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Flüstern bis zum Orgasmus – das ASMR-Phänomen

Was haben Luftpolsterfolie, lange Fingernägel und eine Hand voll Schleim gemeinsam? Sie sind Teil eines Internet-Hypes, dessen Ziel es ist, unsere Sinne zu neuem Leben zu erwecken.

Von Noëlle Bölling
4 Min.
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(Foto: Shutterstock)

Tasten, sehen, riechen, hören, schmecken: Unser Körper ist von Natur aus bestens dazu ausgestattet, alle Sinneseindrücke um uns herum auf verschiedenste Arten wahrzunehmen. Während unsere Vorfahren noch auf das Zusammenspiel aller Sinne angewiesen waren, um Gefahren zu erkennen und so ihr Überleben zu sichern, sind es in unserem heutigen Alltag vor allem unsere Augen, die beansprucht werden.

Fast jeder Zweite arbeitet in Deutschland inzwischen am Computer. Das ergab der von Bitkom durchgeführte Digital Office Index 2018. Und nach Feierabend? Da checken wir auf dem Smartphone unsere Mails, shoppen am Tablet oder gönnen uns ein paar Folgen unserer Lieblingsserie auf Netflix. Die jährliche Onlinestudie von ARD und ZDF ergab, dass erstmals 90 Prozent der Deutschen online sind. Während die Quote zur Jahrtausendwende noch bei nur knapp 29 Prozent lag, ist das Internet jetzt ein elementarer Teil des Lebens geworden – und zwar völlig über alle soziodemografischen Grenzen hinweg.

Willkommen im digitalen Zeitalter

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Ein Großteil der Informationen, die wir tagtäglich aufnehmen, erreicht uns somit auf digitalem Wege. Das macht die Verarbeitung für unsere Augen nicht weniger anstrengend. Wir müssen dauerhaft den Fokus behalten. Unser Sehnerv steht unter ständiger Anspannung. Das kann nicht nur zu Kopfschmerzen führen, sondern langfristig sogar zu Kurzsichtigkeit. Gleichzeitig muss unser Gehirn in Sekundenbruchteilen selektieren, was für uns in diesem Moment wichtig ist und was nicht. Während man beispielsweise beim Lesen eines Buches durch das Medium selbst nur wenig abgelenkt werden kann, ist ein Online-Artikel häufig von Werbung flankiert, die sich in Form von Popups oder blinkenden Bannern jederzeit in unser Blickfeld mogeln will. Auch ihre Funktion besteht darin, ein Maximum unserer Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Wenn dann noch eine wichtige Mail am unteren Bildschirmrand aufpoppt, ist es mit der Konzentration oft ganz vorbei.

Die fortwährende Informationsflut führt nicht selten zu digitalem Stress. Und die Zukunft dürfte sogar noch düsterer aussehen: Viele Kleinkinder können ein Smartphone entsperren, noch bevor sie Laufen lernen. Dinge wie Seilspringen, schaukeln oder auf Bäume klettern rücken dagegen immer weiter in den Hintergrund. Dabei sind es gerade solche kindlichen Spielereien, durch die wir unsere Sinne maßgeblich schulen.

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Lieber was zum Anfassen

Interessant ist jedoch, dass das Bedürfnis, unsere Welt mit allen Sinnen zu erfahren, angesichts der Digitalisierung keineswegs schrumpft. Im Gegenteil. Egal, ob Mandalas malen, basteln oder stricken: Was vor nicht allzu langer Zeit noch als uncooler und unnützer Zeitvertreib abgetan wurde, erfreut sich heute größter Beliebtheit. Im Rahmen einer GFK-Studie gaben über 36 Prozent der Befragten an, sich dabei entspannen und vom Alltagsstress ablenken zu können. Ein Drittel nannte den Wunsch, etwas mit eigenen Händen zu fertigen und praktische Ergebnisse sehen zu können. Eine Sehnsucht, die unser digitaler Alltag kaum stillen kann. Kein Wunder also, dass das Geschäft mit kreativen Hobbys boomt.

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Die ASMR-Youtuber treiben das Ganze noch eine Stufe weiter. Manche von ihnen essen vor dem Mikrofon knusprige Zwiebelringe. Andere zupfen an einer Netzstrumpfhose oder feilen sich die Nägel. Klingt verrückt? Ist es aber nicht. Denn das, was in der Wissenschaft den komplizierten Namen „Autonomous Sensory Meridian Response“ trägt, ist tatsächlich eine äußerst angenehme, wenn auch schwer zu erklärende Sinneswahrnehmung, die nachgewiesenermaßen entspannt und die Herzfrequenz senkt. Auch die Erotikbranche will sich den Effekt jetzt zunutze machen. „Flüstern bis zum Orgasmus“, ist hier das Versprechen.

Von Zungenschnalzen bis Regenprasseln

Durch mehr oder weniger subtile Geräusche sollen bei den Zuschauern sogenannte „Tingles“ ausgelöst werden. Mithilfe von Kopfhörern werden die Video- und Audio-Sequenzen zu einem intensiven 360-Grad-Erlebnis. Mal kommt das Knirschen von hinten rechts, eine Sekunde später ist das Flüstern direkt am linken Ohr. Das Ergebnis: ein angenehmes Kribbeln am Kopf oder Nacken bis hin zu Gänsehaut an Armen oder sogar am ganzen Körper. Forscher an der Ohio State University sehen sogar Parallelen zum „Grooming“ bei Primaten. Das dient nämlich nicht nur der Fellhygiene, sondern stellt einen wichtigen Teil ihres Soziallebens dar.

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Dass liebevolle Berührungen wie Umarmungen oder Streicheln auch uns Menschen gut tun, ist durch die Wissenschaft längst belegt. Die ASMR-Videos versuchen diesen positiven Effekt lediglich auf digitalem Wege zu imitieren. Werden unsere Nervenbahnen entsprechend aktiviert, führt dies in unserem Gehirn zur Ausschüttung des Hormons Oxytocin, das auch die Empfindlichkeit für Endorphine erhöht – wir fühlen uns glücklich.

Fakt ist: ASMR ist keine Erfindung der digitalen Neuzeit. Wissenschaftlich ist das Phänomen zwar noch relativ wenig erforscht, doch die Vermutung legt nahe, dass es ebenfalls eine äußerst positiven Einfluss auf uns und unseren gesamten Organismus hat. Es ist ganz einfach eine Sinneserfahrung, die seit Urzeiten in uns steckt und Kanäle wie Youtube, Spotify und Co. bieten die Möglichkeit, sie jetzt neu zu erleben. Der Hype um das angenehme Kribbeln ist also vielmehr das Ergebnis eines Mangels an komplexen Sinneserfahrungen – und der ist bei vielen leider allgegenwärtig. Unser Körper ist ein weit verzweigtes Wahrnehmungssystem, dem die tägliche, visuelle Überreizung alles andere als gerecht wird. Am Ende sind es eben oft die ganz kleinen Dinge, die uns die Komplexität unserer Sinne erst erfahrbar machen.

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Basti

Ich habe über 100 ASMR Videos gemacht und meiner Erfahrung nach spiel das Storytelling eine wichtige Rolle. Es wird ganz automatisch zur Daily Soap, in der sich ASMRist und die Kommentierende näher kennenlernen und zu Insidern der Geschichte werden, die weniger stressig als der Kram im Fernsehen ist.

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