
Mein Arbeitsspeicher ist voll. Also der in meinem Kopf. Überall habe ich offene Tabs: Ohrwürmer von viralen Tiktok-Sounds, Gedanken zu einem Video, das ich vor ein paar Stunden gesehen habe oder der Reiz, mir auf meinem Smartphone kurz etwas Dopamin zu holen.
Viele der Tabs sind nicht nur in meinem Kopf, sondern auch auf meinem Smartphone, meinem iPad und all den anderen Geräten geöffnet, die ich sonst im Alltag nutze. Zu den knapp acht Stunden Bildschirmzeit auf der Arbeit rechne ich noch einmal vier auf meinem Smartphone darauf. Nach der Arbeit bin ich gerne am Tablet oder an der Konsole. Laut Apples Bildschirmzeit-Tracker verbringe ich bis zu 14 meiner 16 wachen Stunden am Tag mit Bildschirmen.
Auch in Internetkreisen gibt es für meine Symptome einen Begriff: Brainrot (auf Deutsch: Hirnfäule). So nennen Menschen den geistigen Verfall, der mit zu viel Internetkonsum einhergeht. Doch wie real ist meine Hirnfäule? Und bin ich noch heilbar?
Diagnose: Brainrot
Brainrot ist nicht nur ein lustiger Internetbegriff. Auch in der wissenschaftlichen Forschung, die den Begriff natürlich nicht verwendet, gibt es viele Hinweise auf die Folgen aller Facetten der Bildschirme. So zeigt eine Meta-Studie aus dem Jahr 2023 verheerende Folgen von gestörter Bildschirmnutzung. Die Konzentrationsfähigkeit sinkt und exekutive Funktionen leiden, wenn Menschen ihre Screen-Nutzung nicht unter Kontrolle haben.
Aber oft ist Bildschirmzeit nicht das grundlegende Problem – sondern was Menschen mit ihrer Bildschirmzeit anstellen. Zum Beispiel auf Tiktok-Videos schauen. Oder Spiele spielen. „Ich glaube, dass wir das differenzierter betrachten müssen“, sagt der Psychotherapeut Daniel Wagner. „Bildschirmzeit wäre jedes Nutzen eines Bildschirms. Auch beim Smartphone ist gar nicht gesagt, was ich da konkret mache.“ Erst bei Social Media ginge es um konkrete Apps und Features.
In seiner Praxis begegnen Wagner immer wieder Menschen, die ein Problem mit ihrer Bildschirmzeit haben. „Es gibt manche, die das sogar als Hauptthema benennen“, so der Therapeut. „Viel häufiger ist aber der Fall, dass jemand mit Schlafproblemen oder anderen Symptomen kommt und dann finden wir im Laufe der Behandlung heraus, dass die Social-Media-Nutzung auch ein Faktor ist.“
Wie Apps unsere Konzentrationsfähigkeit angreifen
Laut Wagner finden Menschen in diesen Inhalten sofortige Belohnungen, zum Beispiel in der Form von unterhaltsamen Videos, die dafür sorgen, dass das Gehirn Dopamin ausschüttet. „Daraus kann ein Suchtverhalten entstehen, weil mich das immer motiviert, das weiterzunutzen“, erklärt der Psychologe. Diese unmittelbaren Belohnungen verringern laut ihm die Frustrationstoleranz. „Das ist die Toleranz, sich erst einmal mit etwas Unangenehmem zu beschäftigen, bevor etwas Angenehmes eintritt“, so Wagner. Wer zu viel auf Tiktok und Co. unterwegs ist, dem falle es schwerer, sich auf längere Aufgaben zu konzentrieren. Da wurde ich wohl erwischt.
Wozu das führen kann, zeigt eine Studie zum Thema Kurzvideos: Zehn College-Student:innen, die mehr als vier Stunden täglich Kurzvideos schauen, wurden untersucht, wie sich ihr Verhalten auf Noten auswirkt. Und wer hätte es gedacht: Je mehr Zeit Teilnehmer:innen auf Tiktok und Co. verbracht haben, desto schlechter waren die Noten.
Mit einer App gegen die App-Nutzung
Zeit, dagegen vorzugehen. Und hier gibt es viele Möglichkeiten. Sowohl bei Apple- als auch bei Android-Geräten lassen sich Nutzungslimits einstellen. Doch die konnte ich in der Vergangenheit schon einfach umgehen. Auch an kreativeren Ideen mangelt es im Internet nicht. Wagner empfiehlt, sich bewusst zu machen, wann und wie man auf Bildschirmen schaut. „Dann würde ich versuchen, da Struktur reinzubringen. Zum Beispiel, indem man sein Handy eine halbe Stunde vor dem Einschlafen in die Küche legt“, sagt der Therapeut. Auch Alternativhandlungen seien wichtig – also das, was man macht, anstelle aufs Smartphone zu schauen.
Nach gut einer Stunde Recherche habe ich meine mögliche Lösung gefunden: One Sec. Die App will die Smartphone-Nutzung den User:innen bewusst machen. Bevor man eine unerwünschte Webseite öffnet oder eine ungewünschte App nutzt, schaltet sich die Anwendung dazwischen und lädt zu einer kurzen Intervention ein. Das kann eine Atemübung oder eine haptische Aufgabe sein. Danach kann man dann entscheiden, ob man wirklich die Anwendung starten will.

Wenn ich Instagram öffne, muss ich beispielsweise drei Mal mein iPhone drehen, um Zugriff auf die App zu bekommen. (Screenshot: t3n)
Die Idee kam dem Entwickler Frederik Riedel, weil er ein ähnliches Problem hatte wie ich. „Im ersten Lockdown zur Coronazeit hing ich den ganzen Tag nur auf Instagram rum“, erinnert sich Riedel. Er wollte etwas ändern. Erst über interne App-Beschränkungen. Dann versuchte er, Instagram nur über den Browser zu öffnen. Doch nichts half. Irgendwann bemerkte er das eigentliche Problem: Dass er manchmal gar nicht merkte, wie er Instagram überhaupt öffnete. „Ich stehe eine halbe Stunde im Türrahmen und realisiere, weil mein Arm wehtut, dass ich die ganze Zeit auf Instagram verbracht habe“, erzählt der Entwickler.
One Sec verspricht einen lang-anhaltenden Erfolg, so Riedel. „Schon als ich den Prototyp getestet habe, war ich schockiert, wie oft ich ohne es zu merken in eine Intervention reinlief“, erzählt er. Zusammen mit der Uni Heidelberg und dem Max-Planck-Institut führte der Entwickler eine Studie zu One Sec durch. Und siehe da: Bei 280 Teilnehmenden ist die Nutzung sozialer Medien innerhalb von sechs Wochen um durchschnittlich 57 Prozent zurückgegangen.
Einmal atmen für weniger Bildschirmzeit
So will ich auch meinen Brainrot bekämpfen. Denn One Sec gibt es für eigentlich alle Geräte – von der Computer-Anwendung bis zur iPad-App. Und auch Browsererweiterungen für Chrome, Firefox, Safari und Edge sind kostenlos erhältlich.
In meinem Browser ist One Sec auch schnell installiert. Auf dem iPhone ist das Setup komplizierter. Denn damit die App mir einen Moment zum Nachdenken gibt, muss ich erst einmal über die Kurzbefehle automatisieren, dass sie sich auch öffnet, wenn ich beispielsweise auf Instagram tippe. Und das ist relativ aufwendig: Pro App braucht es mindestens eine, manchmal auch eine zweite Automation. Hier gibt es aber eine Bezahlschranke: Ich kann die Sperre nur für eine App einrichten. Möchte ich mich vor den Klauen mehrerer Anwendungen schützen, muss ich ein Abo für 15 Euro im Jahr abschließen. Zuvor kann man die Premium-Funktionen kostenlos für eine Woche testen. Eigentlich fair.
In der ersten Woche funktionierte das auch ziemlich gut – besonders auf dem Smartphone. Von knapp fünfeinhalb Stunden Screen-Time auf meinem iPhone waren eine Woche später nur noch vier Stunden und zwanzig Minuten übrig. Aber mein Gehirn gab nicht auf und suchte Lücken, um sein Dopamin zu bekommen.
Zum Beispiel auf meinem iPad. Da hatte ich One Sec bisher nicht eingerichtet. Und so schaute ich zum Feierabend ständig aufs Tablet. Hinzukam eine App, der ich erst keine Sperre gegeben habe: Pokémon TCG Pocket – Pokémonkarten auf dem iPhone. Hier war die Einrichtung noch komplizierter. Die App war nämlich nicht unter den sperrbaren Anwendungen in der Vorauswahl von One Sec gelistet. Über die App-URL musste ich Pokémon TCGP manuell hinzufügen.
Als das erledigt war, kam die nächste Hürde: Habe ich erst einmal die Intervention überstanden, konnte ich hemmungslos scrollen und zocken. Hier empfahl mir Riedel eine Re-Intervention: „Das ist so etwas wie eine Doomscroll-Notbremse.“ Öffne ich eine App, muss ich nun nach der Atemübung meinen Zweck angeben und festlegen, wie lange ich sie nutzen will. Ist die Zeit abgelaufen, ist wieder Zeit für eine Atemübung.
Gute und böse Apps
Ich stoße schnell auf ein weiteres Problem: Denn manchmal möchte ich eine App aktiv nutzen – etwa wenn ich eine Nachricht schreiben oder Freund:innen etwas zeigen will. Dann nervt die Intervention. Schnell merke ich, dass Instagram und Co. doch auch einen berechtigten Nutzen haben. Auch Riedel erkannte, dass es schwierig wäre, ganz auf die Apps zu verzichten: „Apps wie Instagram bieten mir ja noch einen Mehrwert, zum Beispiel, um mit Leuten in Kontakt zu bleiben.“
Auch wenn wir immer länger am Tag auf Bildschirme starren, ist nicht jede Bildschirmzeit schlecht. Manchmal ist es die Arbeit. Manchmal ein „Face Time“-Anruf mit Freund:innen, die in einer anderen Stadt leben. „Letztendlich ist das, was wir an Bildschirmen machen, das Entscheidende“, so der Psychotherapeut Daniel Wagner. Ihm zufolge komme es auch auf weitere Stressoren an. „Wenn man jetzt sechs Stunden auf Tiktok unterwegs ist und sechs weitere Stunden im Wald spazieren geht, bekomme ich das wahrscheinlich besser verpackt, als wenn ich nebenbei einen stressigen Job habe und noch Stress mit meiner Beziehung habe“, erklärt er.
Klar, nicht jeder Scroll auf Instagram ist mit einer Kippe vergleichbar und nicht jedes Kurzvideo auf Tiktok gleicht einem Bier – dafür steckt zu viel Nutzen in den Apps. Trotzdem habe ich gemerkt, wie oft ich unbewusst in diesen Apps gelandet bin, ohne es zu merken.
Mittlerweile habe ich meine Bildschirmzeit auf dem iPhone von durchschnittlich fünfeinhalb Stunden auf etwas mehr als drei Stunden reduzieren können. Bei null wird sie höchstwahrscheinlich nie sein. Dafür sind sie ein zu großer Teil meines Alltags. Allerdings habe ich gemerkt, wie gut es mir tut, meinen mentalen Arbeitsspeicher nicht zu überladen. One Sec bleibt auch nach dem Experiment auf meinen Geräten – selbst wenn es manchmal nerven kann.