Weltraum zurückwarfen, verringert wurde.

Die Schmelzrate nimmt zu, da die Erwärmung in der Arktis schneller voranschreitet als im globalen Durchschnitt und das heißere Ozeanwasser die Schelfeisplatten abträgt, die die Gletscher auf dem Festland stützen. Wissenschaftler befürchten, dass der Eisschild mit dem Zusammenbruch dieser Schelfe zunehmend instabiler wird.

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Der vollständige Verlust des Eisschilds würde den globalen Meeresspiegel um mehr als sechs Meter ansteigen lassen, die Küsten überschwemmen und eine massive Klimaflucht rund um den Globus auslösen. Der Zustrom von Wasser in den Nordatlantik könnte aber auch die Konvektionssysteme, die den Subpolarwirbel antreiben, erheblich verlangsamen, da frischeres Wasser nicht so dicht ist und leicht absinkt. Salzigeres, kühleres Wasser sinkt dagegen leicht ab.

Die Schwächung des Subpolarwirbels könnte Teile Nordwesteuropas und Ostkanadas abkühlen, den Jetstream nach Norden verlagern, zu unbeständigeren Wettermustern in Europa führen und die Produktivität von Landwirtschaft und Fischerei untergraben, so eine Studie aus dem vergangenen Jahr.

Der Subpolarwirbel kann auch die Stärke der atlantischen meridionalen Umwälzzirkulation (Atlantic Meridional Overturning Circulation, AMOC) beeinflussen, ein Netzwerk von Meeresströmungen, das große Mengen an Wärme, Salz und Kohlendioxid um den Globus bewegt. Wie sich ein geschwächter subpolarer Wirbel auf die AMOC auswirken würde, ist noch Gegenstand laufender Forschungsarbeiten, aber eine dramatische Verlangsamung oder Abschaltung dieses Systems gilt als einer der gefährlichsten Kipppunkte für das Klima. Dies könnte neben anderen weitreichenden Auswirkungen zu einer erheblichen Abkühlung Nordeuropas führen. Das Kippen der AMOC selbst ist jedoch nicht der Schwerpunkt des ARIA-Forschungsprogramms.

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Analog zu DARPA und ARPA-E

Die im vergangenen Jahr gegründete Agentur, die „wissenschaftliche und technologische Durchbrüche“ ermöglichen soll, ist die britische Antwort auf die US-amerikanischen Forschungsprogramme DARPA und ARPA-E. Weitere Projekte, die sie finanziert, sind etwa die Entwicklung von Präzisionsneurotechnologien, die Verbesserung der Geschicklichkeit von Robotern und die Entwicklung sicherer und energieeffizienter KI-Systeme. ARIA richtet auch Programme zur Entwicklung synthetischer Pflanzen und zur Erforschung von Klimamaßnahmen ein, die den Planeten abkühlen könnten, einschließlich des solaren Geo-Engineerings.

Bohndiek und die zweite Programmdirektorin des Tipping-Points-Programms Gemma Bale, eine Assistenzprofessorin an der Universität Cambridge, sind beide Medizinphysiker, die zuvor medizinische Geräte entwickelt haben. Bei ARIA wollten sie ursprünglich an der Dezentralisierung des Gesundheitswesens arbeiten.

Aber Bohndiek sagt, dass sie bald erkannten, dass „viele dieser Dinge, die sich auf der individuellen Gesundheitsebene ändern müssen, irrelevant sein werden, wenn der Klimawandel wirklich diese großen Schwellenwerte überschreiten wird“. Sie fügt hinzu: „Wenn wir in einer Gesellschaft landen, in der die Welt so viel wärmer ist … spielt dann das Problem der Dezentralisierung der Gesundheitsversorgung noch eine Rolle?“

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Bohndiek und Bale betonen, dass sie hoffen, dass das Programm Bewerbungen von Forscher:innen anziehen wird, die sich traditionell nicht mit dem Klimawandel befassen. Sie fügen hinzu, dass alle Forschungsteams, die in oder um Grönland arbeiten wollen, geeignete Schritte unternehmen müssen, um mit den örtlichen Gemeinden, Regierungen und anderen Forschungsgruppen zusammenzuarbeiten.

Kippende Gefahren

Es werden bereits Anstrengungen unternommen, um ein besseres Verständnis des subpolaren Wirbels und des grönländischen Eisschilds zu entwickeln, einschließlich der Wahrscheinlichkeit, des Zeitpunkts und der Folgen eines Kippens in verschiedene Zustände.

So finden beispielsweise regelmäßig Expeditionen statt, um den Eisverlust in Grönland zu messen und die Modellierung zu verfeinern. Verschiedene Forschungsgruppen haben Sensornetzwerke eingerichtet, die verschiedene Punkte des Atlantiks überqueren, um die sich verändernden Bedingungen der Strömungssysteme genauer zu überwachen. Mehrere Studien haben zudem bereits das Auftreten einiger „Frühwarnsignale“ für einen möglichen Zusammenbruch der AMOC in den kommenden Jahrzehnten aufgezeigt.

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Das Ziel des ARIA-Programms ist es jedoch, diese Forschungsbemühungen zu beschleunigen und den Fokus des Fachgebiets auf die Verbesserung unserer Fähigkeit zur Vorhersage von Kipp-Phänomenen zu lenken.

Unstimmigkeiten über Kipppunkte

Der Ozeanograph William Johns, der sich an der Universität von Miami mit der Beobachtung der AMOC befasst, betont, dass das Feld weit davon entfernt sei, mit Sicherheit sagen zu können, dass Systeme wie der Subpolarwirbel oder die AMOC über die Grenzen der normalen natürlichen Schwankungen hinaus schwächer werden, geschweige denn, dass man mit Genauigkeit sagen könne, wann dies der Fall sein wird. Es gäbe immer noch große Unstimmigkeiten zwischen den Modellen zu dieser Art von Fragen und nur wenige Belege dafür, was vor dem Umkippen in der Vergangenheit geschah.

Jaime Palter, außerordentliche Professorin für Ozeanographie an der Universität von Rhode Island, findet die Entscheidung, ein Forschungsprogramm zu finanzieren, das sich auf das Kippen des Subpolarwirbels konzentriert, geradezu „rätselhaft“. Sie merkt an, dass die Forscher glauben, dass der Wind das System mehr antreibt als die Konvektion, dass seine Verbindung zur AMOC nicht gut verstanden wird und dass die Verlangsamung des letzteren Systems dasjenige ist, auf das sich der Großteil des Fachgebiets konzentriert – und über das sich die ganze Welt Sorgen macht.

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Aber sie und Johns sagten beide, dass die Bereitstellung von Mitteln zur genaueren Beobachtung dieser Systeme von entscheidender Bedeutung ist, um das wissenschaftliche Verständnis für ihre Funktionsweise und die Wahrscheinlichkeit, dass sie kippen, zu verbessern.

Radikale Eingriffe

Was könnte die Welt also tun, wenn es ARIA oder jemand anderem gelingt, Systeme zu entwickeln, die mit hoher Wahrscheinlichkeit vorhersagen können, dass eines dieser Systeme, sagen wir, im nächsten Jahrzehnt in einen neuen Zustand übergeht?

Bohndiek betont, dass die Auswirkungen des Erreichens eines Kipppunkts nicht sofort eintreten würden und dass die Welt noch Jahre oder sogar Jahrzehnte Zeit hätte, um Maßnahmen zu ergreifen, die den Zusammenbruch solcher Systeme verhindern oder sich an die damit verbundenen Veränderungen anpassen könnten. Im Falle eines unkontrollierten Abschmelzens des Eisschildes könnte das bedeuten, dass höhere Dämme gebaut oder Städte verlegt werden müssen. Wird wiederum der Subpolarwirbel geschwächt, könnten große Teile Europas gezwungen sein, sich in anderen Regionen der Welt mit Nahrungsmitteln zu versorgen.

Zuverlässigere Vorhersagen könnten auch das Denken der Menschen in Bezug auf dramatischere Eingriffe verändern, zum Beispiel massive und enorm teure technische Projekte zur Stützung von Schelfeis oder zum stabileren Gefrieren von Gletschern auf dem Untergrund, auf dem sie gleiten.

Ebenso könnten sie die Abwägung zwischen den Gefahren des Klimawandels und den Risiken von Eingriffen wie dem solaren Geoengineering verändern, bei dem Partikel in der Atmosphäre freigesetzt werden, die mehr Wärme in den Weltraum zurückstrahlen.

„Man kann das Schmelzen nicht aufhalten, wie wir es müssten“

Einige Beobachter weisen jedoch darauf hin, dass, wenn genug Süßwasser in den Atlantik strömt, um den Wirbel zu schwächen und das breitere atlantische Strömungssystem erheblich zu verlangsamen, die Welt nur sehr wenig tun kann, um dies zu verhindern. „Ich fürchte, man kann nicht wirklich etwas dagegen unternehmen“, sagt Johns. „Man kann nicht das gesamte Süßwasser absaugen, das wird nicht machbar sein, und man kann das Schmelzen nicht in dem Maße aufhalten, wie wir es müssten.“

Bale räumt bereitwillig ein, dass sie sich ein sehr schwieriges Problem ausgesucht haben, aber sie betont, dass es bei den ARIA-Forschungsprogrammen darum geht, „am Rande des Möglichen“ zu arbeiten. „Wir wissen wirklich nicht, ob ein Frühwarnsystem für diese Systeme möglich ist“, sagt sie. „Aber ich denke, wenn es möglich ist, wissen wir, dass es wertvoll und wichtig für die Gesellschaft wäre, und das ist Teil unseres Auftrags.“

Der Artikel stammt von James Temple. Er ist Senior Editor bei der US-amerikanischen Ausgabe von MIT Technology Review und schreibt über Energie und Klimawandel.
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