Sozial im Internet: Wir müssen die großen Plattformen hinter uns lassen

Jeder weiß, dass das Internet ein grauenhafter Ort sein kann. Eine Ansammlung von „Höllenseiten“, eine Büchse der Pandora, ein Quell von Fehlinformationen, Mobbing, Manipulation und Missbrauch. Aber das Internet ist auch ein Zufluchtsort, ein Ort der Unterstützung, der Fürsprache und der Gemeinschaft. Es bietet Informationen in Krisenzeiten. Es kann uns mit lange verschollenen Freunden in Verbindung bringen. Es kann uns zum Lachen bringen – oder eine Pizza schicken. Es ist gut und schlecht zugleich, eine Dualität, und ich weigere mich, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Es lohnt sich, für das Internet zu kämpfen, denn trotz all des Elends gibt es dort noch so viel Gutes zu finden. Zu behaupten, das sei nicht einfach, ist eine Untertreibung. Das Internet ist ein schwieriges Problem par excellence. Aber ich habe eine Idee.
Dieser Artikel ist zuerst in der Ausgabe 2/2024 von MIT Technology Review erschienen. Darin fokussieren wir uns auf die großen Probleme unserer Zeit. Hier könnt ihr die TR 2/2024 als Print- oder pdf-Ausgabe bestellen.
Um den Patienten zu heilen, müssen wir jedoch zuerst die Krankheit identifizieren. Wenn wir über das Internet sprechen, meinen wir damit nicht die physische und die digitale Infrastruktur: Die Protokolle, die Vermittlungsstellen, die Kabel und sogar die Satelliten selbst sind größtenteils in Ordnung. Das Internet, von dem wir hier sprechen, meint die beliebten Kommunikationsplattformen, die Sie wahrscheinlich in irgendeiner Form auf Ihrem Handy nutzen.
Mehr als nur Plattformen
Einige dieser Social-Media-Plattformen sind riesig: Facebook, Instagram, YouTube, TikTok, X. Mit ziemlicher Sicherheit haben Sie auf mindestens einer dieser Plattformen ein Konto; vielleicht sind Sie ein aktiver Poster, vielleicht blättern Sie nur durch die Urlaubsfotos Ihrer Freunde, während Sie auf dem Klo sind.
Obwohl das, was wir auf diesen Plattformen sehen, von Person zu Person sehr unterschiedlich sein kann, vermitteln sie Inhalte auf ganz ähnliche Weise, die mit ihren Geschäftszielen im Einklang steht. Ein Teenager in Indonesien sieht auf Instagram vielleicht nicht dieselben Bilder wie ich, aber die Erfahrung ist in etwa dieselbe: Wir scrollen durch einige Fotos von Freunden oder der Familie, sehen vielleicht ein paar Memes oder Posts von Prominenten; wir sehen uns ein paar Videos an, antworten vielleicht auf die Story eines Freundes oder verschicken einige Nachrichten. Auch wenn der eigentliche Inhalt sehr unterschiedlich sein mag, reagieren wir wahrscheinlich auf die gleiche Weise darauf, und das ist beabsichtigt.

Ob wie hier in Indonesien, in Europa oder den USA: Weltweit kommunizieren Teenager über soziale Netzwerke. (Bild: Shutterstock / Gatot Adri)
Alternative Social Media: Blogs, Messageboards, Newsletter
Das Internet existiert auch außerhalb dieser großen Plattformen; es gibt Blogs, Messageboards, Newsletter und andere Medienseiten. Es gibt Podcasts, Discord-Chatrooms und iMessage-Gruppen. Diese bieten individuellere Erfahrungen, die von Person zu Person sehr unterschiedlich sein können. Sie existieren oft in einer Art parasitärer Symbiose mit den großen, dominanten Akteuren und ernähren sich von den Inhalten, Algorithmen und dem Publikum des jeweils anderen.
Natürlich gibt es auch schlimme Dinge: 4chan und Daily Stormer, Rache-Pornos, Fake-News-Websites, Rassismus auf Reddit, Inspiration für Essstörungen auf Instagram, Mobbing, Belästigung, Betrug, Spam oder Incels. Es gibt eine Epidemie der Traurigkeit, der Einsamkeit und der Gemeinheit da draußen, die sich in vielen Online-Räumen selbst zu verstärken scheint.
Das existenzielle Problem besteht darin, dass sowohl die besten als auch die schlechtesten Teile des Internets aus den gleichen Gründen existieren. Die Erbsünde des Internets ist das Beharren auf Freiheit: Es wurde geschaffen, um frei zu sein, in vielerlei Hinsicht des Wortes. Das Internet war ursprünglich nicht für den Profit gedacht, sondern entwickelte sich aus einem Kommunikationsmedium, das für das Militär und die Wissenschaft bestimmt war.
Als sich das Internet in den 1990er-Jahren kommerziell zu entwickeln begann, war seine Kultur paradoxerweise antikommerziell. Viele der führenden Internet-Vordenker jener Zeit gehörten zur Generation X oder waren Anti-Establishment-Boomer. Sie setzten sich leidenschaftlich dafür ein, Software zu Open Source zu machen. Ihr Mantra war „Information will frei sein“. Dieses Ethos umfasste auch eine Leidenschaft für die Redefreiheit. Zufällig handelte es sich bei diesen Menschen allerdings häufig um wohlhabende weiße Männer aus Kalifornien, die die Schattenseiten der von ihnen geschaffenen Oasen der freien Meinungsäußerung nicht erkannten.
Der Sündenfall
Die Kultur der Freiheit im Internet erforderte allerdings auch Geld. Das kam über Werbung rein. In den 1990er- und sogar in den frühen Nullerjahren war Werbung im Internet ein unangenehmer, aber erträglicher Kompromiss. Die frühe Werbung war oft hässlich und lästig: Spam-E-Mails für Penisvergrößerungspillen, schlecht gestaltete Banner und schauderhafte Pop-up-Anzeigen. Aber sie ermöglichte es, dass die schönen Seiten des Internets – Messageboards, Blogs und Nachrichtenseiten – für jeden zugänglich waren.

Homepage von AOL im Mai 1998: Noch in den 1990er-Jahren war Werbung im Internet zwar aufdringlich, aber noch nicht personalisiert. (Bild: Screenshot: Technology Review)
Bis 1999. In diesem Jahr präsentierte das Werbeunternehmen DoubleClick zum ersten Mal eine Methode, personenbezogene Daten mit Tracking-Cookies zu kombinieren, um Werbung gezielter ausspielen zu können. Das Cookie, ursprünglich eine neutrale Technologie zur lokalen Speicherung von Webdaten auf den Computern der Nutzer, wurde zu einem Instrument, mit dem Personen im Internet verfolgt werden konnten.
Für die Internetnutzer der Jahrhundertwende war dies eine Abscheulichkeit. Nach einer Beschwerde bei der zuständigen Behörde, der Federal Trade Commission, nahm DoubleClick Teile seiner Pläne zurück. Aber die Idee, auf der Grundlage von persönlichen Profilen zu werben, setzte sich durch. Das war der Beginn der Ära des modernen Internets. Google kaufte DoubleClick 2008 für 3,1 Milliarden US-Dollar. In diesem Jahr erzielte Google Werbeeinnahmen in Höhe von 21 Milliarden US-Dollar. 2022 nahm die Google-Muttergesellschaft Alphabet 224,4 Milliarden US-Dollar an Werbeeinnahmen ein.
Werbung kann manchmal positive Wirkung haben
Nahezu das gesamte moderne Internet basiert auf gezielter Werbung, die unsere persönlichen Daten nutzt. Und das Geschäft läuft gut: Zusätzlich zu Googles Milliardeneinnahmen hat Meta im Jahr 2022 116 Milliarden US-Dollar eingenommen.
Wenn wir an die offensichtlichsten Probleme im Internet denken – Belästigung und Missbrauch, die Rolle des Internets bei der Zunahme von politischem Extremismus, Polarisierung und die Verbreitung von Fehlinformationen, die schädlichen Auswirkungen von Instagram auf die psychische Gesundheit von Mädchen im Teenageralter –, mag die Verbindung zur Werbung nicht offensichtlich erscheinen. Und in der Tat kann sie in dieser Hinsicht manchmal sogar eine positive Wirkung haben: Coca-Cola möchte keine Werbung neben Nazis schalten, also entwickeln Plattformen Mechanismen, um sie fernzuhalten.
Aber Online-Werbung verlangt vor allem eines: Aufmerksamkeit. Also begannen die Content-Produzenten – private Nutzer, aber natürlich vor allem Medienunternehmen –, ihre Inhalte auf Empörung zu optimieren, da diese Art von Inhalten besonders viele Interaktionen erzeugte.

Blogging-Pionier Anil Dash hat bereits in den Nullerjahren auf Bezahldienste im Internet gesetzt – und wurde damals dafür scharf kritisiert. (Foto: Glitch)
Es gibt das Argument, dass die großen Plattformen uns nur das geben, was wir wollen. Anil Dash ist Tech-Unternehmer und Blogging-Pionier und hat bei SixApart gearbeitet, dem Unternehmen, von dem die Blog-Software Movable Type stammt. Er erinnert sich an die Reaktionen, als sein Unternehmen Mitte der Nullerjahre begann, Gebühren für seine Dienste zu erheben: „Die Leute sagten: ,Ihr verlangt Geld für etwas im Internet? Das ist ja ekelhaft.‘ Aber ich glaube, wenn wir früher darauf gekommen wären, dann wäre die ganze Ära der sozialen Medien anders verlaufen.“
Die Konzentration der großen Plattformen auf Engagement um jeden Preis machte sie reif für die Ausbeutung. Twitter wurde zu einem „Honigtopf für Arschlöcher“, wo Trolle ein effektives Forum für koordinierte Belästigung fanden. Trolle entdeckten auch, dass Twitter manipuliert werden kann, um abscheuliche Phrasen trenden zu lassen. Die Dynamik der Plattform schuf ein so reichhaltiges Umfeld, dass Geheimdienste aus Russland, China und dem Iran – neben anderen – sie bis heute nutzen, um politische Spaltung und Desinformation zu säen.
„Der Mensch war nie dafür gedacht, in einer Gesellschaft mit zwei Milliarden Menschen zu leben“, sagt Yoel Roth, ein technologiepolitischer Mitarbeiter an der UC Berkeley und ehemaliger Leiter der Abteilung Vertrauen und Sicherheit bei Twitter. „Und wenn man bedenkt, dass Instagram in einer verdrehten Definition durchaus eine Gesellschaft ist, haben wir ein Unternehmen damit beauftragt, eine Gesellschaft zu leiten, die größer ist als jede, die jemals in der Geschichte der Menschheit existiert hat. Natürlich werden sie scheitern.“
Es gibt Hoffnung
Hier kommt jedoch die gute Nachricht: Wir befinden uns in einem jener seltenen Momente, in denen ein Wandel möglich sein könnte. Ein positives Zeichen ist die wachsende Einsicht, dass man manchmal für etwas bezahlen muss. Auf Plattformen wie Substack, Patreon und Twitch bezahlen Menschen tatsächlich einzelne Urheber. Das Freemium-Modell, das YouTube Premium, Spotify und Hulu erforscht haben, beweist, dass (einige) Menschen bereit sind, für werbefreie Erlebnisse Geld auszugeben. Eine Welt, in der nur die Menschen ihre Zeit und Aufmerksamkeit zurückgewinnen können, die es sich leisten können, 9,99 US-Dollar pro Monat zu zahlen, ist zwar nicht ideal, aber sie zeigt zumindest, dass ein anderes Modell funktionieren kann.
Föderierte Netzwerke
Eine weitere Sache, die optimistisch stimmt (auch wenn sich erst mit der Zeit herausstellen wird, ob sie sich tatsächlich durchsetzt), sind föderierte Netzwerke. Dienste wie Mastodon, Bluesky und Metas Threads sind oberflächlich betrachtet allesamt nur Twitter-Klone, aber sie sind auch alle darauf ausgelegt, verschiedene Formen der Interoperabilität anzubieten.
Während Ihr derzeitiges Social-Media-Konto und Ihre Daten in einem abgegrenzten, umzäunten Garten existieren, der ausschließlich von einem Unternehmen kontrolliert wird, könnten Sie bei Threads sein und den Beiträgen von jemandem folgen, den Sie bei Mastodon mögen – zumindest sagt Meta, dass das in Kürze der Fall sein wird.
Noch besser ist, dass diese Technologie eine dezentrale Moderation ermöglicht. X (früher Twitter) ist ein gutes Beispiel dafür, was schiefgehen kann, wenn eine Person, in diesem Fall Elon Musk, zu viel Macht hat.
Die große Idee ist, dass in einer Zukunft, in der die sozialen Medien stärker dezentralisiert sind, die Nutzer problemlos zwischen den Netzwerken wechseln können, ohne ihre Inhalte und ihre Anhängerschaft zu verlieren. „Wenn man als Einzelperson Hassreden sieht, kann man einfach gehen, ohne seine gesamte Gemeinschaft – sein gesamtes Online-Leben – zurückzulassen. Man kann einfach auf einen anderen Server umziehen und alle seine Kontakte migrieren, und das sollte in Ordnung sein“, sagt Paige Collings, leitende Sprach- und Datenschutzbeauftragte bei der Electronic Frontier Foundation. „Und ich denke, dass wir hier wahrscheinlich eine Menge Möglichkeiten haben, es richtigzumachen.“
Föderation und mehr Wettbewerb zwischen neuen Anwendungen und Plattformen bieten verschiedenen Gemeinschaften die Chance, die Art von Datenschutz und Moderation zu schaffen, die sie wollen, anstatt sich an die von oben verordneten Richtlinien zur Inhaltsmoderation zu halten, die in irgendeiner Zentrale in San Francisco entwickelt wurden. Yoel Roths Traumszenario wäre, dass in einer Welt kleinerer sozialer Netzwerke Vertrauen und Sicherheit von Drittunternehmen gemanagt werden könnten, die sich darauf spezialisiert haben, sodass soziale Netzwerke nicht jedes Mal ihre eigenen Richtlinien und Moderationstaktiken von Grund auf neu entwickeln müssten.
Die Lösung für das Internet ist mehr Internet.“
Der Tunnelblick auf das Wachstum hat für soziale Medien schlechte Anreize geschaffen. Die neue Form des Internets muss einen Weg finden, Geld zu verdienen, ohne um Aufmerksamkeit zu buhlen. Es gibt bereits einige vielversprechende neue Ansätze, um diese Anreize zu ändern. In Threads wird zum Beispiel die Anzahl der Repostings von Beiträgen nicht angezeigt – eine einfache Änderung, die einen großen Unterschied macht, weil sie keinen Anreiz zur Viralität bietet. Wir, die Internetnutzer, müssen aber auch lernen, unsere Erwartungen und unser Verhalten online neu zu kalibrieren. Wir müssen lernen, auch kleine Bereiche des Internets zu schätzen, wie einen neuen Mastodon-Server, Discord oder Blog. Wir müssen der Macht von 1000 wahren Fans mehr vertrauen als billig angehäuften Millionen.
Vielleicht schreibe ich all dies nur, weil ich den naiven Optimismus des frühen Internets nicht abschütteln kann. Sicher, es wurden Fehler gemacht, viele Dinge sind schiefgelaufen, und es gab unbestreitbar viel Schmerz, Elend und Schlechtes im Zeitalter der sozialen Netze. Doch der größte Fehler wäre jetzt, nicht aus ihnen zu lernen. Die Lösung für das Internet besteht nicht darin, Facebook abzuschalten oder sich abzumelden oder nach draußen zu gehen und Gras zu berühren. Die Lösung für das Internet ist mehr Internet: mehr Anwendungen, mehr Orte, an denen man sich aufhalten kann, mehr Geld, um mehr Gutes in größerer Vielfalt zu finanzieren, mehr Menschen, die sich an Orten, die sie mögen, wohl überlegt engagieren. Mehr Nutzen, mehr Stimmen, mehr Freude.