Attila Hildmann, der Islamische Staat und Wladimir Putin: Sie alle haben in der Vergangenheit eine Kampfansage von Anonymous erhalten. Das Kollektiv zeigt sich klassischerweise mit verzerrter Stimme, schwarzem Kapuzenpullover und einer Guy-Fawkes-Maske im Netz. Aber was steckt eigentlich hinter den Masken, die die ganze Welt kennt?
Anonymous: Von der Troll-Armee zum Freiheitsaktivismus
Die Anfänge des heutigen Kollektivs liegen in den frühen 2000ern, als der kanadische Hacker Aubrey Cottle einige Trolle anführt, die spaßeshalber ihr Unwesen im Netz treiben.
Den Namen „Anonymous“ gibt sich die Gruppe basierend auf dem Imageboard (eine Art Internetforum) 4chan, in dem alle nicht eingeloggten Nutzer:innen als „Anonymous“ angezeigt werden. Hier entspringen auch die sogenannten „Rules of the Internet“, deren Regeln Nummer 3 („We are anonymous“), 4 („We are legion“) und 5 („We do not forgive, we do not forget“) später zum signifikanten Teil der Kollektiv-Ansagen werden.
Auch die Guy-Fawkes-Maske, die mittlerweile weltweit bei Protesten genutzt wird, kommt bereits hier ins Spiel. Sie wird in „V wie Vendetta“ von der Hauptfigur V, einem Anarchisten und Terroristen, getragen und ist inspiriert von einem katholischen Offizier, der 1605 in London den protestantischen König Jacob I. mitsamt dessen Parlament in die Luft sprengen wollte. Ein Reddit-Thread von 2020 gibt allerdings auch den Hinweis, dass nicht etwa der Vendetta-Film, sondern das Meme „Epic Fail Guy“, in dem ebenfalls eine Guy-Fawkes-Maske vorkommt, Cottle und seinen Mitstreitern als Inspiration gedient hat.
2008 erlebt die Troll-Gruppe Anonymous, die im Jahr zuvor vom Sender Fox News als „Internet Hate Machine“ bezeichnet worden war, einen Wendepunkt: Ein internes Werbevideo von Scientology gelangt für kurze Zeit an die Öffentlichkeit, die Sekte sieht sich mit massiven Vorwürfen konfrontiert.
Anonymous reagiert darauf mit einer Trollingkampagne, die beispielsweise auf DDOS-Attacken setzt und die Hotlines von Scientology blockiert. Anonymous-Mitglied Gregg Housh nimmt daraufhin die erste Video-Ansage im Namen des Kollektivs auf, eine „Message to Scientology“. Das Video geht viral, es folgen internationale Proteste gegen Scientology, deren Bild von Guy-Fawkes-Masken geprägt ist.
Anonymous entwickelt sich daraufhin in zwei Richtungen: Die Trolle unter Cottle und die Hacktivisten unter Housh. 2010 und 2011 wird Anonymous endgültig zum Sinnbild für Hacktivismus und digitalen Protest, es bilden sich Gruppen und Ableger rund um die Welt, die sich in den unterschiedlichsten Aktionen vor allem gegen Einschränkungen im Netz stellen.
Verrat und Verhaftungen – Anonymous verändert sich, bleibt aber präsent
Im Februar 2012 wird bekannt: Hector Monsegur, der das Pseudonym Sabu nutzt, ist nicht nur populärer Mitgründer der Anonymous-Untergruppe Lulzsec – sondern auch dem FBI ins Netz gegangen. Unter dem Druck des Geheimdienstes erklärt sich der zweifache Pflegevater zu einer Kooperation bereit, die sich über Monate erstreckt. Es folgt eine Welle an Verhaftungen, mit teils hohen Strafen sollen scheinbar Nachahmer:innen abgeschreckt werden.
Auch 2013 werden weitere Anonymous-Mitglieder, die an Hacks beteiligt waren, festgesetzt, bekannte Lulzsec-Köpfe wie Jeremy Hammond und Mustafa al Bassam sind dabei. Für einen FBI-Agenten gehören die spektakulären Coups des Kollektivs damit sogar ganz der Vergangenheit an: „Das liegt daran, dass wir ihre größten Spieler demontiert haben.“
Tatsächlich wird es ab 2015 ruhiger um Anonymous, vor dem Aus steht das Kollektiv aber keinesfalls. Die Bewegung besteht weiterhin dezentralisiert und von außen undurchsichtig, scheint mittlerweile vielleicht weniger, aber dafür taktischer aktiv zu sein.
So beziehen sie 2020 beispielsweise Position nach der Tötung von George Floyd und bei den entstandenen „Black Lives Matter“-Protesten. Während der Corona-Pandemie wird unter anderem die „Operation Tinfoil“ ausgerufen: Um Verschwörungstheoretiker:innen die Stirn zu bieten, kapern die Aktivist:innen zum Beispiel die Internetpräsenz von Corona-Leugner Attila Hildmann. 2022 scheint dann unter anderem Tesla-Chef Elon Musk ins Visier einiger Kollektiv-Mitglieder gerückt zu sein – und im Krieg in der Ukraine erteilt Anonymous Wladimir Putin eine Kampfansage.
Anonymous: Das zweischneidige Schwert des Kollektivs
Im Netz werden viele Aktionen, die im Namen von Anonymous erfolgen, gefeiert. Das Kollektiv bietet Menschen eine mächtige Marke, unter der sie digitalen und auch realen Protest sichtbar machen können, es verleiht ihnen eine Stimme.
Ob die Occupy-Wallstreet-Bewegung, die „Jasminrevolution“ in Tunesien oder der Krieg in der Ukraine: Anonymous hat sich bei zahlreichen weltpolitischen Ereignissen für Informationsfreiheit und Menschenrechte eingesetzt. Die Guy-Fawkes-Maske ist dabei zum markanten, internationalen Symbol geworden. Aber: Die Bewegung hat keinerlei moralische Verpflichtung; wer oder was als nächstes Ziel auf die Agenda einer Gruppierung oder einzelner Aktivist:innen rückt, ist wenig berechenbar.
Ein Aspekt, der immer wieder deutlich wird: Das Kollektiv besteht längst nicht nur aus begabten Hacker:innen, kommuniziert aktiv, dass jede und jeder ein Teil von Anonymous werden kann.
Ein Beispiel dafür bietet eine Aktion, die Anonymous anlässlich des Krieges in der Ukraine initiiert hat. Anti-Kriegs-Botschaften an die russische Bevölkerung sollen in Google-Bewertungen von Restaurants oder Sehenswürdigkeiten eingebaut werden, um den Zensurmaßnahmen der Regierung zu entgehen. Dafür braucht es keine IT-Kenntnisse, ein Internetzugang und ein Google-Account reichen. Ähnlich ist es bei den immer wieder genutzten DDOS-Angriffen, die keine Hacking-Skills erfordern, sondern eher wie eine Art digitale Sitzblockade funktionieren.
Die Tatsache, dass jeder Mensch sich als Anon, also als Anhänger von Anonymous, ausgeben kann, führt allerdings auch dazu, dass der Name der Bewegung immer wieder missbraucht wird. In Deutschland hatte beispielsweise über Jahre hinweg eine rechte Hetz-Bewegung unter dem Namen „Anonymous.Kollektiv“ auf Facebook Anhänger:innen gesammelt. Die „echten“ Anons hatten sich immer wieder von der Seite distanziert, letztendlich wurde der Hetzauftritt von Facebook entfernt. Wirklich zerstreut haben dürfte sich die entstandene Gefolgschaft der menschenverachtenden Botschaften dadurch allerdings wohl nicht.
„Jeder kann sich Anonymous nennen, doch nicht überall ist Anonymous drin“
Die dezentrale Struktur von Anonymous ist in gewisser Weise ein zweischneidiges Schwert. Sie sorgt einerseits dafür, dass Gruppen rund um die Welt eigenständig aktiv werden können, andererseits ist es so schwierig, die Bewegung auf eine klare moralische „Linie“ festzulegen. Berühmtes Beispiel dafür ist der Hack des Informationsdienstes Stratfor im Jahr 2011, der zwar von Anons ausgegangen war, bei dem sich andere Mitglieder der Bewegung jedoch von der Vorgehensweise distanziert hatten.
Gerade bei größeren Aktionen und in ereignisreichen politischen Vorgängen sind die Informationen, die über angebliche Anonymous-Hacks im Netz kursieren, außerdem teilweise mit Vorsicht zu genießen – eine transparente Verifizierung durch offizielle Stellen gibt es nunmal meist nicht.
In Deutschland gilt allerdings das Blog anonleaks.net als offizieller Kommunikationskanal, über den Aktivist:innen Interessierte auf dem Laufenden halten und Details besprechen. Dort heißt es beispielsweise zur „Op(eration)Russia“: „Anonymous ist ein großes Kollektiv, international sind derzeit mehrere Tausend Anons aktiv, die sich über diverse Kanäle selbst koordinieren. Wegen der Größe der Op ist der Informationsfluss daher mehr als chaotisch, selbst für uns.“
Es folgt eine Warnung vor Trittbrettfahrer:innen, die die Situation zu ihren Gunsten nutzen könnten: „Jeder kann sich Anonymous nennen, doch nicht überall ist Anonymous drin. Bei solchen großen Ops ist es immer so, dass an allen Ecken und Enden Anonymous-Kanäle auftauchen, die Follower einsammeln, um Spenden bitten, sich ‚official‘ nennen“ – das alles sei weder seriös noch im Sinne von Anonymous.
Anonymous „kann starke Worte“ und gibt damit Hoffnung
Unklar ist bei „Kampfansagen“ des Kollektivs auch, wie tief die Angriffe auf der technischen Ebene dann tatsächlich gehen. Im Krieg in der Ukraine hat beispielsweise Linus Neumann, Sprecher des Chaos Computer Clubs, deutlich vor tatsächlichen Angriffen auf die russische Infrastruktur gewarnt.
Im Anonymous-Video, das sich an Putin richtet, ist unter anderem die Rede davon, dass „die Möglichkeit besteht, dass Schlüsselkomponenten“ der Regierungs-Infrastruktur übernommen würden. Bei anonleaks.net heißt es allerdings: „Die Kriegsrhetorik ist in weiten Teilen überzogen. Anonymous kann starke Worte, aber man ist sich immer der Tatsache bewusst, dass dies eine gefährliche Situation ist. Die Aktivisten wissen, dass sie ein Angriff auf wirklich kritische Infrastrukturen wie Atomkraftwerke oder Verkehrsleitsysteme für uns ein No-Go ist.“
Stattdessen wolle man in enger internationaler Zusammenarbeit den russischen IT-Apparat „beschäftigt“ halten, Informationen beschaffen und Putin „ein bisschen seine eigene Medizin schmecken zu lassen“. Das ist im Zweifel zwar nicht kriegsentscheidend – zeigt aber Solidarität und gibt vielen Menschen Hoffnung.