Wo sehen Sie sich in fünf Jahren? Schenk ein Glas Whisky aus für jedes Mal, dass mir diese Frage gestellt wurde, und wir werden sehr lange beisammen sitzen. Aus 35 Jahren Lebenserfahrung kann ich sagen: Ich habe keine Ahnung, wo ich in fünf Jahren sein werde. Und dieses Wissen wäre für meinen weiteren Berufs- und Lebensweg auch nicht relevant. Drei Monate. Das ist der Zeitrahmen, der Menschen wirklich weiterbringt. Und das gilt für Ziele jeder Größenordnung.
Bleibt dran für den Beweis.
Fragt man, wo sich andere in drei Monaten sehen, dann sind die Antworten sehr greifbar: „Ich arbeite wieder, bereite aber meinen Ausstieg aus der Firma vor“, sagte mir eine Datenanalystin in Elternzeit. „Ich stecke voll im neuen Geschäftsjahr, habe Urlaub gebucht und einen schwelenden Konflikt befriedet“, sagt eine Führungskraft im Projektmanagement. Eine Freundin von mir wird ihr Leben in Schiffscontainer verpacken, nach Hause kommen und sich einen Job suchen. Ein anderer will bis dahin die Abteilung wechseln. Sie alle müssen jetzt aktiv werden, sonst klappt das nicht.
Mit einem Plan für drei Monate zu arbeiten zwingt Menschen dazu, konkret zu denken – und zu handeln, damit aus der Idee auch eine Lebens- und Arbeitswirklichkeit werden kann. Ein Fünfjahresplan ist dagegen nicht mehr als eine hübsche Idee.
Leben auf Umwegen ist trotzdem Leben
Nichts gegen Pläne. Wer weiß, was er vom Leben will, kann strategisch darauf hinarbeiten. Das ist durchaus wertvoll. Wer in fünf Jahren eine überregionale Führungsposition haben will, der sollte sich entsprechend aufstellen. Wer in fünf Jahren ein Haus kaufen will, auch.
Doch wir alle haben Erfahrung damit, dass diese Pläne nicht immer umgesetzt werden. Das Spiel, bei dem wir als Kinder das meiste über das Erwachsenensein gelernt haben, ist „Das verrückte Labyrinth“: Eine Wand verschiebt sich und plötzlich ist der geplante Pfad weg – und im Idealfall ein neuer offen. Aber kein guter Plan hat uns je näher an das Zauberschwert gebracht. Wir mussten immer auch loslaufen.
Fünfjahrespläne locken keinen Menschen aus seinem Hamsterrad. Ohne konkret definierte Meilensteine sind sie somit ungeeignet, um Karrieren oder Lebenswege zu gestalten. Diese konkreten Meilensteine sind mittelfristige Ziele, die unterwegs regelmäßig neuen Umständen oder Präferenzen angepasst werden. Und immer wieder neuen Zielen.
Das Gehirn spielt auch nicht mit
Über die fernere Zukunft zu grübeln dient der Karriere deshalb nur bedingt. Diese Zukunft ist weit weg. Die zeitliche Distanz gibt dem Gehirn die Möglichkeit, eigentlich notwendige Schritte niedriger zu priorisieren. Wichtiger als der Firmenwagen der höchsten Kategorie in fünf Jahren ist kurzfristig eben doch der nächste Termin beim Kunden, der nächste Launch, der nächste Geschäftsabschluss oder die Kita-Eingewöhnung.
Wer seine Ziele näher an die Gegenwart heranrückt, der kann konkreter auf sie hinarbeiten. Wer in drei Monaten 30 Prozent seines Einkommens in Fonds angelegt haben will, der muss auch ran und zwar sofort. Wer in drei Monaten mit den Vorgesetzten darüber sprechen will, dass er oder sie eine Führungsposition anstrebt, der kann diesen Schritt vorbereiten.
Wer konkret denkt, kann mit einer Idee für drei Monate weiter kommen als mit einem Plan für fünf Jahre. Und schneller geht’s auch.
In the long run, we’re all dead
Große Ziele sind wertvoll, natürlich. Sie motivieren aber nicht. Überzeugungen motivieren. Kurz- und mittelfristige Pläne disziplinieren. Beides zusammen kann Menschen dahin bringen, wo sie hin wollen.
Der Ökonom J.M. Keynes wurde einst dafür kritisiert, dass seine Konzepte nur kurzfristige Zeiträume berücksichtigten. Als VWL-Studentin fand ich diese Kritik selbstverständlich berechtigt, weit vorausschauendes Denken schien mir ideal. Keynes antwortete: „In the long run, we’re all dead“ – langfristig sind wir alle tot. Ergänzend können wir sagen: Langfristig wissen wir gar nicht, unter welchen Bedingungen wir leben und arbeiten werden. Selbst vorhersehbare Ereignisse treffen Menschen oft genug unvorbereitet, mich zum Beispiel in jedem Jahr das Arbeitsvolumen im Dezember (in fünf Jahren hätte ich das gern besser im Griff).
Klimaschutz braucht neben flexiblen Lösungen auch langfristig solide Pläne. Ebenso der Atomausstieg, Stadtplanung, Entwicklungshilfe. Die Finanzierung des Sozialstaates auch. Aber das Leben?
Das Leben ist ein Prozess
Das Berufsleben mag sich manchmal wie ein strategisches Projekt anfühlen – es ist aber keines. Am Ende zählt, was in der kleinsten Einheit passiert: dem Jetzt. Gute Bedingungen für ein gutes Leben schaffen Menschen, wenn sie sich mit dem befassen, was ist und mit dem, was als Nächstes kommen wird. Diese Flexibilität ist es, die es in wichtigen Momenten erlauben wird, Chancen zu ergreifen.
Wie soll das Leben in 3 Monaten sein?
In der Pandemie leben wir dann noch immer, das wissen wir schon. Handlungsunfähig macht uns das nicht. Wir brauchen nur eine Idee und den Mut, diese Idee in der näheren Zukunft spielen zu lassen. Wenn es in fünf Jahren geht – warum soll es dann nicht sofort gehen? Langfristige Ziele sind wertvoll. Aber stehen sie zu fest im Fokus, dann lenken sie von dem Prozess ab, der das Leben ist.