5 Lehren aus der noch nicht vorhandenen Corona-App

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1. Blinde Technikgläubigkeit hilft wenig
In vielen Fällen von gesellschaftlichen Problemen wird nach technischen Lösungen gesucht. Eine Software, die quasi per Installation komplexe Herausforderungen beseitigt – wie schön wäre das. Schon vor der Corona-App gab es viele solcher Fälle. Zum Beispiel die schon mehrfach von Gerichten gestoppte Vorratsdatenspeicherung. Sie wird alle paar Monate aus der Mottenkiste hervorgeholt, um damit augenscheinlich gegen Kriminalität vorgehen zu können – statt die Personalausstattung bei den Strafverfolgungsbehörden zu erhöhen. Ein weiteres Beispiel? In den letzten Jahren setzten Vertreterinnen und Vertreter der Politik auf technische Upload-Filter, statt das verstaubte Urheberrecht fit für das 21. Jahrhundert zu machen.
Wer im April politische Pressestatements verfolgte, konnte einen Satz nicht überhören: „Sobald die App da ist, können wir XY wieder öffnen“. Es war eine maximale Überladung einer vermeintlich einfachen technischen Lösung für ein komplexes gesellschaftliches Problem – die Wunderapp. Hierdurch wurde eine mediale und gesellschaftliche Erwartungshaltung geschaffen, die nicht erfüllt werden konnte. Und die niemals erfüllt werden kann. Aktuelle Probleme wurden in die Zukunft vertagt, während gleichzeitig Hoffnung geschürt wurde, die absehbar enttäuscht werden muss. Ob aus Kalkül oder grober Unwissenheit, lässt sich nicht sagen. Beides sind aber sehr schlechte Ratgeber für Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger.
2. Gut Ding braucht Weile
Fast jede und jeder nutzt Bluetooth. Hauptsächlich, um Kopfhörer mit dem Smartphone zu verbinden, um Telefonate zu führen oder Musik zu hören. Bluetooth funktioniert auf kurze Entfernung wunderbar. Jetzt soll Bluetooth zur Abstandsmessung verwendet werden. Ein großes Experiment – denn dafür ist es eigentlich nicht ausgelegt und über die Empfangsstärke soll der Abstand geschätzt werden. Wenn so etwas verlässlich auch im Hintergrund funktionieren und andere epidiomoligische Parameter (zum Beispiel der Infektionszeitpunkt) beachten werden sollen, wird so etwas nicht am Wochenende entwickelt. So eine Zweckentfremdung der Technologie kann daher nur funktionieren, wenn die Betriebssysteme mitspielen. Es war daher vor allem aus technologischer Sicht folgerichtig, auf den dezentralen Ansatz, der von Apple und Google auf Betriebssystemebene implementiert wird, umzuschwenken.
Wenn Anfang April breit kommuniziert wurde, eine deutsche oder gar europäische Corona-App werde nach den Osterferien erscheinen, müssen technische Grundgegebenheiten schlicht ignoriert worden sein. Erschreckend kommt hinzu, dass das auch journalistisch kaum hinterfragt wurde.
Die Softwarephilosophie „iterate fast and release often“ kann bei einer so im Rampenlicht stehenden App nicht funktionieren. Der erste Schuss muss so gut es geht sitzen. In Ländern, die vorschnell eine App veröffentlicht haben, wird es nun schwierig, die gekippte Stimmung bezüglich der Sinnhaftigkeit so einer App ins Positive zu drehen. Österreich hat mit fehlender Transparenz das Vertrauen verspielt und andere Länder, wie zum Beispiel Australien, haben durch eine wacklige Software-Architektur (die es in Deutschland beim zentralen App-Ansatz ebenfalls gegeben hätte!) eine kaum funktionierende App veröffentlicht. Fehlendes Vertrauen bedeutet aber auch weniger Installationen. Und wenn eine Tracing-App kaum genutzt wird, ist sie wertlos. Wenn die deutsche Corona-Warn-App im Juni erscheint, dürfen solche Fehler nicht passieren. Die Scheinwerfer sind auf sie gerichtet.
3. Alte Politikansätze bei neuen Problemen schaden
Die Entscheidungsfindung bei der Frage, welchen Ansatz die Tracing-App verfolgen und wer diese umsetzen soll, war nicht von Transparenz geprägt. Wieso die zentrale Vorgehensweise zunächst bevorzugt wurde und warum wenige Akteure zentrale Rollen gespielt haben, wurde nicht schlüssig kommuniziert. Ebenso wurde innerhalb von 48 Stunden nach dem Schwenk auf die dezentrale Lösung bekannt gegeben, dass die Deutsche Telekom und SAP die Entwicklung übernehmen sollen. Hier wurde gleich zwei Mal die Chance vergeben, relevante Akteure aus der Wissenschaft, der Entwickler-Community und NGO zusammenzubringen. Dass es auch anders geht, hat die Bundesregierung selbst mit dem Hackathon #WirVsVirus gezeigt. Doch noch scheint die Angst vor der Öffnung und mit dem (allseits vermuteten) Kontrollverlust bei elementaren Fragen zu groß. Es hätte der Bundesregierung aber manche Peinlichkeit bezüglich der Corona-App ersparen können.
4. Public Money, Public Code
Die Deutsche Telekom und SAP haben zur Überraschung vieler von Anfang an auf volle Transparenz gesetzt. Der Quellcode für die Software-Komponenten werden auf GitHub veröffentlicht und das Konzept wird ausführlich dokumentiert. Das ist gut und gilt es zu würdigen. Gleichzeitig wurde damit auch ein Benchmark gesetzt. Dies sollte beispielgebend für alle öffentlich geförderten Software-Projekte sein – auch nach der Pandemie. Wenn öffentliche Gelder fließen, müssen auch die Ergebnisse öffentlich einsehbar sein. Punkt.
5. Der Datenschutz hat nichts verlangsamt
Wer sich meinungsstark an der Verspätung der deutschen Corona-App beteiligen wollte, hat schnell Schuldige gefunden: die Datenschützerinnen und Datenschützer. Der Vorwurf lautet, dass die Verspätung der App auf die philosophisch geführten Grundsatzdebatten zum App-Konzept zurückzuführen sei. Inhaltlich ist an der Behauptung nur wenig dran. Der dezentrale Ansatz ist durch ausgefeilte kryptografische Maßnahmen deutlich datensparsamer, führt aber zum selben Ziel. Hinzu kommt der Wegfall des zentralen Matching-Servers, der große Angriffsfläche mit Bezug zur Datensicherheit gegeben hätte (hier findet sich eine Erklärung des dezentralen Ansatzes). Das entscheidende Argument ist jedoch der technische Realismus: wenn die Betriebssystemhersteller einen aus Datenschutz und Datensicherheit zweifelsfrei besseren Vorschlag machen, fällt es für Politik schwer, die Öffentlichkeit für einen anderen Weg zu gewinnen. Wenn die Veröffentlichung der App also ausgebremst wurde, dann lediglich durch das Festhalten am zentralen Ansatz.
Doch blicken wir nach vorn: Es gibt gute Gründe, vorsichtig optimistisch zu sein. Die Erwartungshaltung und Kommunikation der politischen Akteure ist nun von Realismus statt blinder Technikgläubigkeit geprägt. Die Schnittstellen von Apple und Google liegen vor und die deutsche App soll im Juni erscheinen. Wenn jetzt die Bürgerinnen und Bürger bereit sind, bei diesem großen Experiment mitzumachen, dann kann die Tracing-App helfen. Zumindest etwas. Und das wäre doch schon ein großer Erfolg.
Zu Punkt 5 Datenschutz:
Die französische Regierung hat eine Corona-App mit zentraler Datenspeicherung entwickelt. Nun ist die Konsequenz, dass die App nicht richtig in iOS integriert werden kann. Auf iPhones ist die französische Tracing-App dadurch praktisch nutzlos. Und die Kritik von Datenschützern und Bürgern reißt nicht ab, was die Akzeptanz massiv beeinträchtigt. Der Erfolg der App ist daher ziemlich fraglich…
https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/stopcovid-app-startet-in-frankreich-und-erntet-kritik,S0OoNF2
Das zeigt doch, dass ordentlicher Datenschutz und Open-Source-Entwicklung richtige Entscheidungen der Bundesregierung waren.
Früher hieß es mal, man solle Bluetooth nicht dauerhauft eingeschaltet lassen, weil es sonst wie ein offenes Tor für „Angriffe“ sei, also aus Sicherheitsaspekten. Nun soll man es dauerhaft einschalten gerade auch dort, wo viel andere Leute um einen herum sind.
Seht ihr aus dieser Richtung noch Probleme? Oder ist das mittlerweile überholt? (ich hörte hier, dass das Problem inzwischen zu vernachlässigen sei weil andere „Missbrauchswege“ für Kriminelle einfacher wären, z.B. offene WLAN, und dass neuere Android-Versionen z.B. das Problem behoben hätten? Aber ginge es theoretisch noch bei älteren Versionen? Ich nutze z.B. noch Android 7.0. Und dass andere Wege eventuell einfacher für „Übeltäter“ sind, heisst ja noch nicht, dass der Weg über Bluethooth komplett uninteressant wird?)