Alles ist messbar
Ist doch wahr. Wir messen, vermessen und tracken mittlerweile alles, was geht. Der Fitnesstracker am Handgelenk ist da ja noch harmlos. Es gibt ihn inzwischen auch für Hunde und Pferde (und eine Seismologin will – nicht ganz ernst gemeint – aus Katzen und Fitnesstrackern ein Erdbebenwarnsystem aufbauen), es gibt Schuhe, die uns den schnellsten Weg nach Hause anzeigen, und smarte Menstruationstassen.
Und das ist nur das Privatleben. Auch im Beruf ist das Tracking allgegenwärtig. Natürlich gibt es zahlreiche Situationen, in denen es mehr als nur wichtig ist, Buch zu führen und genaue (An-)Zahlen zu erfassen. Ärzte und Pflegepersonal müssen exakt wissen, wann ein Patient wie viel eines Medikaments erhalten hat. Wer etwas produziert, muss sicherstellen können, dass das Produkt in der richtigen Stückzahl und mit den richtigen Maßen vom Band läuft. Und dann sind da ja noch ungefähr 35.000 DIN-Vorgaben, die eingehalten werden wollen.
Zusätzlich muss selbstverständlich auch der gemeine Arbeitnehmer überwacht werden die Möglichkeit haben, seine Leistung bis ins letzte Detail aufgeschlüsselt zu bekommen. Im letzten Monat waren es aber viele Pipipausen, ist alles okay? Verglichen mit vorigem November hast du dieses Jahr weniger Papiertüten geklebt, woran liegt es? Und überhaupt, aktuell liegt der Umsatz zwei Euro fünfzig unter dem des ersten Quartals – besser, wir rufen den Notstand aus und leiten Gegenmaßnahmen ein!
Weil sie es können
Ja, klar, Daten können tatsächlich Umschwünge ankündigen – wenn gerade ein Tief über Großbritannien liegt und der Wind nach Osten weht, können wir schon mal den Regenschirm rauskramen. Und wenn die Umsatzzahlen über Wochen oder gar Monate kontinuierlich sinken, dann stimmt vermutlich wirklich irgendetwas nicht. Aber anstatt zu schauen, an welchen Stellen Tracking Sinn ergibt und wo es nur Spielerei ist, nehmen datenverliebte Unternehmen mit, was geht. So wie George Mallory den Mount Everest bestiegen hat, „weil er da ist“, tracken sie alles und jeden – weil sie es können. Und damit die gesammelten Daten nicht nutzlos herumliegen und auf irgendeiner Festplatte verschimmeln, werden sie als unbedingte Handlungsanweisung verstanden. Das Backoffice hat letzten Monat weniger Briefumschläge verbraucht, wenn da nicht was im Busch ist. Besser mal genauer hinschauen!
Mit den Daten kommt letztlich das Versprechen der Kontrolle. Kontrolle über die eigene Gesundheit, den Fitnessgrad des Haustiers und im beruflichen Kontext gerade über die Arbeitnehmer. Wie Stasispitzel kleben die Dashboards an der Wand und raffen jeden Informationsschnipsel an sich, den sie kriegen können. Mehr Daten sind aber nicht unbedingt mehr Erkenntnisgewinn. Mehr Daten sind in vielen Fällen auch einfach mehr Micromanaging. Wie der Stasispitzel, der den Abfall durchwühlt auf der Suche nach dem Puzzlestück, das das Bild vervollständigt und plötzlich alles ganz einfach macht. Aber wie es mit der DDR ausging, wissen wir ja.
Nachtrag
Ich habe meinem Partner den Fitnesstracker übrigens nicht vom Handgelenk gerissen. Ich bin auch nicht darauf herumgetrampelt; stattdessen habe ich gesagt „Oh, das ist ja interessant.“ Hätte ich jedoch zu diesem Zeitpunkt selbst so ein Gerät getragen – es hätte garantiert festgestellt, dass mein Blutdruck in die Höhe geschnellt ist.
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Wo ist der Mehrwert dieses Artikels?
Heute ist so gut wie alles technisch machbar, die Frage sollte eben sein, ob es auch sinnvoll ist. Von den Messwerten kann man sich eben auch leicht in den Wahnsinn treiben lassen. Wenn diese einem dabei helfen gesteckte Ziele zu erreichen oder aufgrund von z.B. Krankheiten bestimmte Aktivitäten zu überwachen: warum nicht! Aber alles Andere ist und bleibt Spielkram, auf den zumindest ich mein Leben lang verzichten werde. Mein Leben kann ich auch, oder gerade deswegen, genießen, weil mir egal ist, ob ich heute 5000 oder 6000 Schritte gelaufen bin, meine Beine wissen schon, was geleistet worden ist.
Vielen Dank für den lesenswerten Artikel!