„The Dress“: Wie ein Meme die Neurowissenschaften vorangebracht hat

Es war das Jahr 2015, als das Foto eines Kleides viral ging und die Menschen weltweit ins Grübeln brachte. Allein der Hashtag #TheDress erschien in unglaublichen 11.000 Tweets pro Minute. The Washington Post beschrieb es als „das Drama, das den Planeten teilte“. Treffender hätte man es vermutlich auch nicht formulieren können, denn während die eine Fraktion ein Kleid sah, das in den Farben Schwarz und Blau über den Bildschirm flimmerte, war sich der andere Teil der Menschheit sicher: Das Kleid ist Weiß und Gold! Und ohne Social Media hätten wir alle nie erfahren, dass es Menschen gibt, die etwas anderes sehen als wir.
Ein Kleid, das sogar Neurowissenschaftler:innen zum Verzweifeln brachte
Das Kleid beschäftigte nicht nur Laien, sondern auch Expert:innen. Wie The Wired berichtet, brachte The Dress sogar Pascal Wallisch, einen Neurowissenschaftler von der NYU, ins Grübeln. Als er das Kleid nämlich zum ersten Mal sah, erschien es gold-weiß-gestreift zu sein. Als er es jedoch seiner Frau zeigte, sah sie etwas vollkommen anderes: Sie war überzeugt, dass es schwarz-blau-gestreift sei. „Die ganze Nacht war ich wach und dachte darüber nach, was das möglicherweise erklären könnte“, so Wallisch. Er habe sich wie ein Biologe gefühlt, der gerade erfahren hatte, dass Ärzte ein neues Organ im menschlichen Körper entdeckt hatten.
Das Foto, das The Dress zeigte, ist in der Tat etwas kniffelig, da es unter schlechten Lichtbedingungen entstanden ist. Wie mehrere Studien bestätigen, geht der menschliche Sehsinn unterschwellig von bestimmten Beleuchtungsbedingungen aus. Das Auge korrigiert die Wahrnehmung je nachdem, wie sich das Licht verändert. Beispielsweise ob es im Schatten oder im Sonnenlicht aufgenommen wurde. Beim Kleid konnte man das nicht eindeutig bestimmen.
So nimmt unser Gehirn Farben wahr
Wie Pascal Wallisch gegenüber The Wired erklärt, handelt es sich bei dem Spektrum des Lichts, den Primärfarben Rot, Grün und Blau, die wir sehen können, um spezifische Wellenlängen elektromagnetischer Energie. Diese Energiewellenlängen stammen von einer Quelle, wie beispielsweise der Sonne, einer Lampe oder einer Kerze. Wenn dieses Licht beispielsweise auf eine Zitrone trifft, absorbiert die Zitrone nur einen Teil dieser Wellenlängen, der Rest prallt ab. Das, was zurückbleibt, geht durch unsere Pupille und trifft auf die Augennetzhaut. Dort wird das in einen Haufen elektrochemischer Neuronen übersetzt, die vom Gehirn verwendet werden, um die subjektive Erfahrung des Sehens von Farben zu konstruieren.
Da das meiste natürliche Licht eine Kombination aus Rot, Grün und Blau ist, absorbiert eine Zitrone nur die blauen Wellenlängen und lässt Rot und Grün zurück. Diese treffen dann auf unsere Netzhaut, was dem Gehirn dann vermittelt, eine gelbe Zitrone zu sehen. Die Farbe existiert jedoch nur in unserem Kopf. Das Gelb ist praktisch ein Hirngespinst.
Bei The Dress ist alles anders
Beim Kleid war und ist das jedoch nicht so. Denn: Zwar geht hier das gleiche Licht in alle Augen, und auch jedes Gehirn interpretiert die Linien und Formen als Kleid – aber irgendwie wandeln all diese Gehirne dieses Kleid nicht in die gleichen Farben um. Irgendetwas geschieht zwischen Wahrnehmung und Bewusstsein, und Wallisch wollte wissen, was das ist. Also sammelte er etwas Geld und verlagerte den Fokus seines Labors an der NYU darauf, das Geheimnis des Kleides zu lüften.
Wallischs Vermutung war, dass unterschiedliche Menschen unterschiedliche Kleider sehen, weil ihnen das Gehirn vorgibt, etwas zu sehen, was gar nicht da ist, das ihr Gehirn aber erwartet, zu sehen. Das wird als „substanzielle Unsicherheit“ bezeichnet. Das Gehirn nutzt seine Erfahrung, um Illusionen darüber zu erzeugen, was vorhanden sein sollte, aber nicht vorhanden ist. Unterschiedliche Lichtverhältnisse führen also dazu, dass sich das Aussehen vertrauter Objekte verändert, und zwar so, dass es mit dem übereinstimmt, was wir zuvor erlebt haben.
Wallisch glaubte, dass es beim Foto des Kleides genau so sein muss: Das Bild muss überbelichtet sein, was die Wahrheit zweideutig macht. Das Foto ist an einem trüben Tag mit einem billigen Handy aufgenommen worden. Ein Teil des Bildes ist hell und der andere dunkel. Wallisch erklärt, dass sich die Farbe, die in jedem Gehirn erscheint, darin begründet liegt, wie jedes Gehirn die Lichtbedingungen empfindet. Für die einen erscheint Schwarz und Blau eindeutig, für andere Weiß und Gold. Die Gehirne der Menschen erreichen das, indem sie eine Lichtbedingung schaffen, die gar nicht da ist.
Studie mit mehr als 10.000 Teilnehmer:innen
Nach zwei Jahren Forschung mit mehr als 10.000 Teilnehmer:innen entdeckte Pascal Wallisch ein klares Muster bei seinen Proband:innen: Je mehr Zeit eine Person in künstlichem Licht (das überwiegend Gelb ist) verbringt – typischerweise eine Person, die in Innenräumen oder nachts arbeitet – desto wahrscheinlicher ist es, dass diese Person das Kleid in den Farben Schwarz und Blau sieht. Das liegt daran, dass diese Person auf der Ebene der visuellen Verarbeitung unbewusst annimmt, dass das Kleid künstlich beleuchtet worden ist, und das Gehirn daher das Gelb subtrahiert und die dunkleren, bläulichen Farbtöne zurücklässt. Je mehr Zeit eine Person hingegen natürlichem Licht ausgesetzt ist – beispielsweise also jemand, der tagsüber draußen oder in der Nähe von Fenstern arbeitet – desto wahrscheinlicher ist es, dass diese Person Blau subtrahiert und das Kleid als Weiß und Gold wahrnimmt.
Unabhängig davon, welche Farben die Menschen subjektiv sehen: Das Bild scheint nie mehrdeutig zu sein, da die Menschen bewusst nur die Ergebnisse ihrer Prozesse erleben und die Ergebnisse auf den vorherigen Erfahrungen der Person mit Licht basieren. Wenn die Wahrheit ungewiss ist, löst unser Gehirn diese Ungewissheit also ohne unser Wissen auf, indem es die wahrscheinlichste Realität erschafft, die es sich auf der Grundlage unserer früheren Erfahrungen vorstellen kann.
Und welche tatsächliche Farbe ist in dem Foto nun zu sehen? Irgendwas zwischen Gold und Blau?
Wenn man nun das Bild so verfremdet (z.B. weichzeichnet oder nur einen Ausschnitt nimmt), so dass man das Motiv nicht mehr als Kleid erkennt, sollte es zu keiner Farbtäuschung mehr kommen?
Wieso ändern sich die Farben für nicht, wenn ich das mache?