Fußball-EM 2024: Wann KI über Tore mitentscheidet – und was der Ball damit zu tun hat
Viele Fußballfans hassen diese Geste: Nach einem Tor der Lieblingsmannschaft zeichnet der Schiedsrichter ein Quadrat in die Luft und sprintet dann zum Monitor an der Seitenlinie. Nach Sichtung der Bilder wird klar: Dem Treffer ist ein Foul vorausgegangen. Doch kein Tor.
Dieser Eingriff durch den sogenannten Video Assistant Referee (oder kurz VAR) spaltet die Fans seit Jahren. Eigentlich soll der Videoschiedsrichter für mehr Fairness sorgen, erntet aber häufig den Unmut von den Rängen. Die Überprüfungen nehmen oft mehrere Minuten in Anspruch und neben der oft unklaren Regelauslegung bei Handelfmetern dürfte das Kalibrieren der berühmten Abseitslinie viel Zeit in Anspruch nehmen.
Wer den VAR nicht mag, muss jetzt stark sein: Auch bei der Europameisterschaft 2024 in Deutschland wird er eine Rolle spielen. Neue Technologien sollen beim Turnier aber dafür sorgen, dass es in vielen Situationen schneller zu einer Entscheidung kommt. Eine wichtige Rolle kommt dabei dem Spielball zugute.
Adidas-Ball mit Sensoren im Inneren
Der bunte Ball wird erneut von Adidas produziert und heißt offiziell „Fussballliebe“. Er besteht laut Hersteller aus 20 Paneelen, sogenannte Prägerillen sollen für einen optimierten Luftstrom und damit für mehr Kontrolle und Präzision durch die Spieler sorgen. Eine der Hauptattraktionen wird dabei nicht sofort sichtbar. Denn im Inneren des Spielgerätes kommen Sensoren zum Einsatz, die Daten laut Adidas in Echtzeit an den VAR übertragen sollen. Adidas nennt das „Connected Ball Technologie“.
Die Technik ist nicht ganz neu. Schon bei der WM 2022 in Katar gehörten Sensoren zur Ausstattung des Balles. Mithilfe der gesammelten Daten konnte Adidas Cristiano Ronaldo überführen. Portugals Kapitän wollte damals einen Treffer gegen Uruguay für sich beanspruchen. Daten vom Ball zeigten allerdings, dass Mitspieler Bruno Fernandes der Torschütze war. Ronaldo hatte den Ball nicht mehr berührt. Weil die Technik bei einer Europameisterschaft noch nicht im Einsatz war, verkaufen Adidas und die Uefa sie dennoch als Premiere.
10 Kameras für eine Abseitsposition
Beim Turnier in Deutschland soll der Ball, wie schon bei der WM vor zweieinhalb Jahren, bei der Umsetzung des halbautomatischen Abseits unterstützen. Hinter dem sperrigen Begriff verbirgt sich eine Technologie, die auf zehn Spezialkameras im Stadion setzt. Sie sind laut Uefa dazu in der Lage, 29 Körperpunkte pro Spieler zu erfassen – 50 mal pro Sekunde.
„Das System verbessert die Genauigkeit und Geschwindigkeit beim Identifizieren einer geographischen Abseitsposition automatisch“, erklärte Roberto Rosetti, Ex-Schiedsrichter und Vorsitzender der Uefa-Schiedsrichterkommission, schon 2022 in einem Video des Verbands.
Vom Ball war damals noch gar nicht die Rede, denn den braucht das System nicht, um zu funktionieren. Mithilfe der Adidas-Technik sei es aber möglich, den genauen Moment der Ballabgabe bei Abseitssituationen umgehend zu bestimmen. Das kann bei einer knappen Abseitsstellung entscheidend sein. Eine künstliche Intelligenz hilft bei der Übersetzung der Daten und trägt so ebenfalls zu Tor- oder Abseitsentscheidungen bei.
Halbautomatisch ist das System übrigens nur, weil der Videoschiedsrichter die Szene noch überprüfen muss, bevor er das Ergebnis an den Spielleiter im Stadion weitergibt. Es könnte ja sein, dass das System versehentlich einen Spieler im passiven Abseits erkennt. Das ist der Fall, wenn ein Spieler zwar im Abseits steht, aber nicht ins Spielgeschehen eingreift.
Wenn der Ball die Spieler überführt
Nebenher soll der Ball dem VAR auch verraten, ob ein Spieler das Spielgerät mit der Hand gespielt hat. Auch bei strittigen Elfmeterentscheidungen soll das Spielgerät zur Aufklärung beitragen. Adidas verspricht, dass sich der Zeitaufwand für das Auflösen der Situationen durch den Einsatz des smarten Balles verkürzt.
Bei der letzten EM-Technologie spielt der Ball zwar auch eine Rolle, dessen Daten stehen dabei aber im Hintergrund. Bei der Torlinientechnologie sind sieben Kameras pro Tor im Einsatz, die die genau Position des Balles erfassen. Ist der mit vollem Umfang hinter der Linie, vibriert bei jedem Mitglied des Schiedsrichterteams die Uhr. Außerdem gibt es ein optisches Signal aufs digitale Zeiteisen.
Die Technologie ist, genau wie das halbautomatische Abseits, nicht neu, sondern bereits seit vielen Jahren in ähnlichem Umfang in der ersten und zweiten Bundesliga im Einsatz. Das semiautomatische Abseits findet bereits in der Serie A regelmäßige Anwendung. Die Technologie kam außerdem schon in diversen Europapokalpartien zum Einsatz und soll in der kommenden Saison in der englischen Premier League an den Start gehen.
Günstig sind all die Systeme übrigens nicht. Zwar klärt die Uefa nicht über die Kosten auf, das Fachmagazin Kicker bezifferte die Ausgaben für die Bundesliga 2018 auf 2,53 Millionen Euro allein für die VAR-Technik. Für die Torlinientechnik wurden rund 2,2 Millionen Euro fällig. 900.000 Euro davon entfielen auf die Leasinggebühr für die Technik. Auch die Kosten für den Adidas-Ball bleiben unbekannt. Zwar verkauft der Hersteller eine Variante für Fußballspieler:innen für rund 150 Euro. Sensoren enthält sie aber nicht.
Gerade in Verbindung mit dem Ball könnte sich der Invest in die Neuerungen für die Europameisterschaft aber lohnen, in dem sie für fairere Spiele und schnellere Entscheidungen sorgen. Dessen Daten fehlen bei der Bewertungen der Spielszenen durch den VAR in der Bundesliga schließlich. Dass der Schiedsrichter beim Turnier im Sommer aber irgendwann ein Quadrat in die Luft zeichnet, zum Monitor an der Seitenlinie sprintet und das Spielgeschehen zum Erliegen kommt, wird die Technik aber vermutlich nicht verhindern.