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Kommentar

Mehrarbeit gegen Fachkräftemangel: Gabriel, Lindner und Co. liegen falsch

Gefühlt einmal pro Woche plädiert ein Lobbyist oder ein Politiker für Überstunden, eine längere Wochenarbeitszeit oder ein höheres Renteneintrittsalter. Unserem Autor platzt da der Kragen und er verrät auch, warum.

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Mehrarbeit gegen den Fachkräftemangel. (Foto: dpa)

Mehrarbeit gegen den Fachkräftemangel – das fordern Lobbyisten und Politiker dieser Tage. Eine kleine Auflistung: Bundesfinanzminister Christian Lindner schwört die Deutschen auf Überstunden ein, Steffen Kampeter von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände findet es absurd, dieser Tage von Arbeitszeitverkürzungen zu sprechen, Siegfried Russwurm vom Bundesverband der deutschen Industrie plädiert sogar für eine Regelarbeitszeit von 42 Stunden und der ehemalige Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel stimmte am Wochenende dem BDI-Chef auch noch zu. Viel hilft viel, so das Mantra.

Überstunden, 42 Stunden und Rente ab 70: Wow!

Bundesfinanzminister Christian Lindner schwört Deutsche auf Überstunden ein. (Foto: dpa)

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Doch ich frage mich ernsthaft: Kann man Menschen wie Maschinen hochfahren? Während ich diese Frage in meinem Kopf wälze, tippe ich sie mit zwei Mittelfingern in die Tastatur. Denn mir platzt da ehrlich gesagt bald der Kragen. Wir leben in einer Gesellschaft, in der die Wochenarbeitszeit für westliche Verhältnisse tendenziell hoch ist und in der ein gehöriger Teil des Wohlstands auf Überstunden basiert. Wir leben auch in Zeiten, in denen Ausfälle aufgrund von psychischen Erkrankungen und körperlichem Verschleiß seit Jahren kontinuierlich mehr werden. Die drei Top-Gründe für Ausfälle: Depressionen, Rückenleiden, Stress.

Wie kann das zusammen gehen? Sicherlich ist jede und jeder in der Lage, mal über einen kurzen Zeitraum länger zu arbeiten, mal die Ärmel hochzukrempeln und zu sagen: „Komm, den Auftrag sprinten wir jetzt durch!“ Aber geht das über einen Zeitraum von zehn Jahren, wie Sigmar Gabriel jetzt fordert? Sicherlich gibt es auch einige Menschen, die so lange wie möglich bis ins hohe Alter arbeiten wollen – ich zähle mich selbst dazu! Aber kann man von allen erwarten, das zu tun? Seien wir ehrlich: Das hält einfach nicht jeder durch. Mit einer 40-Stunden-Woche und einem Renteneintritt von 67 Jahren schon nicht.

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Was würde denn eine verlängerte Wochenarbeitszeit und ein späterer Renteneinstieg bringen? Ich sage es euch: noch mehr gesundheitsbedingte Ausfälle. Noch mehr Menschen, die ausbrennen, sowohl psychisch als auch körperlich, und am Ende vom Arbeitsmarkt verschwinden. Dann haben wir einen Bärendienst für die Schließung der Fachkräftelücken geleistet. Allein die Idee, den Fachkräftemangel durch Mehrarbeit schließen zu wollen, halte ich für dermaßen kurzsichtig. Nicht zuletzt würden dadurch ja auch noch die Gesundheitskosten explodieren. Zwei Mal verkackt, liebe Wirtschaftsbosse!

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Was wir brauchen, ist eine Modernisierung der Wirtschaft, um Arbeitsprozesse zu automatisieren. Wir brauchen ein Fachkräfte-Einwanderungsgesetz – das dabei hilft, Menschen den Zugang zum Arbeitsmarkt zu erleichtern – und vor allem brauchen wir auch mal eine Familienpolitik, die Eltern dabei unterstützt, sofern sie es möchten, auch mal mehr als nur ein Kind zu bekommen. Wir ärgern uns über den demografischen Wandel, den damit zusammenhängenden Fachkräftemangel, die krankende Gesellschaft und den damit zusammenhängenden Wohlstandsverlust und suchen die Lösung in Brandbeschleunigern. Wow!

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Herbert Klein

Nebenbei sollte auch nicht vergessen werden, dass Arbeitnehmer heutzutage durch den technischen Fortschritt wesentlich produktiver arbeiten und gleichzeitig unter höherem Leistungsdruck zu arbeiten haben. So wird der Personaleinsatz gerne „auf Kante“ geplant (siehe auch: https://t3n.de/news/legenden-ueberstunden-problematisch-1421959/ – wehe es sind dann von 4 Kollegen 2 in Urlaub oder krank, dann kann man sich halt morgens schon aussuchen, welche Arbeit an dem Tag liegen gelassen werden muss. Wenn es dann um finanzielle Anerkennung der Leistung geht sind Arbeitgeber wiederum gerne etwas sparsam aufgestellt.

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Gabriel D.

Wahnsinn, dass hier Menschen für etwas pöbeln, das sie selbst nicht betreffen wird. Es glaubt denke ich niemand, dass die genannten Politiker sich nach ihrer politischen Laufbahn freudig für 42h/Woche oder mehr in ein reguläres Arbeitsverhältnis stürzen. Und dann noch bis 70, als ob.

Warum den Renteneintritt nicht gleich auf 75 erhöhen? Es wird ja scheinbar darauf gepokert, dass die meisten tot sind, bevor sie Rente beziehen. Das ist definitiv kein Weg, um den angeschlagenen Generationenvertrag zu retten – und klingt noch dazu nach der langweiligsten Dystopie, die sich jemand ausdenken könnte.

In mehr und mehr Ländern wird auf 35h/Woche oder 4-Tage-Wochen runtergeschraubt. Bei gleichbleibender bis steigender Produktivität. Könnte man sich daran nicht ausnahmsweise mal ein Beispiel nehmen? Sonst wandern am Ende noch die Fachkräfte in Länder aus, in denen es ihnen besser geht.

Danke an t3n für diesen Kommentar & die verknüpfte Umfrage.

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Chris68

Dank Home Office muss man noch nicht mal mehr auswandern oder umziehen. Das ist glaube ich die Seite, die selten bis gar nicht beleuchtet wird, warum bestimmte (IT-)Arbeitgeber ihre Arbeitnehmer unbedingt wieder im Büro wollen.
Wer von zuhause aus arbeitet und arbeiten kann ist national und international konkurrenzfähig. Der kann auf einmal für eine Firma am anderen Ende Deutschlands oder Europas oder auf einem anderen Kontinent arbeiten, ohne umziehen oder auswandern zu müssen.
Und seien wir mal ehrlich, es geht den wenigsten von uns IT-Sklaven ausschließlich nur ums Geld. Es sind die Arbeitsbedingungen. Unbezahlte Überstunden die nicht ausgeglichen werden. Inkompetente Vorgesetzte, die einem mit ihren haarsträubenden Anforderungen den letzten Nerv rauben. Dauernd nur Crunch, oh wir sind jetzt im Startup-Mode, wie so die ganze Zeit über die letzten 10 Jahre.
Home Office war ein Segen für mich. Ich habe jetzt einen neuen Job bei einem Arbeitgeber, dessen Leute über ganz Europa verteilt sind. Es gibt in Ballungszentren Büroräume mit festen und dynamisch buchbaren Arbeitsplätzen. Kann man hin, muss nicht. Überstunden, falls sie anfallen, werden mit Freizeit ausgeglichen, die Vorgesetzten drängen einen aber nicht zu Überstunden, das Gegenteil ist der Fall. Sicher, es gibt Notfallsituationen (Serverausfall etc) da lässt es sich nicht vermeiden, aber es sind eben die absoluten Ausnahmefälle.
Seitdem ich dort arbeite, hat sich mein Blutdruck normalisiert und es wachsen sogar wieder Haare nach.

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Daniel Sch

Vorallem werden bei einer 42 Stunden Woche die 2-3 Stunden mehr keine vollwertige Stelle im Fach ersetzen oder auch nur ansatzweise ein zusatz an Arbeit leisten können der die fehlende Stelle teilweise kompensieren kann. Zudem leidet die Qualität deutlich wenn man anfängt den Mitarbeitern mehr aufdrückt.

Bei den Gaming Studios sieht man das zum teil ja schon, da heißt es schön „Crunch“ also mehrarbeit teilweise unbezahlt um ein Projekt durch zu powern. Crunch Culture hat gezeigt das dadurch die Qualität deutlich leidet und Games dann teilweise total Verbugged und schlecht auf dem Markt kamen nur damit ein Datum eingehalten wird.

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Niko Müller

Hier ein wunderbarer Artikel über das Arbeitspensum in Schweden und Chefs, die als erste gehen und dies laut – leaving out loud: https://www.rnd.de/wirtschaft/keine-ueberstunden-in-schweden-warum-vorgesetzte-puenktlich-feierabend-machen-4FDVQERC7ZC55ER7QQJKMIM26Y.html

Die Franzosen flippen aus, dass ihr Rentenbeginn auf 65 Jahre angehoben werden soll.

Solche Vorschläge kommen immer aus der Arbeitgeberecke. Wir könnten auch wie Australien, Kanada und andere Länder, nur Fachkräfte im Lande aufnehmen, und nicht Millionen von ungelernten Wirtschaftsflüchtlingen, die erstmal mühsam Deutsch erlernen müssen, worauf manche keine Lust haben. Ich wähle nicht die AfD, sondern eher rot/grün und bin gespannt, ob diese Aussage hier zensiert wird.

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Hel

Es würde aber auch schon helfen, wenn wir unsere Fachkräfte ein wenig besser behandeln würden!
Wenn nicht laufend so Viele abwandern würden, weil sie andauernd drangsaliert werden (bestes Beispiel aktuell: Impfpflicht für gewisse Berufsgruppen…) hätte wir weit weniger Probleme…

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Stef An

Viele junge Menschen „flüchten“ in ein Studium, weil sie mit anschauen müssen wie sich ihre Eltern kaputt arbeiten und diesen Weg für sich selbst nicht gehen wollen. Oftmals geht es auch darum, den Eintritt in diese bestehende Arbeitswelt so weit wie möglich hinaus zu zögern. Sowohl in der Schule als auch in vielen Bereichen der Arbeitswelt sind die Rezepte und Organisationformen völlig überaltert. Und anstatt nach neuen, intelligenten und zeitgemäßen Wegen zu suchen, versucht man mit „mehr des Selben“ die geistige Windstille zu kompensieren.
Wer in die falsche Richtung läuft, wird nicht dort ankommen wo er hinmöchte. Auch nicht wenn er immer schneller rennt.
Menschen brauchen eine sinnstiftende Tätigkeit, da macht der Nachwuchs keine Ausnahme. Der entscheidende Punkt ist, im Dialog miteinander gemeinsam den Sinn zu definieren.
Wenn graue Männer die Meinungshoheit für sich beanspruchen, zerfällt eine Gesellschaft. Der Generationenvertrag bedeutet viel mehr als einen Verteilungskampf um die Rentenkasse: Er bietet die Chance gemeinsam Zukunft zu gestalten.

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Lenyat

Wir leisten uns eine ständig wachsende Schicht von prekär Beschäftigten, die andere Leute, ihr Essen, ihre Einkäufe und Paketsendungen durch die Gegend fahren, oder verkehrstechnisch vergleichsweise sinnlose E-Scooter zum Laden einsammeln usw.
Das mag ja als Studi-Nebenjob noch ganz nett sein, als Beruf taugt es alles nicht. Bis zum Rentenalter hält man das nicht durch, und selbst wenn – die Bezahlung liegt höchstens knapp über dem Mindestlohn und die Rente wird kaum reichen.
Aber es gibt eben das Interesse der Unternehmen, dass es diese Jobs gibt, und Regierungen helfen dabei. Sinnvoller wäre es doch wohl, zu versuchen, diese Leute in qualifiziertere Jobs zu bekommen – dann muss man eben mal wieder selbst kochen. Auch kein Problem, wenn man wegen der neuen Kolleg_innen früher nach Hause kommt.

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Gargamel

Vor vielen Jahren, als ich oft beruflich mit dem Auto unterwegs war, gab es im Autoradio eine Serie zum Thema Arbeitswelt. Da wurde auch das Thema Arbeitszeit beleuchtet. Als besonders interessant sind mir einige Ergebnisse aus Forschung des Instituts für Arbeitswissenschaften der Universität Hamburg in Erinnerung geblieben:

1. Die Produktivität von Arbeitnehmern ist am höchsten bei Wochenarbeitszeiten zwischen 32 (glaube ich, es können auch 35 gewesen sein) und 40 Stunden. Darüber und darunter sinkt die Produktivität recht schnell und deutlich.
2. Die Uhrzeit, zu der für viele von uns der Arbeits- (oder Schul- oder Uni-)Tag beginnt, ist für sehr viele Menschen zu früh. Gerade auch Schulen sollten, wie in anderen Ländern, den Unterrichtsbeginn auf 9 Uhr legen, aber auch für Büro-Angestellte wäre das oft besser und der individuellen Produktivität wie auch der persönlichen Stimmung, und damit natürlich dem Arbeitsklima insgesamt zuträglich. Die Erkenntnis, dass ein späterer Schulbeginn gesünder wäre, ist übrigens in allen KuMists bekannt. Geändert hat sich über Jahrzehnte trotzdem nichts.
3. Sehr interessant waren auch die Erkenntnisse zur Gestaltung von Ruhephasen. Die Arbeitswissenschaftler waren zu dem Schluss gekommen, dass unsere Wochenenden zu kurz sind. Statt fünf Arbeitstagen, dann zwei Tagen Wochenende und dann wieder von vorne, lautete die Empfehlung, besser zehn Tage zu arbeiten und dann vier Tage auszuruhen, weil man einen Tag braucht, um aus dem Arbeitsrythmus herauszukommen, und am Tag vor Wiederaufnahme der Arbeit am Montag auch den Kopf nicht frei hat. Man hat also gar keine echte Erholung beim heutigen Fünf-plus-Zwei-Ryhthmus. Bei Zehn-plus-Vier hätte man hingegen zwei „echt“ freie Tage, und könnte auch mal eine kleine Reise unternehmen, mit deutlich besserer Erholungswirkung.

Was die Herrn Lindner, Russwurm und Co. da von sich geben ist anachronistisch. Dass letzterer hohe akademische Würden erlangt hat, zeigt, welchen Notstand unser Bildungssystem seit Langem hat.

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