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Internet-Exzeptionalismus: Der schleichende Tod des Internets als etwas Besonderes

Lassen sich die Regeln der physischen Welt auf das Internet übertragen? Der 90er-Jahre-Internet-Enthusiasmus ist mausetot – und mit ihm auch die These vom Internet als etwas Besonderem, zumindest in seiner extremen Form. Die Neuland-Kolumne.

Von Stephan Dörner
8 Min. Lesezeit
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Protest für Internet-Freiheit. Ist das Internet etwas Besonderes? (Foto: Shutterstock)

Die kalifornische Ideologie der Internet-Ureinwohner

Das natürliche Habitat der Internet-Ureinwohner ist die akademische Elite Kaliforniens. Das Netz ist daher nicht im luftleeren Raum entstanden, sondern enthält eine Menge „kalifornische Ideologie“. Die britischen Sozialwissenschaftler Richard Barbrook und Andy Cameron bezeichneten damit in den 1990er Jahren kritisch die Mischung aus dem Freiheitsglauben der Hippies mit dem Glauben an technischen Fortschritt und freie Märkte. Das Internet war in dieser Vorstellung in die damals allgemein vorherrschende westliche Geschichtsschreibung perfekt eingebunden: Es war ein Instrument, den „Endzustand“ der Menschheit – Demokratie, Menschenrechte und Kapitalismus – möglichst schnell weltweit zu verteilen.

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Doch dieses „Ende der Geschichte“, wie es der US-Politikwissenschaftler Francis Fukuyama damals bezeichnete, blieb aus. Der Dreiklang aus Demokratie, Menschenrechten und Kapitalismus hat nicht gesiegt – die bald größte Volkswirtschaft der Erde, China, kommt bis auf Weiteres gut ohne Demokratie und Menschenrechte aus. Und selbst in den scheinbar gefestigten Demokratien des Westens ist mehr als 30 Jahre nach der Erfindung des World Wide Web und mehr als 50 Jahre nach den Anfängen des Internets einiges in Wanken gekommen – nicht wenige behaupten, auch aufgrund des Internets.

Und doch bliebt die kalifornische Ideologie in diversen Formen lebendig – unter anderem in den Giganten des Internets wie Google und Facebook. Die universelle Vernetzung der Menschen über das Internet hat sich allerdings ganz anders ausgewirkt, als es sich die frühen Apologeten freier Netze erhofft hatten.

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Haben sich also die Werte der „Ureinwohner“ des Netzes durch die globale Macht der GAFA-Konzerne (Google, Amazon, Facebook und Apple) durchgesetzt – oder hat vielmehr der Rest der Menschheit das Netz domestiziert und den eigenen Mainstream-Regeln unterworfen? Die Antwort ist vermutlich: Beides hat sich gegenseitig beeinflusst – und dabei auch gewandelt. Vieles von dem, was frühe Apologeten des gesellschaftlichen Wandels durch das Internet schon 1999 im Cluetrain-Manifest geschrieben haben, war weitsichtig – anderes bestenfalls naiv.

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Die gescheiterte Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace

Aus der Mode geraten ist im Jahr 30 seit dem Beginn des WWW jedenfalls eine zentrale Auffassung vieler Digital Natives aus den Anfangstagen des Web: Auf dem Treffen der Politik- und Wirtschaftselite in Davos im Februar 1996 verkündete der Bürgerrechtler und Songschreiber der Rockband Grateful Dead, John Perry Barlow, noch die Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace. „Regierungen der industriellen Welt, ihr müden Riesen aus Fleisch und Stahl, ich komme aus dem Cyberspace, dem neuen Zuhause des Geistes“, begann leicht pathetisch seine damals verlesene Erklärung. „Als Vertreter der Zukunft bitte ich euch aus der Vergangenheit, uns in Ruhe zu lassen. Ihr seid nicht willkommen unter uns. Ihr habt keine Souveränität, wo wir uns versammeln.“

Der 2018 verstorbene Netzaktivist John Perry Barlow auf einem Archivfoto von 2014. (Foto: dpa)

Der 2018 verstorbene Netzaktivist John Perry Barlow auf einem Archivfoto von 2014. (Foto: dpa)

Die Botschaft war klar und hallt bis heute nach, wenn Politikerinnen und Politiker wieder einmal davon sprechen, dass das Internet „kein rechtsfreier Raum sein darf“ – was es nie war. Die libertäre Idee Barlows: Durch die dezentrale Struktur des Internets entsteht eine unregierbare Sphäre, die daher nach eigenen Regeln verlangt. Staaten haben hier nichts zu melden. Heute kann die These von der Souveränität des Internets durch Unregierbarkeit als widerlegt gelten.

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Die Vorstellung, dass das Internet einen neuen, eigenen, souveränen Raum bildet, der unabhängig von staatlichem Einfluss bleibt und sich eigene Regeln geben muss, war die extremste Form dessen, was vor allem unter US-Juristen Internet Exceptionalism genannt wird: Es ist die These, dass das Internet etwas Besonderes ist, das sich nicht mit den juristischen Regeln der physischen Welt fassen und regulieren lässt.

Die weniger extreme Variante dieser Position galt in den 1990er Jahren als Mainstream: Das Internet, so vor allem die gängige Auffassung in den USA, sei mit seiner dezentralen und globalen Struktur schlicht zu komplex, um es effektiv zu regulieren. 1998 spottete der damalige US-Präsident Bill Clinton: „Es steht außer Frage, dass China versucht, das Internet zu kontrollieren – viel Glück damit.“ Das sei in etwa so erfolgsversprechend wie der Versuch, einen Wackelpudding an die Wand zu nageln. Clinton irrte – Chinas autoritäre Regierung hat das Internet heute weitgehend im Griff.

Natürlich gibt es mit dem Darknet eine Sphäre des Internets, die sich der Regulierung tatsächlich bis heute weitgehend entzieht. Es bleibt aber eine kleine, im Vergleich zum Mainstream-Internet unbedeutende Nische. Neben Dissidenten ist es vor allem der virtuelle Raum von Kriminellen, so wie es immer schon illegale Treffpunkte und Kommunikationsräume krimineller Strukturen gab. Doch selbst das Darknet hat seinen Mythos als unkontrollier- und unzensierbares Netz verloren – immer häufiger gelingt es Behörden, gegen illegale Shops des Darknet erfolgreich vorzugehen. Dazu reichen herkömmliche Ermittlungsmethoden.

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Ist die These vom Internet-Exzeptionalismus also tot? Zumindest in der extremen Form der von Barlow 1996 behaupteten Internet-Souveränität, schrieben die US-Juristen Berin Szoka und Adam Marcus bereits 2011 in ihrem Essay „Is Internet Exceptionalism Dead?“ und verwiesen dabei vor allem auf China. „Der Wackelpudding wurde irgendwie doch an die Wand genagelt.“ Neun Jahre später gibt es zahlreiche Berichte aus China, dass der Staat inzwischen auch massiv gegen die vor wenigen Jahren noch verbreiteten VPN-Dienste vorgeht und damit die gerade unter Akademikern üblichen Zensurumgehungsmaßnahmen effektiv bekämpft.

Wird das Internet den Gesetzen angepasst oder die Gesetze dem Internet?

Die Unregierbarkeit des Netzes hat sich also vorerst als falsch erwiesen. Doch bringt das Internet als große Kopiermaschine nicht seine eigene Dynamik mit, die sich letztlich auf die Gesetzgebung auswirkt? Muss sich nicht beispielsweise das Urheberrecht an die Dynamik des Internets anpassen, statt dass Regierungen versuchen, die alten Regeln des 19. Jahrhundert auf das Internet anzuwenden?

„Statt Demokratie brachte [das Internet] Wahlmanipulationen, statt Meinungsfreiheit Fake News.“

Auch hier deutet die 2019 beschlossene EU-Richtlinie zu einer Reform des Urheberrechts in die andere Richtung. Die Regeln werden eher noch verschärft, Internet-Plattformen unter hohen Strafanforderungen in die Pflicht genommen, sie durchzusetzen. Netzaktivisten befürchten die Zerstörung der Internet-Kultur, die beispielsweise von Memes geprägt ist, die überwiegend auf urheberrechtlich geschütztem Bildmaterial beruhen.

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Vom Ende des Internet-Exzeptionalismus sprach schon 2017 auch der Digitaljournalist Per Strömbeck. Der Niedergang der Idee des Internets als etwas Besonderem, das spezielle Regeln benötigt, ging dabei auch mit einem rapidem Imageverlust des Netzes einher. Das Internet, schreibt Strömbeck, „war so besonders am Ende anscheinend doch nicht. Statt Demokratie brachte es Wahlmanipulationen, statt Meinungsfreiheit Fake News. Nicht Pluralismus, sondern eine Monokultur. Nicht Qualität, sondern Algorithmen-Idiokratie. Keine Graswurzel-Bewegung, sondern Hochhäuser.“

Insbesondere Netzaktivisten wie die nur kurzzeitig erfolgreichen Piraten-Parteien in Europa warnten vor einer Totalüberwachung, sollten die Staaten versuchen, ihre alten Regeln von Copyright und Urheberrecht auf das Internet zu übertragen. „Der Überwachungsstaat kam tatsächlich“, schreibt Strömbeck, „aber nicht durch das Copyright, sondern durch die Internet-Unternehmen. Die Piraten haben auf das falsche Pferd gesetzt. Nicht Hollywood hat das Internet zerstört, es war das Silicon Valley.“ Und was würde ein unreguliertes Internet in Zeiten der GAFA-Ökonomie schon bedeuten? Doch vor allem ein Netz, das von Google, Amazon und Facebook regiert wird.

Eine der letzten Fronten der kalifornischen Ideologie erhalten die großen Tech-Konzerne derzeit noch gegen den Druck von Regierungen rund um die Welt aufrecht: die verschlüsselte private Kommunikation im Netz, die sich dem Zugriff von Geheimdiensten entzieht. Allen Forderungen, insbesondere der US-Regierung unter Präsident Donald Trump nach dem Einbau von Hintertüren, haben sich die Tech-Konzerne bisher verwehrt – auch mit dem legitimen Hinweis, dass eine Hintertür nicht nur von denen ausgenutzt werden kann, für die sie bestimmt ist.

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Und auch in der Frage des Urheberrechts scheint das letzte Wort noch nicht gesprochen. Sobald Politikerinnen und Politiker in Machtpositionen vorrücken, die mit dem Internet aufgewachsen sind, scheint es wahrscheinlich, dass sie mehr Verständnis für die Dynamik des Netzes zeigen, in der jeder schnell zum Opfer einer teuren Abmahnung werden kann, weil er oder sie ein Foto bei Facebook teilt.

Wo nicht nur Wolfgang Schäuble irrt

Zudem fällt auf, dass die etablierte Politik mit dem Internet-Exzeptionalismus recht willkürlich umzugehen scheint, wie Sascha Lobo bereits 2013 beim Spiegel feststellte: Das Internet sei immer genau dann etwas Besonderes, wenn es in die eigene Agenda passt. „Eine Maßnahme wie Vorratsdatenspeicherung lässt sich überhaupt nur ohne rechtsstaatliche Schamesröte denken, wenn man das Netz als etwas völlig anderes betrachtet“, schrieb Lobo.  „Würde jemand in der nichtdigitalen Welt eine vorsorglich überwachende Speicherung sämtlicher Verbindungsdaten der gesamten Bevölkerung ohne jeden Anlass vorschlagen – intime Briefe, Gespräche mit Kollegen, gelesene Zeitungsartikel, Bücher und so fort – der betreffende Politiker würde medial geteert und gefedert oder gar in die CSU strafversetzt.“ Dass sich Teile der etablierten Politik insbesondere aus CDU, CSU und SPD damit geistig in gewisser Weise in der Tradition des radikaler Netzvordenker wie Barlow aus den 1990ern befinden, ist diesen dabei natürlich überhaupt nicht bewusst.

Ein aktuelles Beispiel dafür lieferte kürzlich die von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) aufgewärmte Debatte um eine Klarnamenpflicht im Internet. „Die Regeln und Werte, die in der analogen Welt gelten, müssen auch in der digitalen Welt gelten. Dazu passt Anonymität nicht“, wurde Schäuble von Medien zitiert – ohne zu merken, dass er sich selbst widerspricht. Denn die Forderung nach einer Pflicht, dass kein Mensch in Deutschland mehr ohne vollem Namen auf der Stirn das Haus verlassen darf, wäre selbst für die konservativsten Innenpolitiker Deutschlands undenkbar.

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Anhänger des freien Netzes sollten sich daher vielleicht damit abfinden, dass sich mit der zunehmenden Verschmelzung von Internet und physischer Welt eine Sonderstellung des Internets nicht mehr argumentieren lässt – und stattdessen beispielsweise darauf hinweisen, dass das die anonyme Teilnahme am gesellschaftlichen Leben in der physischen Welt ein lange etabliertes Grundrecht ist.

Wenn die mit dem Internet verknüpfte Freiheitsideologie aber wieder an Oberwasser gewinnen will, muss das Internet selbst wieder stärker den Idealen nahekommen, die die Ureinwohner des Netzes einst vertraten. Ein dezentral organisiertes Netz, das von keinem Unternehmen dominiert wird, das freie Kommunikation erlaubt und allein durch seine Struktur einen Charakter hat, der Autorität infrage stellt. In der Technologie selbst ist diese Ideologie bis heute angelegt. Das zeigt sich zum Beispiel dann, wenn die Nutzerinnen und Nutzer kreative Wege finden, um staatlicher oder anderer Überwachung zu entkommen: Hongkong-Demonstranten, die via Tinder kommunizieren, oder Kinder, die sich elterlicher Kontrolle entziehen, indem sie den Chat aus Clash of Clans nutzen.

Die US-Juristen Szoka und Marcus vergleichen in ihrem Essay „Is Internet Exceptionalism Dead?“ den Internet-Exzeptionalismus mit dem Amerikanischen Exzeptionalismus. Und so wie die USA das Muster durchbrochen haben, dass demokratisch organisierte Republiken historisch immer wieder in Diktaturen zurückgefallen sind, könnte auch das Internet das Muster durchbrechen, nach dem einst offene Informations-Netzwerke wie in der Anfangszeit das Radio mit der Kommerzialisierung und größerer Reife der Technologie zu geschlossenen Netzwerken mit wenigen dominanten Spielern werden.

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Entscheidend dafür wird aber sein, was wir – die Nutzerinnen und Nutzer – mit der Technologie künftig anstellen. Verbringen wir mehr und mehr Zeit in Internet-Silos von Tiktok bis Snapchat oder nutzen wir wieder mehr die Strukturen des offenen Webs wie eigene Blogs?

PS: Auf das Thema Internet-Exzeptionalismus brachte mich Sascha Lobo in unserem gemeinsamen Podcast. Seine eigenen Gedanken zum Thema aus dem Jahre 2013 findet ihr beim Spiegel.

Mehr Neuland-Kolumnen von t3n.de-Chefredakteur Stephan Dörner:

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netter Artikel, allerdings stellenweise sehr lange, verschachtelte Sätze und vereinzelte Fehler, welche das Lesen nicht gerade einfach macht.

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