Begünstigt Amazon die Ausbeutung von Fahrern? Interne Dokumente legen das nahe
Amazon steht immer wieder in der Kritik, was Arbeitsbedingungen betrifft – und nicht nur gewerkschaftsnahe Quellen und Aussagen zeichnen ein Bild, das von Ausbeutung von Paketboten und starkem Druck auf interne und externe Mitarbeitende spricht. Stets betont der E-Commerce-Riese, man nehme keinen Einfluss auf die Logistikunternehmen, mit denen man zusammenarbeite. Recherchen von Correctiv, dem Saarländischen Rundfunk (SR) und der Nordsee-Zeitung zeigen jetzt ein anderes Bild – und das ist gerade angesichts des in der kommenden Woche anstehenden Prime Day für Amazon alles andere als schmeichelhaft.
Demnach verfolgt Amazon bei den Subunternehmer:innen, die als Kurierfahrer:innen tätig sind, über eine App sämtliche Schritte und könne die Daten, die hierbei entstehen, im Rahmen des weltweiten Amazon-Systems nutzen und auswerten. Das belegen interne Unterlagen, auf die sich Correctiv und die beteiligten Medien beziehen. Demnach schränke Amazon durch strikte Vorgaben die unternehmerische Freiheit der Subunternehmer:innen ein und ermögliche nur geringe Gewinnmargen. Diesen Druck würden die Subunternehmer:innen an ihre Fahrer:innen weitergeben, wie mehrere aktive und ehemalige Subunternehmer:innen sowie Kurierfahrer:innen bestätigen.
Ungleichgewicht zwischen Amazon und den Subunternehmen
Bislang hat Amazon stets jegliche Verantwortung von sich gewiesen und von einzelnen schwarzen Schafen unter den beauftragten Kurierunternehmen gesprochen, sobald Fälle von katastrophalen Arbeitsbedingungen wie Druck, Überwachung, unbezahlte Überstunden und zu niedriger Lohn bekannt wurden. Stefan Sell, Professor für Volkswirtschaftslehre, Sozialpolitik und Sozialwissenschaften an der Hochschule Koblenz, geht dagegen sogar so weit, dies als einen „Kern der Strategie von Amazon“ zu bezeichnen. Die durch den Handelsriesen diktierten niedrigen Preise in Kombination mit dem betriebswirtschaftlichen Risiko, das die Logistikunternehmen tragen, zwinge diese, die Fahrer:innen auszubeuten. Gleichzeitig wasche Amazon „seine Hände formal in Unschuld“, wie es der Arbeitsmarktforscher formuliert.
Amazon seinerseits betont, man erwarte von den Kurierunternehmen nicht nur die Einhaltung der geltenden Gesetze, sondern auch fairen und respektvollen Umgang mit den Mitarbeitenden. „Bei wesentlichen Vertragsverletzungen oder Hinweisen auf illegale Handlungen beenden wir die Zusammenarbeit mit dem Partner“, erklärt das Unternehmen gegenüber Correctiv. Auf Nachfrage seitens t3n erklärt ein Unternehmenssprecher von Amazon.de, man überprüfe die Dienstleister regelmäßig, „um sicherzustellen, dass sie alle gesetzlichen und vertraglichen Verpflichtungen einhalten, einschließlich unseres Verhaltenskodex. Sollten unsere Audits Unregelmäßigkeiten aufzeigen, schauen wir nicht weg, sondern handeln.“ Bei wesentlichen Vertragsverletzungen oder Hinweisen auf illegale Handlungen beende das Unternehmen die Zusammenarbeit mit dem Partner.
Interessant aber auch der Hinsweis, man habe eine Hotline für Fahrer:innen in verschiedenen Sprachen eigerichtet, über die Zusteller:innen auch anonym Verstöße gegen geltendes deutsches Recht ansprechen können. Ob dieser Schritt wirkliche Verbesserungen bringen kann, darüber kann man spekulieren. Dabei ist die Abhängigkeit der Subunternehmer:innen angesichts der sehr strengen Vorgaben doch hoch. Man vereinbart mit den „Delivery Service Partnern“ (DSP) nicht nur, wie groß die Fahrzeugflotte zu sein hat, wie die Fahrer:innen entlohnt werden müssen und einige andere Vorgaben, die für US-Konzerne zwar nicht ungewöhnlich sind, aber sehr weit in die Entscheidungsfreiheit des Unternehmens reichen. Der Online-Gigant könne demnach einseitig und jederzeit anpassen, wie viel Geld er den Kurierfirmen für ihre Leistungen zahlt. Eine Befristung der Verträge auf rund ein Jahr stellt eine weitere Herausforderung für die betriebswirtschaftliche Kalkulation der Subunternehmen dar, da sich Amazon erst 30 Tage vor Ende der Vertragslaufzeit entscheiden müsse, ob der Vertrag fortgeführt wird.
Der Jurist Manfred Walser, Professor für Arbeitsrecht und Wirtschaftsprivatrecht an der Hochschule Mainz, hält die Verträge in vielerlei Hinsicht für problematisch, auch und insbesondere angesichts des Machtungleichgewichts zwischen Amazon und den Kurierunternehmen. Denn beispielsweise gibt Amazon auch Verhaltensweisen vor, wie diese sich gegenüber Mitarbeitenden verhalten sollen – etwa auch, wie gegenüber Mitarbeitenden zu kommunizieren ist, wenn die Zusammenarbeit mit Amazon beendet wird.
Verdient wird bestenfalls über ausgelieferte Pakete
Interessant und aufschlussreich sind auch die (in der Regel natürlich vertraulich zu behandelnden) Konditionen, in die hier erstmals ein Einblick gewährt wird. Demnach erhalten die Kurierunternehmen einen monatlichen Sockelbetrag pro Transporter sowie einen Betrag für jede geplante Arbeitsstunde der Fahrer:innen – Überstunden würden hierbei nicht vergütet. Gewinn ließe sich demnach vor allem über erfolgreich ausgelieferte Pakete erzielen. Hier zahlt Amazon den Kurierunternehmen lediglich Cent-Beträge für jedes ausgelieferte Paket. Dabei nennen die Quellen Summen von zehn Cent pro Paket für Kurierfirmen mit Transportern und Uniformen im Amazon-Branding und fünf Cent für jene ohne Amazon-Branding.
Vielleicht erklärt diese Kalkulation, warum die Fahrer:innen nicht nur so in Eile sind, sondern auch, warum diese im Zweifelsfall das Paket um jeden Preis irgendwo und irgendwie abzulegen versuchen (und sich dann im schlimmsten Fall mit dem schnellen Foto aus dem Staub machen, ohne zu klingeln). Wird das auch für andere zugängliche Paket dann entwendet, haben diese und Amazon zumindest ein Beweisfoto des Pakets auf der Fußmatte oder hinter der Mülltonne.
Die von Correctiv, SR und Nordsee Zeitung befragten Unternehmen bestätigen das enge Korsett, den enormen Druck und die begrenzten Entscheidungsmöglichkeiten seitens Amazon. Die Abhängigkeit und Angst vor Verlust des Auftrags sei weitreichend. Ein ehemaliger Subunternehmer erklärt etwa: „Man kann kein erfolgreiches Amazon-Subunternehmen führen mit menschenwürdigen Arbeitsbedingungen.“ Auch Fahrerinnen und Fahrer berichteten bereits in der Vergangenheit von teils prekären Arbeitsbedingungen, darunter eine kaum bewältigbare Paketmenge, enormer Zeitdruck und hohe physische und psychische Belastung.
Bezüglich des Lohns berichten Mitarbeitende von zu niedrige Lohnabrechnungen und Unregelmäßigkeiten bei der Bezahlung von Überstunden durch Subunternehmer:innen. Amazon erklärt hingegen, dass Lohnprellerei einen Vertragsbruch darstelle und zur Kündigung des Vertrags führen würde.
Was können gesetzliche Vorgaben bewirken?
Doch auch der Ruf nach gesetzlichen Vorgaben greift hier zu kurz. Schließlich gibt es das Paketboten-Schutz-Gesetz, das eben gegen solche Missstände geschaffen wurde, aber derzeit evaluiert wird, da es offenbar nicht wirklich greift. Es gehe, erklären Verbraucherschützer:innen und Jurist:innen übereinstimmend, um stärkere Kontrolle des Konzerns, der, so betont es ein Experte, hier weiterreichendere Vorgaben mache als jedes andere ihm bekannte E-Commerce-Unternehmen in Deutschland. Ob es hierbei ausreicht, ein Verbot von Werkverträgen und Leiharbeit in der Paketbranche zu verhängen, bleibt ebenso abzuwarten wie die Beurteilung, ob dies überhaupt möglich ist. Denn anders als in der Fleisch verarbeitenden Industrie sei hier ein stärkerer Eingriff in die unternehmerischen Freiheiten gegeben.
Vor allem aber stellt sich die Frage, wie solche Arbeitsbedingungen mit klassischen ESG-Vorgaben und den Gesetzen zur Lieferkette in Einklang zu bringen sind, wie nicht nur US-Konzerne sie sich auferlegen. Amazon jedenfalls betont, man sei stolz auf die Lieferpartner:innen und berücksichtige ihr Feedback. Der Konzern verweist auf langfristige Vertragsbeziehungen mit vielen Lieferpartner:innen als Beweis für einen möglichen wirtschaftlichen Erfolg. Abzuwarten bleibt jedenfalls, welche Maßnahmen ergriffen werden, um die Ausbeutung von Fahrer:innen zu beenden und faire Arbeitsbedingungen in der Branche sicherzustellen.