Wie Huawei die Architektur des Internets neu gestalten will
Die ganzen Glasfaserkabel, Unterseeleitungen und Mobilfunkmasten sind eigentlich nur Nebensache. Was das Internet ausmacht, ist ein sich ständig erweiterndes Regelwerk. Wer daran mitwirken will, schreibt mit an den Protokollen, die festlegen, wie genau Daten von einem Endgerät zum anderen gelangen sollen. Olaf Kolkman arbeitete Ende der 1990er, damals kaum älter als 30 Jahre, an seinen ersten Protokollzeilen. Heute ist er „Principal, Internet Technology, Policy and Advocacy” für die Internet-Society. Unter dem Dach der Organisation finden sich viele jener Gruppen, die an neuen Protokollen arbeiten.
„Das Internet basiert darauf, dass die Fähigkeiten beim Host liegen“, sagt Kolkman. „Das Netzwerk selbst schubst nur Pakete hin und her.“ Das sei ausfallsicherer, leistungsfähiger, demokratischer und freier, weil es Nutzer vor staatlichen Übergriffen schütze, sind sich viele Internetpioniere einig und loben gewöhnlich die zugrundliegende Architektur.
Das Internet kennt bis heute keine zentrale Instanz, die alles kontrolliert. So bleibe das Netz weitgehend dezentral, sagt Kolkman. Damit sich das nicht ändert, hat er im April dieses Jahres ein 13-seitiges Schreiben aufgesetzt. Er will eine Initiative abwehren, in der er eine Bedrohung für das Internet in seiner jetzigen Form sieht.
Bereits 2018 ging der Chief Scientist von Futurewei, einer Tochterfirma des chinesischen Techkonzerns Huawei, mit Plänen hausieren „für ein neues Internet für das Jahr 2030 und danach“. Seit September 2019 streiten Fachkreise über eine Powerpoint-Präsentation mit dem Titel „New IP: Shaping the Future Network”. Einer der Urheber ist das chinesische Ministerium für Industrie und Informationstechnologie. Auf knapp 30 Folien skizziert Huawei Zukunftsszenarien einer Welt der Holografie-Kommunikation mit VR-Brillen und autonom fahrenden Autos. In Tabellen werden Prognosen über enorme Datenmengen angestellt. Es soll der Eindruck entstehen, dass die aktuellen Strukturen überfordert sind mit dem, was auf das Internet zukommen wird.
Die Empfehlung von Huawei lautet daher: Um den Wandel hin zu einem datenintensiven Internet of Things durchzusetzen, um Cyberattacken abzuwehren und um großflächig satellitengestütztes Internet einzubinden, müsse die alte Internetarchitektur überholt werden. In der Präsentation fabuliert der Konzern von einer neuen Protokollfamilie, von einer „strategischen Transformation“ und „gut geplanter Top-Bottom-Arbeit“.
New IP kann aber auch als Angriff auf die etablierten Strukturen gesehen werden: „Ein Design, das einem totalitären Impuls entspricht“, wettert Shoshana Zuboff, die Autorin des Bestsellers „Surveillance Capitalism“, im Interview mit der Financial Times. „Das macht mir Angst – und es sollte jede einzelne Person ängstigen.“
Etwas diplomatischer formuliert es Kolkman. Im Videogespräch wirkt er gelassen, diskutiert mit Liebe zum Detail, legt bei sensiblen Themen lange Pausen ein und blickt in seiner Amsterdamer Dachgeschosswohnung auf der Suche nach Worten umher, die niemanden verurteilen sollen. Trotzdem ist er deutlich in seiner Ablehnung von New IP: „Ich bin nicht gegen Forschung oder gegen Standardisierungen, die die vorgestellten Anforderungen adressieren. Aber Standardisierungen von Lösungen, die die Architektur des Internets ändern, müssen von den Standard Development Organisations gemacht werden, die für die Evolution des Internets verantwortlich sind“, betont er.
Auch Kolkman sieht Bedarf für eine Weiterentwicklung des Internets, allerdings in bestehenden Strukturen, die aus seiner Sicht problemlos mit den Herausforderungen klarkommen würden. Evolution statt Revolution. Er sagt: „Meine Sorge ist, dass das New-IP-Modell neue und noch nicht verstandene Kontrollpunkte innerhalb des Netzwerks einführt.“
„Die Organisation von Technologie ist immer auch die Organisation von Macht.“
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass heute niemand vorhersehen kann, ob New IP das Internet zu einem zentralisierten System umgestalten wird, in dem von oben nach unten durchregiert wird. Dafür bleiben Huaweis Aussagen zu vage. Klar ist hingegen: Wenn darüber entschieden wird, wer in Zukunft die mächtigsten und komplexesten Infrastrukturen der Welt gestalten soll, geht es um mehr als technische Details, wie Huawei gerne beteuert. Laura DeNardis, Professorin für Internet-Governance an der American University in Washington, formuliert es so: „Die Organisation von Technologie ist immer auch die Organisation von Macht.“
Der erste Impuls für die Entwicklung des Internets ging von einem Staat aus. Das US-amerikanische Verteidigungsministerium stieß in den 1970ern die Arbeit an einer Technologie an, über die verschiedene Forschungseinrichtungen Daten austauschen können. Doch schon bald darauf übernahmen vor allem Privatunternehmen aus den USA und Europa die Gestaltung des Internets – in ihrem Sinne. Sie stellen ihre Experten dafür frei und schicken sie in lose Gruppen, um an den Internetprotokollen zu arbeiten. Allen voran in die Internet Engineering Taskforce, kurz IETF. Sie steht jedem offen, auch einfachen Bürgern. In der Praxis haben aber vor allem Privatunternehmen die Ressourcen, sich einzubringen, schreibt Professorin DeNardis in ihrem Buch „The Global War for Internet Governance“ und zählt Router-Hersteller wie Cisco, Telekommunikationsanbieter wie Ericsson und Softwarefirmen wie Oracle auf. „Zusammenarbeit wo nötig, Wettbewerb wo möglich“, drückt es Kolkman von der Internet Society aus, unter deren Dach sich auch die IETF organisiert.
Und jetzt will Huawei das Internet mitprägen: Mit ein paar Schönheitsreparaturen lassen sich die künftigen Probleme des Internets nicht bewältigen. Davon sind sie in der Berliner Niederlassung des Konzerns überzeugt. Vielmehr bräuchte es einen großen Wurf, sagt Michael Lemke, Senior Technology Expert. „Die alte Architektur ist vielleicht nicht mehr optimal für das, was man 2030 braucht. Manches davon mag heute noch wie Science-Fiction klingen, könnte dann aber schon Realität sein.“ Damit meint er nicht nur die Holografiegespräche, sondern auch Industrie-Avatare und Breitbandinternet, das von Schiffen ausgeht.
Lemke, per Video zugeschaltet, ist ein dynamischer Typ, wild gestikulierend, mit kabellosen Kopfhörern und Smartwatch ausgestattet. Mal erstarrt das Bild der Übertragung, mal ruckelt es, mal ist es besser, mal schlechter aufgelöst. Das Übliche eben. Lemke greift das Setting auf, um zu veranschaulichen, wo New IP ansetzen würde.
Bis heute wird das Internet im Wesentlichen zusammengehalten vom Transmission Control Protocol und dem Internet Protocol, der als „TCP/IP“ geläufigen Protokollfamilie. Sie regelt, wie Informationen über das Internet von einem zum anderen Gerät versendet werden. Ein Video besteht aus aufeinanderfolgenden Bildern. Damit deren Pixel den schnellsten Weg durchs Internet wählen, werden sie sortiert, zu vielen sogenannten „Paketen“ zusammengeschnürt, abgeschickt und am Ziel wieder zusammengesetzt. Verantwortlich für diese Protokolle sind die Software-Ingenieure der IETF.
„Als Konsument ist es mir egal, ob ein Paket verloren geht und ein paar Pixel fehlen, das bekomme ich kaum mit“, sagt Lemke. Aber das sehe anders aus, wenn es etwa um Operationen geht, die künftig aus der Ferne vorgenommen werden. Auch Smart Manufacturing oder das vernetzte Fahren seien auf mehr Präzision angewiesen. Hilfreich ist da die unterschiedliche Behandlung der Pakete, um manchen von ihnen Vorrang zu gewähren, andere mit einer klar definierten, aber zuverlässigen Verzögerung zu verschicken – und unwichtige auch mal ganz fallen zu lassen. Hier kommt New IP ins Spiel. Lemke erklärt: „Man könnte Netzknoten mit einer Information darüber versorgen, was sie transportieren, also eine Objektbeschreibung einbauen.“
Das Ende der Netzneutralität?
Wer die Debatten um Netzneutralität verfolgt hat, weiß, wie viel Sprengstoff in solchen Vorschlägen steckt. Im Prinzip behandelt das Internet alle Daten gleich und „schubst nur Pakete hin und her“, wie Kolkman es formuliert. Das schütze vor Monopolstellungen von Netzanbietern, die Nutzer mit horrenden Preisen abzocken oder bestimmte Gruppen privilegieren könnten. Ohne die Garantie auf Netzneutralität könnten Staaten versuchen, ungeliebte Inhalte zu zensieren, fürchten manche sogar.
Netzbetreiber sehen das oft anders. „IP ist ein Gut, mit dem sie nicht viel Geld verdienen können“, erläutert Kolkman. New IP und die Abkehr von der Netzneutralität böten da völlig neue Möglichkeiten. „Telekomfirmen könnten darin ein alternatives Geschäftsmodell sehen.“ Viele Organisationen schlagen Alarm, darunter die IETF, das Center for Democracy & Technology, Mozilla und Ripe NCC, einer der regionalen Verwalter von IP-Adressen. Da hilft es wenig, dass Huawei eine umstrittene Folie in der New-IP-Präsentation zu „Top-to-Bottom-Work“ mit dem Label „Reword the expression“ versehen hat.
„Je mehr Funktionen vom Netzwerk übernommen werden, desto stärker führt das zu Zentralisierung“, warnt Kolkman. Teilweise gibt es das bereits. Die Vergabe der IP-Adressen beispielsweise übernimmt eine zentrale US-Institution, was durchaus auch kritisch gesehen wird. Kolkmans Sorgen sind vor allem allgemeiner Art. Es sind eher Indizien als klare Beweise, die er in dem Foliensatz findet. Verdächtig findet er auch die Vorschläge einer neuen „Intrinsic Security“, die Huawei anstrebt.
In den Augen von Huawei-Vertreter Lemke aber ist ein Internet fehleranfällig, das nur Transportwege für Daten bereitstellt und kaum kontrolliert: „IP hat eine Reihe von Sicherheitsschwächen.“ Als Beispiele für die vielen Probleme nennt Lemke Adressen-Spoofing, bei dem Datenpakete mit einer gefälschten Absenderadresse versendet werden, sowie Denial-of-Service-Attacken, die Überlastung eines Zielservers durch koordinierte Massenaufrufe. „Daher ist es überlegenswert, zukünftige Netze zum Beispiel durch zusätzliche ID-Verschlüsselung und authentifizierung noch besser abzusichern“, so Lemke.
Solch ein Design müsse „sorgfältigst beobachtet werden“, warnt Kolkman. „Es ist komplett unklar, wo die Kontrollpunkte sind, aber es sollte klar sein, dass das ein neuer Kontrollpunkt im Netzwerk ist.“ Die Kritik, das dezentrale Internet zentralisieren zu wollen, weisen sie bei Huawei von sich: „Jener Vorwurf der Zentralisierung ist technisch gar nicht hinterlegt“, regt sich Lemke auf.
Prüfen lassen sich weder die Aussagen der einen noch die der anderen Seite. „Wir haben nicht genügend technische Details, um das zu verstehen“, sagt die Washingtoner Professorin DeNardis zur Debatte, ob New IP zu einer Internetarchitektur führen könnte, die zentralisierter und top-down gesteuert ist. Und tatsächlich bleibt vieles in den Folien und Dokumenten Huaweis wolkig, liefert noch keine Antworten, sondern umreißt nur Arbeitsfelder: darunter auch das der Herausforderung, herkömmliche und satellitengestützte Netze miteinander zu verknüpfen sowie zukünftige 6G-Technologien und In-Network-Computing.
DeNardis hat im Skype-Call ein stattliches Bücherregal im Hintergrund. Das Gespräch ist mehr Brainstorming als Interview. Sie scheint froh darüber, ein paar Gedanken, vor allem aber Fragen loszuwerden, die sie zum Thema beschäftigen. Einleuchten will ihr Huaweis Initiative nicht vollends. Eine Lesart: „Seit Jahrzehnten gibt es Spannungen zwischen dem Multi-Stakeholder-Ansatz und einem mit mehr Aufsicht durch Regierungen“, erklärt DeNardis.
Bereits in ihrem 2014 erschienenen Buch „The Global War for Internet Governance“ schrieb sie über die Auseinandersetzungen. 2012 beispielsweise protestierte Wikipedia mit leeren Seiten gegen eine Initiative im Vorfeld einer Konferenz der International Telecommuniation Union (ITU). Die Befürchtung: Die UN-Agentur hätte dadurch mehr Verantwortung erhalten über die Berechnung von Datenströmen, das Management von IP-Adressen und Mechanismen der Cyber-Sicherheit. Die Reaktionen klingen heute vertraut. Vinton G. Cerf, der oft als „Vater des Internets“ bezeichnete TCP/IP-Mitentwickler, warnte damals davor, dass „so eine Handlung tiefgreifende, und wie ich finde, potenziell gefährliche Folgen für die Zukunft des Internets und all seine Nutzer haben könne“. Das Vorhaben scheiterte schließlich.
Dieser Interessenskonflikt ist nun erneut aufgeflammt. Denn Huawei hat den New-IP-Vorschlag nicht etwa der etablierten IETF unterbreitet, sondern der ITU. Diese wurde ursprünglich 1865 gegründet, um Telegrafenmasten zu standardisieren, und ist somit die älteste aller internationalen Organisationen. Mittlerweile ist die ITU eine zwischenstaatliche UN-Agentur, in der vor allem die 193 Mitgliedsstaaten das Sagen haben. Regierungen bestimmen über die Delegiertenliste und setzen auch Firmenvertreter darauf, Wissenschaftler sind nicht stimmberechtigt.
Vielleicht könnte Huaweis Vorschlag auch ein Versuch Chinas sein, sich mehr Mitsprache in der globalen Internet-Governance zu erkämpfen. „China saß nicht am Tisch, als das Internet erfunden wurde“, sagt DeNardis. „China kam wirklich spät dazu, ist mittlerweile aber ökonomisch aufgestiegen.“ Andererseits: Warum sollte China überhaupt mehr Kontrolle suchen? „China hat bereits die Kapazitäten, Teile des Internets abzuschalten. Das haben wir im letzten Jahrzehnt täglich gesehen“, erläutert DeNardis. Um Dienste wie Wechat zu blocken oder kritische Stimmen auf Wechat und Weibo kleinzuhalten, braucht es nun wahrlich kein New IP.
Die Fragen der Wissenschaftlerin kreisen weniger um den Inhalt der Initiative als um den Weg, den Huawei gewählt hat. Sie suche noch nach einem Grund, weshalb die ITU sich dem Thema annehmen müsse. „TCP/IP war stets sehr anpassungsfähig. Es stimmt nicht, dass es nicht in der Lage wäre, damit umzugehen“, sagt sie über die von Huawei beschworenen Herausforderungen, mit der die Internetarchitektur konfrontiert sei.
Kritiker der Internet Society wie Kolkman meinen sogar, dass etablierte Arbeitsgruppen bereits mit Hochdruck an der nächsten Evolution des Internets arbeiten. So würde das QUIC-Protokoll der IETF bald noch schneller große Datenmengen transportieren, das Institute of Electrical and Electronics Engineers Fragen der Cyber-Sicherheit in seiner Protokollarbeit berücksichtigen, und das 3rd Generation Partnership Project an zuverlässigerer Übertragung über 5G-Netzwerke arbeiten. Deshalb bräuchte es kein New IP, keine neuen Initiativen der ITU. „Überlappende Arbeit zu schaffen, ist überflüssig und teuer”, schlussfolgert Kolkman in seiner Analyse. „Am Ende wird dadurch die Interoperabilität nicht verbessert.“
„Für die angesprochenen Probleme braucht es New IP nicht“, betont auch DeNardis am Ende des Gesprächs noch einmal. Bisher haben sich TCP/IP und andere etablierte Protokolle immer wieder auf neue Technologien und Herausforderungen einstellen können. Weshalb sollte man da nicht weiterhin innerhalb der IETF arbeiten, fragt sie sich. „Ich sehe keine guten Gründe dagegen“, kritisiert sie Huaweis Entwurf. Hinzu kommt: Die Arbeit von Organisationen wie der IETF ist transparenter. In der ITU sind die Papiere zu laufenden Diskussionen oft nur für die ausgewählten und zahlenden ITU-Mitglieder aufrufbar. „Auch die Frage nach der Offenheit ist wichtig“, mahnt sie.
Eine Frage der Organisation
Warum also die ITU und nicht die IETF? Wer bei Huawei nachfragt, bekommt schwammige Antworten. „Fragen der digitalen Sicherheit sind global und deshalb löst man sie auch am besten global“, sagt Lemke beispielsweise. Oder auch: „Die existierenden Strukturen haben die Tendenz, sich fortzuschreiben.“ Ohnehin wolle man nur Innovationsprozesse auf höchster Ebene anstoßen und keine Technologien durchpeitschen. „Insofern geht es darum, die Anforderungen in einem Forschungsprogramm zu definieren – und diese dann gemeinsam mit allen interessierten Partnern offen und transparent in globalen Gremien anzugehen“, so der Huawei-Vertreter.
Ein Video-Call nach Genf mit Bilel Jamoussi, dem Chef des Study Group Departments des Standardisierungssektors der ITU: Er ist ein ausgesprochen höflicher Mann mit randloser Brille, dem es im Homeoffice gestattet ist, auch mal ohne Krawatte aufzutreten. Ob es am Ende nicht doch möglich sei, dass New IP der IETF die Verantwortung über die Protokollarbeit abnehmen könne? „Möglicherweise, ja“, antwortet Jamoussi knapp. „Wer einen Blick auf die Folien wirft, der sieht, dass das nichts mit dem TCP/IP zu tun hat, das wir kennen.“
Neue Internetstandards aus der ITU würden die UN-Agentur aufwerten. Jamoussi können ambitionierte Vorschläge da nur recht sein, auch wenn er die Rolle der ITU als reine Plattform naturgemäß herunterspielt: „Wenn eines unserer Mitglieder mit einem Vorschlag kommt, liegt es an den anderen Mitgliedern, darüber zu entscheiden“, betont er.
Das Internet sei „Patchwork“, allerdings nicht „by Design“, kritisiert Jamoussi. Es stimme schon, was Huawei da schreibe. „Das heutige TCP/IP wird nicht die Anforderungen erfüllen“, sagt er mit Blick auf die Zukunft, zählt ebenfalls Technologien wie Holografie auf und holt zu einem Plädoyer aus, weshalb die ITU rücksichtsvoller im Umgang und der global fairere Ort der Internet-Governance sei.
Ob die ITU wirklich zum Zug kommen wird, darüber wird erst im Februar 2021 entschieden, wenn die Behörde zur World Telecommunication Standardization Assembly nach Indien einlädt. Zumindest, wenn die Corona-Pandemie den Termin nicht erneut verhindern sollte. Bis dahin treffen sich Expertengruppen und die regionalen Bündnisse der ITU, um sich jeweils auf Positionen zu verständigen, die sie auf der Konferenz verteidigen wollen.
Noch ist völlig offen, wer sich durchsetzen wird. Innerhalb Europas beispielsweise dürfte es New IP schwer haben. „Grundsätzlich glauben die europäischen Telekommunikationsfirmen, dass Internet-Standards weiterhin in einem Multi-Stakeholder-Ansatz entwickelt werden sollten“, schreibt ein Sprecher der European Telecommunications Network Operators‘ Association, deren Mitgliedsfirmen oft auf den Delegationslisten der Länder stehen. Und auch aus der gemeinsamen europäischen ITU-Gruppe, der CEPT, ist zu vernehmen, dass New IP voraussichtlich keine Mehrheit finden werde. In anderen Weltregionen kann das allerdings anders aussehen, vor allem dort, wo Regierungen die Chance wittern, das Internet strenger zu regulieren.
Offen ist auch, was aus New IP wird, sollte es denn auf der Konferenz durchgewunken werden. Rein formell würde das Thema dann in die sogenannten „Study-Groups“ wandern, darunter beispielsweise jene, die sich um „Future Networks and Clouds“ kümmert. Innerhalb der vier folgenden Jahre würde dort an Standards geforscht werden.
Was Huawei und andere Befürworter von New IP wie der ITU-Verantwortliche Jamoussi begrüßen könnten, bereitet Kolkman von der Internet Society Sorgen: „Wenn die Arbeit in einer Study-Group erst einmal gemacht ist, ist es relativ leicht, Standards zu schreiben anstelle von Forschungsberichten“, sagt er und warnt davor, dass ITU-Standards in manchen Ländern zu „de-facto-Gesetzen“ werden könnten.
Ausschließen kann auch DeNardis das nicht. Die Expertin für Internet-Governance sieht jedoch eine „limitierende Kraft“: die Durchsetzung der Standards in der Unternehmenswelt. Nur wenn sie klug und hilfreich formuliert sind, greifen die IT-Firmen sie als neues Regelwerk auf: Als Protokolle, mit denen sie den Datenverkehr zwischen Geräten über das Internet definieren können. Schlechte Standards können in der Praxis durchfallen.
Bisher habe vor allem eine Organisation dafür gesorgt, dass die Standards und Protokolle auch etwas taugen: die IETF. „Für eine lange Zeit kam die Kerninnovation aus dieser Organisation heraus“, sagt DeNardis. „Ich glaube nicht, dass die IETF untergraben werden wird.“