Wäre Edgar ein Fahrschüler, würde er bei seiner Runde durch die Münchener Innenstadt sicher ins Schwitzen kommen. Die Straßenränder sind dicht beparkt, unzählige Dinge passieren gleichzeitig. Busse und Trams, Taxis, Lkws und Menschengruppen in Tracht schieben sich durch die Straßen. Es ist das perfekte Chaos. Und mittendrin ein autonom fahrender, weiß-blauer Shuttlebus, der sich beweisen soll – Edgar.
Hände weg vom Steuer: Ich sehe was, was Edgar sieht
Drei Jahre lang haben Wissenschaftler:innen am Lehrstuhl für Fahrzeugtechnik der Technischen Universität München am Bus getüftelt, haben ihn mit Lidar-Sensoren ausgestattet, Kameras installiert, LED-Signale für die Kommunikation mit Fußgängern entworfen, digitales Kartenmaterial und KI-Software optimiert. Jetzt ist Edgar bereit für das ultimative Wiesnchaos – und für Mitfahrende.
Drei Leute passen auf die Rückbank des Shuttles. Im Kofferraum surrt eine Lüftung, die die aufgebaute Technik kühlt. Fahrersitz und Beifahrersitz sind für den Sicherheitsfahrer und einen Software-Operator reserviert – ohne die und einige andere Anpassungen wäre Edgar nicht für den Straßenverkehr zugelassen worden.
Zwei Tage lang nimmt der blau-weiße Bus Presse, Promis und interessierte Bürger:innen mit auf eine 1,3 Kilometer lange Runde nahe der Münchener Theresienwiese. Finanziert wird das Wiesn-Shuttle im Rahmen des Münchner Cluster für die Zukunft der Mobilität in Metropolregionen (MCube) von der Landeshauptstadt München, dem Tüv Süd, Saneon und Fernride.
Die Fahrt startet auf Knopfdruck, dann dreht sich das Lenkrad wie von Zauberhand, Edgar biegt von seinem Abstellplatz auf die Straße. Wer auf der Rückbank sitzt, sieht auf zwei Bildschirmen, was der VW-Bus in seiner Umgebung registriert. Ampeln, Spurverlauf, andere Autos, Fahrradfahrer, Zebrastreifen und immer wieder Menschen. Die sind in der grafischen Darstellung für die Wiesn-Fahrten standardmäßig mit Lederhosen ausgestattet. Das Bild springt und ändert sich in Sekundenbruchteilen – so wie die Verkehrslage eben auch.
Edgar fährt zwar maximal 30 Kilometern pro Stunde, dafür aber souveräner als so mancher Fahranfänger. Er bremst erstaunlich sanft, um eine Postbotin auf dem Fahrrad vorbeizulassen, registriert die Abbiegespur und ordnet sich zügig ein, um dann vor der roten Ampel punktgenau anzuhalten.
Autonomes Fahren: Fernsteuerung inklusive
Nur manchmal, da braucht Edgar noch Hilfe. Zum Beispiel, wenn hinter einem Lkw, der in einer Lieferzone steht, ein Auto aus einer Ausfahrt kommt und sich – zugegeben, ziemlich flott – vor Edgar einordnen will. Ein menschlicher Autofahrer hätte das nahende Auto im Spiegel auf der anderen Straßenseite erkannt und abgebremst. Edgar hat mit Spiegeln am Straßenrand aber noch so seine Probleme und bremst erst, als er das Auto direkt vor sich wahrnimmt. Weil das dann aber doch etwas spät ist, schießen schon Sekunden vor der Bremsung die Hände des Sicherheitsfahrers aufs Lenkrad und lenken zum Ausweichmanöver. Ein bisschen wie in der Fahrschule ist Edgars Fahrt also dann doch.
Szenario zwei, das den Bus aus dem Konzept bringt, wird noch einmal anders gelöst. Kurz vor dem Ziel stoppt das Shuttle, die Straße ist mit einem Gitter halb abgesperrt. Das zugehörige Schild verrät: Die Durchfahrt ist verboten, außer für Anwohner. Edgars erster Reflex in ungewissen Situationen, so erklärt Maximilian Hübner aus dem Forschungsteam, ist grundsätzlich das Anhalten.
Hübner sitzt mit auf der Rückbank, seine Kollegen auf den Vordersitzen haben keine Zeit für Erklärungen. Sie sind konstant in Hab-Acht-Stellung, ob Fahrschüler Edgar Herausforderungen alleine bewältigen kann oder sie doch eingreifen müssen. Ein anspruchsvoller Job – die Fahrteams werden deshalb mehrfach am Tag gewechselt.
Das Manöver ums Sperrschild wird dieses Mal aus der Ferne eingeleitet. Ein paar Straßen weiter greift eine Tele-Operatorin am Infostand zum Wiesnshuttle per Fernsteuerung auf Edgars System zu. Der Beifahrer im Bus gewährt ihr Zugriff, sodass sie auf ihrem Monitor all das sieht, was Edgars Sensoren wahrnehmen. Mit Blick auf die Verkehrskarte kann die Operatorin jetzt entweder Punkte markieren, die Edgar abfahren soll, um am Sperrgitter vorbeizukommen – oder sie greift selbst zu einem Lenkrad, das mit Edgars Steuerung verbunden ist.
Direktes Feedback, ob der gewählte Kurs gepasst hat, gibt’s per Telefon vom Beifahrer – und weil die angepeilte Kurve dann doch etwas weitläufig ausfällt, korrigiert der Sicherheitsfahrer noch einmal nach. Den Rest der Runde meistert das Shuttle dann wieder alleine – nur das Einparken am Zielort läuft wieder von Menschenhand.
Wiesn-Verkehr in München: „Wenn wir hier fahren, können wir überall fahren“
Zurück am Stand erklärt Maximilian Hübner noch einmal, warum Edgar letztendlich zum Wiesn-Shuttle wurde. „Die Komplexität hier ist denkbar hoch, weil es enorm viele unterschiedliche Verkehrspartner gibt. Wenn wir hier fahren können, dann können wir überall fahren.“
Denkt man sich all die Menschen weg, die Edgar in seinem Amt als Wiesn-Shuttle zulassungsbedingt begleiten, könnte der Bus in bestimmten Gebieten auch schon komplett eigenständig auf Tour gehen. Auf der Skala für autonomes Fahren, die die internationale Society of Automotive Engineers festgelegt hat, lässt sich Edgar ins vierte von fünf Autonomie-Leveln einordnen. Zum Vergleich: Ein herkömmlicher Tesla hat Technik verbaut, die das Level 2 Plus ermöglicht.
„Wir wollen damit den Ball noch einmal mehr ins Rollen bringen.“
Alle Learnings, die Edgar auf seinen Oktoberfest-Routen macht, landen im Software-Stack des Projekts – und der ist Open Source via GitHub zugänglich. „Wenn sich also zum Beispiel ein großes Unternehmen dieses Fahrzeug genau so anschaffen würde, könnte es das komplette System oder einzelne Module einfach übernehmen“, sagt Hübner. Die Idee dahinter: „Wir wollen damit den Ball noch einmal mehr ins Rollen bringen“.
Denn die deutschen Autobauer seien derzeit zu vorsichtig und ausgeruht unterwegs, sagt Hübner. „In China und den USA werden schon große Schritte beim autonomen Fahren gemacht. Deutschland definiert sich als Land des Autos – jetzt müssen wir schauen, dass wir den Anschluss nicht verlieren“.
MCube-Geschäftsführer Oliver May-Beckmann ergänzt zum Open-Source-Aspekt: „Wir hoffen, dass sich uns ganz viele Forschungseinrichtungen und Universitäten anschließen, um die Entwicklung nicht nur der Automobilindustrie zu überlassen. Die ist gerade viel damit beschäftigt, zu schauen, wie sie in den nächsten fünf Jahren betriebswirtschaftlich über die Runden kommt. Wir müssen aber auch langfristig denken und neue Businessmodelle, die uns über die nächsten 10, 15 Jahre begleiten, schon jetzt im Auge behalten – sonst werden wir, wie bei der Elektromobilität, abgehängt“.
Mit dem Wiesn-Shuttle will das Projektteam außerdem das Feedback der Bürgerinnen und Bürger zum autonomen Fahren einholen. Wer mitfährt, wird danach unter anderem gebeten, einen kurzen Onlinefragebogen auszufüllen. „Wir sind der Überzeugung, dass autonome Fahrzeuge innerhalb der nächsten zehn Jahre Einzug in den Straßenverkehr halten werden. Und zwar nicht, damit wir morgens alle alleine im Auto sitzen und Zeitung lesen können, sondern als Ergänzung zum ÖPNV“, so May-Beckmann.
Bis es so weit ist, wird Edgar wohl noch die ein oder andere unbekannte Situation begeben – und wie ein Fahrschüler lernt er im Laufe der Zeit dazu.