
Die App ermöglicht es Jugendlichen, in kurzen Videos lippensynchron aktuelle Pop-Hits nachzusingen, sich passend zur Musik zu bewegen und dies mit optischen Effekten, Filtern und Emojis unterlegen zu können. Auch Tiervideos und andere altbekannte Netzphänomene werden hierfür herangezogen. Das klingt im Prinzip erst einmal nicht nach einer Anwendung, hinter der irgendein vernünftiges Erlösmodell für marketinggetriebene Anwendungen stecken kann. Doch das Gegenteil ist der Fall.
Social-Media-Experte Felix Beilharz glaubt daran, dass Tiktok in den nächsten Jahren im deutschen Sprachraum einiges bewegen könnte – „allerdings ausschließlich bei (sehr) jungen Zielgruppen. Schon zu Zeiten, als die App noch Musical.ly hieß, erfreute sie sich großer Beliebtheit unter den Teens.“ Ob Unternehmen dort aktiv sein sollten, stellt Beilharz noch infrage. „Zielgruppen unter 18 kann man hier sicher gut erreichen, bei älteren Nutzern wird’s allerdings dünn, da ist Instagram die deutlich spannendere Plattform.“
Facebook Lasso kommt als Tiktok-Konkurenz
Auch Yuval Ben-Itzhak, CEO des Social-Media-Monitoring-Spezialisten Socialbakers, ist sich sicher, dass Tiktok im deutschen und europäischen Markt einiges bewegen kann: „Tiktok sollte man aus Marketing-Sicht definitiv im Auge behalten. Doch abgesehen von den hohen Download-Zahlen wird es vor allem darum gehen, wie viel Engagement in der App stattfindet und wie gut es Tiktok gelingt, die Nutzer zu halten.“ Dennoch, erklärt der Social-Media-Experte, könnte es Tiktok in den westlichen Märkten schwer haben, insbesondere angesichts von Facebook, die gerade bei den Vermarktern bestehende Geschäftsbeziehungen haben. Facebook hat seinerseits mit der App Lasso kürzlich eine ähnliche App gelauncht, die attraktiv für all jene jungen Zielgruppen sein soll, denen Facebook zu uncool ist. Fragt man Kinder und Jugendliche, greifen die aber offenbar deutlich häufiger zum Original als zu Lasso.
Das deckt sich auch mit ersten Zahlen, die man aus dem Umfeld von Tiktok findet: Das Netzwerk hatte weltweit im vergangenen Jahr rund 500 Millionen meist sehr junge Nutzer, alleine 65 Millionen in den USA – und war über Monate hinweg die am häufigsten herunter geladene App vor Facebook, Instagram, Snapchat und Youtube. In Deutschland sollen bereits 4,1 Millionen Monthly Active User die App nutzen, die die App im Schnitt achtmal am Tag öffnen und durchschnittlich 39 Minuten dort verbringen. Auch wenn die Zahlen offenbar aus einem geleakten Pitchdeck des Unternehmens stammen, mit dem man Kunden und Unternehmenspartner gewinnen will, zeigt sich doch, welches Potenzial Tiktok auch unter deutschen Jugendlichen hat.
Tiktok: In Fernost bereits ein Massenphänomen
Bytedance, das Unternehmen hinter Tiktok, das im chinesischen Original Douyin heißt, betreibt noch eine Reihe weiterer Portale, die bisher aber nur für den asiatischen Markt bestimmt sind. „Douyin ist ein Massenmedium in China und für den Bekanntheitsaufbau nicht zu unterschätzen. Auch ausländische Unternehmen nutzen mittlerweile Douyin“, erklärt Gina Hardebeck, die als Director China für die Kommunikationsagentur Storymaker westliche Unternehmen beim Marketing in Fernost unterstützt. Beispiele gibt es ebenfalls bereits: „Zunächst Airbnb, Harbin Beer und Chevrolet, gefolgt von Audi, Michael Kors oder Pizza Hut. Also Unternehmen unterschiedlicher Branchen, aber stets mit klarem Endkundenfokus.“
Um einen Fuß in die westlichen Märkte zu setzen, hat man im vergangenen Jahr die Musik-App Musical.ly erworben, die nun weiterentwickelt werden soll. Mit der hat man sich erst einmal Ärger eingehandelt, weil man als Rechtsnachfolgerin für die übernommene App Musical.ly in den USA aus Jugendschutzgründen eine Strafe in Höhe von 5,7 Millionen US-Dollar zahlen muss. Musical.ly hatte bei der Anmeldung von Jugendlichen unter 13 Jahren versäumt, das Einverständnis der Eltern einzufordern. Doch auch wenn es sich bei der Summe um eine Rekordstrafe handelt, dürfte sie den Machern nicht allzu weh tun.

(Bild: Tiktok)
Gerade für ein Portal wie Tiktok ist Jugendschutz natürlich ein wichtiger Punkt, wie auch eine deutsche Sprecherin des Unternehmens bestätigt. Man werde – abgesehen davon, dass die Vorwürfe sich auf die Zeit vor der Übernahme von Musical.ly durch Bytedance beziehen – hier in Zukunft alle geltenden Gesetze einhalten.
Bisher steht Nutzerwachstum bei Tiktok im Vordergrund
Derzeit baut das Unternehmen eine deutsche Niederlassung (mit Sitz in Berlin und einem Büro in München) auf. Man wolle, erklärt die Sprecherin, zunächst einmal das Nutzerwachstum und das Community-Building im Blick behalten. Die Zielgruppen sollen, so heißt es, „einfach in der Community Spaß haben und als Creators Videos so erstellen, wie sie das wollen“. Das Anzeigengeschäft und die Entwicklung von monetarisierbaren Geschäftsmodellen stehe dagegen zumindest bisher noch an zweiter Stelle. Immerhin experimentieren aber auch in Deutschland bereits erste wirtschaftliche Partner wie der FC Bayern München und Adidas mit der Wirkung der Plattform.
Darüber hinaus plant man, nicht nur Jugendliche anzusprechen, sondern man wolle in Zukunft auch ältere Zielgruppen für Tiktok begeistern – beispielsweise mit Challenges, also kleinen Wettbewerben, bei denen man sich wie ein Tier bewegen muss, sich wie der Teller einer Mikrowelle auf der Stelle dreht oder wie eine Figur aus einem bekannten Computerspiel tanzt. Dass sich dafür die Inhalte ändern müssen, ist relativ wahrscheinlich. Helfen könnte Bytedance dabei eine Musik-Streaming-App, an der das Unternehmen dem Vernehmen nach ebenfalls arbeitet.
Geld verdienen wird das Unternehmen mit den lustigen Videoschnipseln über kurz oder lang freilich auch können – und das dürfte kaum zu verhindern sein, wenn man in der Branche hört, wie viele Unternehmen sich derzeit bei ihren Dienstleistern nach dem Potenzial von Tiktok erkundigen. Kampagnen gab es bisher vor allem von den großen Marken wie Coca Cola (die haben eine #ShareACoke-Challenge ausgerufen, bei der man Videos davon machen sollte, wie man eine Coke mit Freunden teilt und dann ein Treffen mit einem Influencer gewinnen konnte), Adidas oder mit Sportvereinen wie dem FC Bayern München oder dem FC Liverpool. Wie man hört, geht es dabei aber insbesondere im deutschen Markt erst einmal um Erfahrungsgewinn, ohne dass konkrete Zielvereinbarungen und Werbebudgets dahinter stehen. Man verkaufe, so heißt, es noch keine Anzeigen, auch wenn es die konkreten Anzeigeformate schon gibt.
Bei seinen Anzeigeformaten bietet Tiktok noch ein deutlich weniger ausdifferenziertes Bild als andere soziale Netzwerke. Im Feed selbst lassen sich lediglich Native Ads von 9 bis 15 Sekunden Länge buchen. Ähnlich wie bei Snapchat lassen sich Anzeigen als Lenses buchen, die sich per 2D, 3D oder mit AR verfremden lassen. Ein bislang ausschließlich bei Tiktok verfügbares Werbeformat sind die Hashtag-Challenges: Hier lassen sich zum Markenumfeld passende Aufgaben und Herausforderungen definieren, die im besten Fall über einen Influencer transportiert werden können. Der hieraus entstehende User-Generated-Content transportiert das Anliegen der Marke und sorgt für einbeachtliches User-Involvement und eine hohe Verweildauer. Als viertes Format gibt es die Brand-Takeover-Anzeigen, die beim Start der App für einige Sekunden angezeigt werden und sich mit einem Call-to-Action, etwa dem Link auf eine Microsite, verknüpfen lassen.