Temu, Tmall, Shein: Was der Siegeszug der China-Händler für Amazon bedeutet
Eigentlich kommt im E‑Commerce der westlichen Welt niemand und nichts an Amazon vorbei, weder die großen Filialisten noch Versandhäuser wie Otto oder Zalando. Das umfassende Warenangebot, das spätestens seit dem Siegeszug des (früher als andere Plattformen gestarteten) Marketplace alles Denkbare und Undenkbare abdeckt, war über lange Jahre die Messlatte, an der sich der E‑Commerce orientierte. Doch jetzt könnten, rein nach Umsatzzahlen und wenn der Trend so weitergeht, drei große chinesische Player dem E‑Commerce-Riesen aus Seattle einen Teil des Geschäfts in Europa streitig machen.
Mit immensem Werbebudget drängt Temu in den Markt und auch Shein und Wish sowie Alibaba arbeiten auf den Gewinn von Marktanteilen hin. Shein etwa plant ein Marktplatzmodell, das dem von Amazon ähnlich sein soll – und dass Alibaba in seinen unterschiedlichen Marken in Europa stärker werden will, ist keine wirkliche Neuigkeit mehr.
Kürzlich bekräftigte dies Michael Evans, Präsident der Alibaba Group Holding, anlässlich einer Veranstaltung in Paris. Das Unternehmen plane mit Tmall den Verkauf lokaler Markenprodukte an die Kund:innen in Europa – anders als bei Aliexpress, wo Waren asiatischer Händler:innen und Marken an die europäische Kundschaft verkauft werden.
Sowohl Shein als auch Temu (beziehungsweise das dahinter stehende Unternehmen Pinduoduo) haben zweistellige Milliardenumsätze (in US-Dollar wohlgemerkt) und verbuchen dabei Milliardenüberschüsse, die Alibaba Group kommt sogar auf rund 126 Milliarden US-Dollar Umsatz. Und während zumindest Letztere schon heute mit datengetriebenen Verfahren, gut skalierbarer Cloud-Technologie und vergleichbar guter KI-Technologie arbeitet, haben die beiden Erstgenannten den Bonus, dass sie erst jetzt die relevanten technologischen Entscheidungen treffen müssen, ohne auf bereits bestehende Systeme und Ressourcen Rücksicht nehmen zu müssen.
Chinesische Plattformen treiben Agilität auf die Spitze
Gemeinsam ist den chinesischen Playern auch, dass sie im Zweifelsfall sehr schnell ihre Strategie anpassen, wenn sich diese als unvorteilhaft erweist, wie es ein mit dem chinesischen E‑Commerce vertrauter Handelsexperte formuliert. Hinzu komme ein ausgeklügeltes System an Umfrageinstrumenten, mit denen der Kund:innenwille ausgekundschaftet wird. Für Hersteller und Kooperationspartner sei dies meist anstrengend, aber aus Sicht der Handelskonzerne durchaus erfolgreich. Schneller sei man daher in der Lage, auf aktuelle Trends zu reagieren und die Warenanfragen der Kund:innen zu bedienen.
Für die Kund:innen bedeutet diese auf die Spitze getriebene Agilität allerdings, dass sie nie wirklich sicher sein können, ob sie in ein paar Wochen noch dieselbe Ware erhalten werden oder ob bereits ein modifiziertes Modell oder ein anderer Lieferant zum Zug kommen. So etwas wie die Stiftung Warentest mit ihren aufgrund der intensiven Tests langen Vorlaufzeiten sei daher undenkbar, erklärt der Handelsexperte.
Amazon wird bei austauschbarem Kleinkram verlieren
Doch was heißt das für Amazon? Muss sich der Plattformbetreiber Sorgen um sein Geschäft in Europa machen? Ja und nein – denn zum einen ist Amazon mehr denn je durch sein kundenfreundliches Verhalten als vertrauenswürdiger und im Reklamationsfall großzügiger Handelskonzern gesetzt, während sich die chinesischen Handelsplattformen dieses Vertrauen erst erarbeiten müssen. Und da ist zum anderen noch der Unterschied zwischen den Produkten, bei denen Kund:innen es eher zweitrangig finden, wo sie diese erwerben – von der Handyhülle bis zum USB-Kabel – und jenen, bei denen man bewusst weiterhin bei Markenware versprechenden Händler:innen kaufen wird.
Insofern ist Amazons Macht erst einmal bei allen austauschbaren Eigenmarken und No-Name-Produkten gefährdet, die zu Hunderten auf der Plattform zu finden sind. Hier haben sich in den letzten Jahren Ebay und Amazon einen harten Konkurrenzkampf geliefert – und jetzt kommen halt besagte chinesische Plattformen mit noch aggressiverer Preisgestaltung hinzu.
Allerdings sind viele der Produkte dort auch weniger gut und teilweise nicht ausreichend in den technischen Features dokumentiert; Kund:innen werden somit wohl reichlich ordern und vieles aufgrund von Inkompatibilität oder mangelhafter Qualität entsorgen. Nachhaltig ist das nicht.
Brauche ich nicht, kaufe ich: Der virtuelle Einkaufsbummel
Erfolg haben dürften die chinesischen Plattformen daher vor allem bei jüngerer, E‑Commerce-affiner und experimentierfreudiger Kundschaft. Denn der Einkauf speziell über Apps wie Temu oder Wish ist mehr die digitale Variante des Besuchs im Ein-Euro-Shop. Wow, das gibt’s? Kostet nicht viel, nehme ich mal mit. Oder: Ach, kann man immer mal brauchen, bestelle ich mit. Hinzu kommen vergnügliche Gewinnspiele, satte Rabatte (immer nur gerade jetzt und nur für dich) und alle möglichen Marketing-Kniffe, denen wir uns überlegen fühlten – und die, Spoiler, auch bei erfahrenen Marketing-Menschen wie dem Autor dieses Textes verfangen.
Gerade Temu schafft das recht gut, da das chinesische Unternehmen verstanden hat, dass es mit ortsnahem Versand aus Europa, versprochenen Versandzeiten, die nicht allzu weit in der Ferne liegen, und je nach Situation niedrigen bis nicht vorhandenen Versandkosten punkten kann. Die Mechanismen hinter den Rabatten (sofern es hier welche gibt) zu verstehen ist allerdings etwas kompliziert.
Auch wenn Temu als Senkrechtstarter hier viel richtig macht, dürfte Tmall aus der Alibaba Group der eigentliche Endgegner für Amazon sein. Denn das Unternehmen ist schon deutlich länger am Markt, verfügt über jahrelange Erfahrung und bietet den dort verkaufenden Marken deutlich mehr Marketing-Fläche und Anpassbarkeit des Angebots. Gewissermaßen das, was sich auch Amazon über Jahre erst erarbeiten musste. Und Alibaba ist für viele westliche Brands bereits ein Partner, der sich einen Namen gemacht hat – diesen Weg haben die anderen China-Plattformen noch vor sich.
Nicht zu vergessen ist jedoch ein anderer Faktor: die Logistik. Hier stehen Shein, Temu und Co. noch ganz am Anfang, während die Alibaba Group schon mehr als nur ein paar Schritte weiter ist. Deren Logistiktochter liefert nicht nur aus Asien, sondern hat beispielsweise in Spanien erste regionale Partner, deren Netz immerhin schon einen guten Teil des Landes abdecken. Es dürfte hier nur eine Frage der Zeit sein, bis dies auch bei uns der Fall ist.
Amazon bleibt weiterhin Marktführer – vorerst
Kurzum: Amazon kann in vielerlei Hinsicht weiterhin den Stellenwert behalten, den es für viele Kund:innen in Deutschland und Europa heute hat. Das wird aber vor allem in jenen Markenumfeldern und Warensegmenten passieren, bei denen es sich nicht um austauschbare, einfach umgelabelte Produkte handelt. Klar ist aber schon heute, das zum Amazon Marketplace und zu Ebay noch mindestens ein bis zwei chinesische Handelsplattformen kommen werden, die auch in Deutschland eine wichtige Rolle spielen werden, wohl aber nicht so umfassend und quasi markenbebgriffbildend wie Amazon sein werden.
Auf den Plan rufen wird das allerdings die Politik und die Regulatorik – aufgrund von markenrechtlichen Vorgaben, Markenrechtsverletzungen, Zollgesetzen und damit verbundenen Workflows und nicht zuletzt auch in Hinblick auf Lieferkettennachweise und Nachhaltigkeitsbestrebungen. Es bleibt abzuwarten, wie lange die deutsche und die europäische Gesetzgebung dieses Mal brauchen werden und ob hier einfach die gegenüber Amazon und Ebay getroffenen Plattformgesetze ausreichen werden.