Wie Corona einen neuen Infowar auslöst: Was bringt Zensur wirklich?
Wer in Ungarn jetzt öffentlich etwas über das Coronavirus schreibt, muss auf der Hut sein: Seit Anfang der Woche gilt dort ein Notstandsgesetz – Regierungschef Viktor Orbán regiert dort jetzt per Dekret. Die „Verbreitung von Falschnachrichten“ kann dort mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft werden. Das Problem dabei: Covid-19 ist ein neues Phänomen – welche Warnung auf Social Media falsch oder richtig ist, ist oft erst Wochen oder Monate später feststellbar. In anderen Worten – wer in Ungarn etwas über Corona schreibt, was Orbán nicht passt, kann für Jahre ins Gefängnis gesteckt werden.
Infodemie: Überfluss an Informationen
Dass die Informationslage bei einer Pandemie zum Problem werden kann, ist dabei schon seit Monaten klar: Schon am zweiten Februar warnte die Weltgesundheitsorganisation nicht nur vor einer Corona-Pandemie, sondern auch vor einer „Corona-Infodemie“: einem Überfluss an Informationen – manche akkurat, manche nicht –, der es Menschen erschwert, vertrauenswürdige Quellen zu finden.
Netzwerke wie Facebook, Instagram, Whatsapp, Twitter und Tiktok haben bisher noch keine Daten veröffentlicht, die die These der drohenden Infodemie bestätigen würden. „Es gibt noch keine Datenanalysen, bei denen wirklich die Menge an Desinformationen verglichen wurde. Ich glaube aber, dass das der Fall ist, weil in dieser Situation so viel Unsicherheit herrscht“, erklärt Nicole Krämer, die an der Universität Duisburg-Essen zu Desinformation forscht.
Unsicherheit mischt sich mit Angst
Zwei Faktoren, so Krämer, können in der Coronakrise Desinformation fördern: Unsicherheit darüber, was richtig und was falsch ist, und die Angst um die eigene Gesundheit. „Vor ein paar Wochen galt die Nachricht noch als falsch, dass das Virus beim Essen von Fledermäusen auf einem chinesischen Markt auf den Menschen übergesprungen ist. Jetzt wurde gezeigt, dass das Virus wohl tatsächlich aus Fledermäusen stammt,“ erklärt Krämer. „Auch eine Whatsapp-Nachricht machte die Runde, in der die ‚Mama von Poldi‘ davor warnte, Ibuprofen zu nehmen. Obwohl es keine Evidenz dafür gab, übernahm selbst die WHO die Warnung zeitweise – und adelte damit die falsche Nachricht.“ Die Angst, dass die Gesundheit von Familie und Freunden in Gefahr sein könnte, so Krämer, lässt Menschen vermeintliche Warnungen schneller weiterschicken. „Wer will nicht alles tun, um die Lieben zu schützen?“
„Wusst’ ich’s doch“
Unter normalen Umständen, so Krämer, hatten sie und ihr Team in einer Studie festgestellt, dass Menschen gut darin sind, vertrauenswürdige Quellen von Informationen zu identifizieren. Problematisch sind dabei aber solche Nachrichten, die einen menschlichen Reflex namens Bestätigungsfehler ansprechen: Menschen neigen dazu, solchen Nachrichten zu glauben, die bestätigen, was sie sowieso schon zu wissen glauben.
Gewinner der Infodemie
Währenddessen scheinen einige die Unsicherheit und Angst der Coronakrise für ihre Informationskampagnen nutzen zu wollen: Lijian Zhao, ein Sprecher des chinesischen Außenministeriums, behauptete Mitte März in einem Tweet, das Coronavirus käme aus den USA und könnte mit dem amerikanischen Militär nach China gekommen sein. Der chinesische Botschafter in den USA nannte die Theorie aus dem eigenen Hause einige Tage später „verrückt“.
Wenige Tage später schlug die EU-Kommission Alarm: In einem Report warnte der europäische Auswärtige Dienst vor einer „signifikante Desinformationskampagne“ durch Medien mit Bezug zum russischen Kreml. „Diese Kampagne ist darauf angelegt, Verwirrung, Panik und Angst zu verschärfen“, zitierte der Tagesspiegel aus einem Papier der Abteilung für Strategische Kommunikation des Europäischen Auswärtigen Dienstes.
Die Anti-Corona-Zahnpasta
Aber nicht nur Staaten nutzen die Unsicherheit der Gesundheitskrise für ihre Botschaften: Der amerikanische Verschwörungstheoretiker Alex Jones behauptete auf seiner Website, die Zahnpasta und Nahrungsergänzungsmittel, die er verkauft, würden gegen Corona helfen. „Der Sinn von Desinformation ist meistens, Geld zu verdienen. Es geht darum, die Leute zum Klicken zu bringen“, erklärt dazu Ulrike Klinger, die als Professorin für digitale Kommunikation an der FU Berlin und am Weizenbaum Institut zu Nachrichten und Kampagnen forscht. Auch in der Coronakrise, so Klinger, funktioniere das meist mit klassischem Clickbait – möglichst überraschenden, ausgedachten News.
In Krisenzeiten, so Klinger, würde sich aber die Mediennutzung von Menschen verändern. „Das Informationsbedürfnis ist hoch, traditionelle Medien werden wichtiger, die Menschen schauen mehr lineares TV, auch die Mediatheken boomen, die Nachrichtennutzung ist stärker als sonst.“
Nachrichten-Hygiene auf Social Media
Was gegen Falschinformationen hilft, erklärt Klinger, sei auch Hygiene auf Social Media: „Wir sollten Dinge lesen, bevor wir sie teilen – und dann überlegen, ob wir sie wirklich teilen wollen“, sagt sie. „Wenn man trotzdem unbedingt eine sensationelle Überschrift teilen will, kann man das auch per Screenshot tun – dann wird der Post nicht automatisch in den Augen des Algorithmus aufgewertet.“
Falsche Nachrichten von Präsidenten
Bewusst oder unbewusst beteiligen sich auch einige der mächtigsten Politiker der Welt an der Corona-Desinformation: Donald Trump erklärte, das Virus „verschwinde von selbst“, es gäbe „genug Tests für alle“ und Google würde schon eine Website mit Informationen für alle Amerikaner bauen. Google selbst erfuhr erst aus den Medien von Trumps Idee.
Anfang der Woche sah Twitter sich sogar gezwungen, Tweets des brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro zu löschen. Bolsonaro hatte darin an dem Sinn der Isolationsmaßnahmen gezweifelt. Damit verstieß er gegen die Regeln, die sich Twitter seit dem Ausbruch des Virus selbst auferlegt hatte: Das Netzwerk will alle Nachrichten löschen, die den Informationen der Gesundheitsbehörden zur Pandemie widersprechen und das Risiko der Verbreitung des Virus erhöhen. Ende März hatten dann auch Facebook und Youtube Posts von Bolsonaro gelöscht.
Instagram und Reddit gegen Corona
Twitters Löschregel ist dabei nur eine von vielen Reaktionen der sozialen Medien auf Misinformation in der Coronakrise. Tatsächlich greifen die Netzwerke gerade stärker in den Inhalt der Posts und Feeds ein als je zuvor. Den Satz „soziale Distanzierung ist nicht effektiv“ findet man dort gerade kaum – weil Twitter ihn als schädlich ansieht.
2016 noch hatten Social-Media-Konzerne darauf bestanden, dass sie „Tech-Unternehmen sind, und kein Medienunternehmen“, wie Facebook-Chef Mark Zuckerberg es ausdrückte. Die Zeiten scheinen vorbei zu sein: Wie Facebook, Instagram und Tiktok verlinken jetzt fast alle großen Social-Media-Unternehmen prominent in den Feeds ihrer Nutzer auf die Seiten der WHO oder von nationalen Gesundheitsbehörden.
Der Instagram-Chef Adam Mosseri sagte kürzlich, das Unternehmen schaue bei Empfehlungen von Accounts besonders genau hin und gehe hart gegen fragwürdige medizinische Ratschläge vor. Außerdem können Nutzer ihren Posts jetzt einen „Stay home“-Sticker anheften, um bei anderen für Social Distancing zu werben.
Auch Reddit hat eine Funktion eingeführt, mit der Informationen zu den wissenschaftlichen Aspekten des Coronavirus als „geprüft“ markierbar sind.
Politiker fordern „Eingriffe des Staates“
Einigen deutschen Politikern scheinen die Maßnahmen der Netzwerke nicht weit genug zu gehen: Mitte März hatte Boris Pistorius (SPD), Innenminister Niedersachsens, ein härteres Vorgehen gegen Falschnachrichten gefordert. Gegenüber dem Nachrichtenmagazin Spiegel sagte Pistorius: „Ich bitte daher den Bund (…) schnellstmöglich das Gesetz über Ordnungswidrigkeiten beziehungsweise das Strafgesetzbuch anzupassen. (…) Es muss verboten werden, öffentlich unwahre Behauptungen die Versorgungslage der Bevölkerung, die medizinische Versorgung oder Ursache, Ansteckungswege, Diagnose und Therapie von Covid-19 zu verbreiten.“
Kurz darauf legte Innenstaatssekretär Kerber im Handelsblatt nach: „Wir setzen alles daran, den Internetkonzernen klarzumachen, dass genügend Raum sein muss für vertrauenswürdige Informationen“, sagte er. Dafür solle es auch zusätzliche „Eingriffe des Staates“ geben, so Kerber.
Auf Anfrage von t3n, wie genau in einer sich so schnell entwickelnden Informationslage zwischen richtigen und falschen Informationen zu Corona unterschieden werden soll, ruderte ein Sprecher des niedersächsischen Innenministeriums wieder zurück: Die Forderungen von Boris Postorius nach neuen Gesetzen und Verboten seien „vor allem als politischer Impuls zu verstehen“, so der Sprecher. Aus dem Innenministerium in Berlin kam bis zur Veröffentlichung keine Antwort.
Die Folgen der Zensur
Dass das staatliche Zensur von vermeintlich falschen Informationen zu Covid-19 auf Social Media schief gehen kann, hatte dabei gleich zu Anfang der Krise die chinesischen Behörden gezeigt: Nach Posts über eine mögliche ansteckende Lungenkrankheit lud die Polizei den Arzt Li Wenliang vor. Zwar hatte sich Li, der später an den Folgen von Corona starb, tatsächlich in Details geirrt. Seine Warnungen vor einer Ausbreitung der damals unbekannten Krankheit stellten sich nachher aber als richtig heraus. „Zumindest im Kampf gegen die Infodemie scheint die Herdenimmunität damit die bessere Strategie zu sein als die Suppression“, kommentierte das Wolf Schünemann, Professor für Politik und Internet an der Universität Hildesheim, auf der Seite Netzpolitik.
Update: In diesem Artikel stand, das Land Turkmenistan hätte das Wort „Coronavirus“ verboten. Das war so nicht korrekt. Das Wort Coronavirus wird von der turkmenischen Nachrichtenagentur nur nicht in Verbindung mit Turkmenistan erwähnt, da das Land zur Zeit der Veröffentlichung offiziell noch keinen bestätigten Fall hat.