Blind Signing: Was du über den vermeintlichen Trend wissen musst
Doch ein paar Monate später beschleicht dich das ungute Gefühl, dass die Versprechungen aus dem Vorstellungsgespräch und deine Vorstellungen dem „reality check“ nicht standhalten. Und nun? Reißlinie ziehen, kündigen? Zähne zusammenbeißen, weitermachen?
Was ist Blind Signing?
Was in diesem Beispiel passiert ist, erleben in letzter Zeit immer mehr Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, die frisch im Job durchstarten: fast schon überstürzt die neue Herausforderung angenommen, den Vertrag mehr oder weniger blind unterschrieben und später gemerkt, dass das doch nicht das Richtige ist. Genau das beschreibt Blind Signing.
Der Begriff hat sich Ende des letzten Jahres seinen Weg aus dem Büro eines Karrierecoachs über Social Media bis zum Handelsblatt und weiteren Medien gebahnt. Nach Quiet Quitting und Career Cushioning ein weiterer (vermeintlicher) Trend, der aktuelle Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt beschreibt.
Zur Einordnung: Blind Signing betrifft nicht nur Arbeitnehmende. Auch umgekehrt tritt diese verzwickte Situation auf. Weil Arbeitgeber händeringend nach Arbeitskräften suchen, werden unterschriftsreife Arbeitsverträge schneller verteilt als früher. Die Argumentation: Lieber ist die Stelle besetzt als weiter offen. Ob es passt, wird sich dann zeigen. Auch hier folgt die Erkenntnis oft nach wenigen Wochen oder Monaten: Blind Signing kann wehtun.
Wie kommt es so weit?
Wer sich weniger mit den Dynamiken des herausfordernden Arbeitsmarkts beschäftigt, mag sich fragen, wie es so weit überhaupt kommen kann. Warum nicht in Ruhe den Markt sondieren, nach passenden Mitarbeitenden respektive Arbeitgebern Ausschau halten und dann eine Entscheidung treffen?
In der Theorie stimmt das. Doch die Praxis spielt nicht selten nach ihren eigenen Regeln, Theorie hin oder her. Wer ein spannendes Jobangebot auf dem Tisch liegen hat, will vielleicht nicht lange zögern. Es könnte schließlich ein anderer Kandidat oder eine andere Kandidatin einem die Traumstelle vor der Nase wegschnappen.
Umgekehrt das gleiche Bild: Kaum Bewerbende, Fachkräfte gibt es sowieso keine – und es sitzt jemand gegenüber, der einen guten Eindruck macht. Viele nutzen die Chance und sagen zu – über die zwei, drei Makel wird gerne hinweggesehen. Zudem geht heute alles deutlich schneller als früher, womöglich reicht ein gut gepflegtes Linkedin-Profil schon für den ersten Entwurf des Arbeitsvertrags aus.
Schnell, schnell und ohne Tiefe
Viele Bewerbungsgespräche gehen heute zudem nicht mehr in die Tiefe. Dabei ist es wichtig – dafür braucht es keine empirische Erhebung –, sich gegenseitig kennenzulernen. Was sind Stärken, wo liegen die Schwächen? Ganz wichtig: Was wird vom Arbeitsverhältnis erwartet? Das gilt für beide Seiten gleichermaßen. Es nützt nichts, wenn Bewerbende drei Stunden über sich sprechen müssen, der Gegenüber als Unternehmensvertretung jedoch kein Wort über sich und den Betrieb verliert.
Ein entscheidender Punkt im Bewerbungsprozess und speziell im Bewerbungsgespräch ist Ehrlichkeit und Transparenz. Auf dem gemeinsamen Weg werden direkt hohe Hürden aufgebaut, wenn neuen Mitarbeitenden Tätigkeiten versprochen werden, die sie später nie ausüben. Oder wenn Benefits in Aussicht gestellt werden, die es gar nicht gibt. Aber auch wenn umgekehrt Fähigkeiten angepriesen werden, die später gar nicht ins Unternehmen eingebracht werden können. Diese Hürden später zu überwinden, ohne direkt zu fallen, ist nicht einfach.
Blind Signing wäre ein deutlich kleineres Problem, wenn sich Recruiting auf der einen und die Bewerberschaft auf der anderen Seite mehr Zeit füreinander nehmen würden. Es muss dabei aus Sicht der Unternehmen nicht der „klügste IQ-Test, das psychologisch sicherste Assessment-Center und schließlich der beste Business-Case mit überzeugendem Elevator-Pitch sein“. So formuliert es Bernd Slaghuis, der den Begriff Blind Signing in seinem ausführlichen Artikel geprägt hat.
Wichtiger sind Gespräche auf Augenhöhe, die Kommunikation von Erwartungen, Vorstellungen und Werten. Stimmt die Chemie, passen beide Parteien zusammen? So lässt sich Blind Signing verhindern. Zwar nicht immer, aber oft.
Blind Signing: Trend oder kein Trend?
Aber ist Blind Signing wirklich ein neuer Trend? Oder vielmehr etwas, das schon immer da war und jetzt verstärkte Aufmerksamkeit genießt? Die Wahrheit liegt wohl irgendwo in der Mitte. Experten und Expertinnen sowie diverse Beratende nehmen eine Zunahme solcher Fälle wahr.
Ein Blick auf die blanke Theorie und Statistik liefert jedoch keine überzeugenden Argumente. Das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln hat auf Basis der Zahlen des Deutschen Statistischen Bundesamtes die Fluktuation des Arbeitsmarkts in einer Studie untersucht. Die Erwartungshaltung ist klar: Junge Menschen binden sich weniger stark an ihre Arbeitgeber als ältere Semester. Gleichzeitig sind Entwicklungen und Phänomene (wenn man sie so nennen will) wie Blind Signing auf dem Vormarsch.
Bedeutet: Die Fluktuationsrate müsste in den letzten fünf bis zehn Jahren deutlich zugelegt haben. Die Zahlen zeichnen jedoch ein anderes Bild. Seit 2007 bis einschließlich 2021 pendelte der Fluktuationskoeffizient in einer engen Range um die 30 Prozent. Dieser Koeffizient setzt die angefangenen und beendeten Beschäftigungsverhältnisse ins Verhältnis zum Beschäftigungsbestand.
Das Verhältnis ist mal etwas höher, mal etwas niedriger, ohne nennenswerte Ausschläge nach oben oder unten. Einzig im ersten Coronajahr 2020 erfolgte ein deutlicher(er) Rückgang um rund drei Prozentpunkte. Im Jahr darauf legte der Koeffizient aber schon wieder deutlich zu.
Was bleibt als Fazit? Blind Signing gibt es, vermutlich auch mehr als noch vor einigen Jahren. Ein neues Phänomen ist es jedoch nicht – und für einen Trend ist die Datenlage dann doch zu dünn.
Zähne zusammenbeißen oder Reißleine ziehen?
Theorie hin oder her: Die eingangs gestellte Frage ist noch nicht beantwortet. Ist es aus Sicht von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen besser, sich trotz der voreiligen und sich als falsch entpuppten Entscheidung durchzubeißen und darauf zu hoffen, dass alles gut wird? Oder ist eine Kündigung die bessere Option?
Ob drei Monate oder drei Jahre – wer sich unwohl im Job fühlt und keine Perspektive sieht, sollte die Reißleine ziehen und kündigen. Das ist die für beide Seiten beste Option. Gibt es hingegen nicht nur schwarz und weiß, hilft möglicherweise ein klärendes Gespräch. Darin können – besser spät als nie – Erwartungshaltungen transparent kommuniziert werden. So reißt ihr das Ruder womöglich noch herum und fahrt gemeinsam in die richtige Richtung.
„Es nützt nichts, wenn Bewerbende drei Stunden über sich sprechen müssen, der Gegenüber als Unternehmensvertretung jedoch kein Wort über sich und den Betrieb verliert.“
Vielen Dank für dieses wundervolle Beispiel, wie verrückt dieser ganze Gender-Wahn ist :-) „Bewerber“ ist korrekterweise das generische Maskulinum, welches Menschen beider Geschlechter einschließt (und auch diejenigen, die sich nicht entscheiden können), und muss nicht durch „Bewerbende“ neutralisiert werden. Stattdessen wird mit „der Gegenüber“ fälschlicherweise suggeriert, dass Personaler immer männlich seien, obwohl im Deutschen das Gegenüber schon immer neutral war. Liebe Journalisten, schreibt anständiges Deutsch und erspart uns diesen Unfug.