Bierhumpen stehen auf virtuellen Holztischen, die Fachwerkbalken halten das digitale Dach und im Kamin lodert ein Pixelfeuer. Durch die digitale Kneipe bewegt sich der rosa Avatar des 14-jährigen Mewes. Der Kopf des Strichmännchens wackelt, wenn seine Stimme ertönt. Mewes erzählt davon, wie er die Stammkneipe seines Vaters digital nachgebaut hat. Diese Kneipe war der Lieblingsort von Papa Jojo. Das verriet er Mewes noch kurz vor seinem Tod.
Jetzt grinst der Vater den Besucher:innen auf Fotos und Videos an allen Wänden entgegen: Jojo, ein lebensfroher Mann Anfang 50, auf einem Boot, am Grill, mit seinen Kindern. Über 55 Fotos, Videos, Briefe und Sprachnachrichten haben Freunde und Familie hochgeladen, damit Mewes sie in der Kneipenkulisse ausstellen kann wie in einem digitalen Museum. Auch das Video der Urnenbeisetzung seines Vaters ist dabei.
Nach langer Krankheit starb der Berufsschullehrer im Juli. Sein Sohn wollte für ihn einen besonderen Abschiedsort erschaffen. Dafür verbrachte der Schüler eine Woche seiner Sommerferien am PC und gestaltete den Raum. Für die Trauerfeier lieh Mewes den Beamer seines großen Bruders und legte ein Lan-Kabel quer durchs Haus: Sein 3D-Werk projizierte er auf eine Leinwand und führte die Trauergäste durch den Erinnerungsraum. Per Link war die digitale Kneipe einen Monat allen Bekannten des Verstorbenen zugänglich. 40 Besucher:innen navigierten ihre Avatare durch den Raum, sahen die digitale Ausstellung an und trafen auf andere Trauernde.
Die technische Infrastruktur stammt vom Startup Farvel. Der Trauerraum für Mewes’ Vater ist der erste real genutzte. 150 weitere 3D-Räume sollen im kommenden Jahr folgen, sagt Lilli Berger. Mit zwei Mitstreiter:innen hat sie Farvel Anfang 2021 gegründet.
Ihre Geschäftsidee vereint Technologie mit der Bestattungsbranche. Eine Verschmelzung, die auch als Deathtech bezeichnet wird. Eine neue Branche, mit surrealen bis umweltfreundlichen Ideen zur Bestattung der Toten oder der Trauer der Angehörigen. In einer virtuellen Realität erschufen südkoreanische Programmierer:innen das Abbild eines verstorbenen Mädchens. In einer TV-Show konnte die Mutter der verstorbenen Siebenjährigen dann mit dem Avatar ihrer Tochter sprechen. Eine sehr emotionale Begegnung vor laufender Kamera.
Deathtech: Kompostierte Leichnamen und Diamenten aus Asche
Ein anderes künstlich erzeugtes Wiedersehen teilte die Influencerin Kim Kardashian auf Twitter. Ihr Ehemann, Rapper Kanye West, hatte ihr ein Hologramm ihres verstorbenen Vaters zum Geburtstag geschenkt. Deepfake-Technologie und künstliche Intelligenz machten die digitale Inszenierung des Verstorbenen möglich. An künstlicher Kommunikation mit Jenseits-Charakter arbeitet auch Microsoft: Anfang 2021 sicherte sich der Konzern das Patent für einen Chatbot, der die Sprache einer verstorbenen Person nachahmt.
Deathtech-Startups wirbeln weltweit den klassischen Bestattungsmarkt auf
Deathtech-Startups wirbeln weltweit den klassischen Bestattungsmarkt auf. Zum Beispiel in London, wo das Startup Farewill binnen zwei Jahren zu einem der größten britischen Dienstleister geworden ist, die Menschen bei der Erstellung ihres Testaments unterstützen. Noch näher an die Arbeit der Bestatterzunft rücken Unternehmen, die aus der Asche von Verstorbenen Diamanten oder Steine pressen, wie die beiden US-amerikanischen Dienstleister Eterneva und Parting Stone. Um die emissionsreiche Kremation zu umgehen, widmen sich andere Startups wie Aquamation International aus den USA der alkalischen Hydrolyse, bei der heiße Kalilauge den Leichnam zersetzt. In einigen amerikanischen Bundesstaaten können Tote auch kompostiert werden. „Erde zu Erde“ ist das Motto des Startups Recompose aus Seattle. Nach drei bis sechs Wochen mit Spänen und Mikroben in einer Stahlwanne verwandeln sich die sterblichen Überreste eines Menschen in zwei Schubkarren voll Erde.
In Deutschland hingegen geht es traditioneller zu: Friedhofszwang und Bestattungsgesetze lassen nur wenig Spielraum für den Verbleib sterblicher Überreste. Tote dürfen in der Regel frühestens nach 48 Stunden beerdigt oder eingeäschert werden. Je nach Bundesland müssen Leichname vier bis zehn Tage nach dem Todeszeitpunkt bestattet sein. Auch die Asche Verstorbener muss unter die Erde oder kann in dafür vorgesehenen Meeresabschnitten verstreut werden.
Viele deutsche Deathtech-Unternehmen widmen sich deswegen digitalen Trauermöglichkeiten wie Farvel mit seinen Erinnerungsräumen. Obwohl die Geschäftsidee vor der Corona-Pandemie entstand, wurde der Bedarf nach Trauerarbeit im Internet während der Pandemie und ihren Hygienevorschriften sichtbarer als je zuvor. Technikaffine Bestatter:innen oder Angehörige übertrugen Beisetzungen im Livestream oder luden Videos ins Netz.
Lässt sich digital trauern?
Aber funktioniert Trauer überhaupt digital? Sehr gut sogar, ist Ilona Nord überzeugt. Als Professorin für evangelische Theologie forscht sie an der Universität Würzburg unter anderem zu digitaler Trauer. Dass sich unsere Beziehung zur verstorbenen Person durch den Tod verändert hat, lernen wir erst nach und nach. Ein psychologischer Prozess, bei dem vielen Trauernden der Austausch mit anderen in ähnlichen Situationen hilft. „Online- und Offlineangebote sind keine Gegensätze mehr, sondern können sich befördern und unterstützen“, erklärt Nord. Digitale Trauergruppen oder -foren würden die Einstiegshürden für Trauernde senken, durch ihre Unabhängigkeit von Ort und Zeit und der Option, anonym zu bleiben. Wichtig sei dabei aber, dass die Trauernden auch Grenzen ziehen: „Eine nicht endende Flut von Bildern oder anderen Erinnerungen an die verstorbene Person in sozialen Medien kann je nach Stadium der Trauer auch schwer zu ertragen sein“, weiß Nord.
Das Internet regt Trauernde auch dazu an, mehr Inhalte und Medien zu teilen.
Formulieren Trauernde allerdings ihre Gedanken online in Trauerforen oder auf sozialen Plattformen, funktioniere das sogar besser als auf Papier, meint die Theologin. „Online-Kommunikation ist viel lebendiger. Neue Nachrichten, Farben, Bilder und Töne sind Zeichen von Leben und geben mir Feedback.“ Das Internet, so Nord weiter, rege Trauernde auch dazu an, mehr Inhalte und Medien zu teilen: Nie war es einfacher, anderen ein Foto oder Video der verstorbenen Person zu zeigen – egal, ob über eine Messenger-App oder im 3D-Raum.
Ein solcher digitaler Sammelpunkt für die Medien der Trauernden sollen die digitalen Räume von Farvel sein. Damit ermöglichen sie Austausch auf einem höheren Level als Zoom-Meetings, sagt Creative Technologist und Farvel-Gründer Markus Traber. „Die 3D-Räume sind ein Ort, um Medien oder Gedanken mit anderen zu teilen und so um die Erinnerungen anderer Personen reicher zu werden.”
Für Mewes und seine Familie hat das funktioniert. Bevor der Raum nach einigen Wochen offline ging, speicherte der 14-Jährige ihn auf seinem PC. Für den Jungen ist die Datei viel beständiger als das gedruckte Fotobuch, das sich seine Mutter aus den eingereichten Bildern hat erstellen lassen.
Farvel: Erinnerungen in 3D
Unterschiedlichen Bedürfnissen der Trauernden wollen die Farvel-Gründer:innen mit weiteren Funktionen entgegenkommen und Kund:innen die Räume individuell gestalten lassen. „Das Schöne am Digitalen ist: Wir brauchen keine vier Wände und eine Lampe oben“, sagt Gründerin Lilli Berger. Nuzter:innen sollen später zwischen verschiedenen Szenerien wie Räumen oder Landschaften wählen und Einzelteile wie die Wandfarbe oder die Form eines Sees anpassen können. „Wir arbeiten gerade daran, dass Angehörige auch Fotos von Gegenständen hochladen können, die dann dreidimensional abgebildet werden. Zum Beispiel der geliebte Schaukelstuhl von Oma“, erklärt Berger. Finanzielle Unterstützung bekommt das Gründungstrio im zweiten Jahr aus dem Förderprogramm Exist des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie. Geld sollen auch bald die ersten zahlenden Kund:innen einbringen. Den direkten Kundenkontakt überlässt das Startup aber anderen: Bestattungsunternehmen, Trauerredner:innen oder andere Dienstleister werden die Software trauernden Familien anbieten. So will Berger Bestatter:innen digital emanzipieren. „Viele Unternehmen bieten nicht mehr als einen Social-Media-Auftritt oder Livestream der Beisetzung“, sagt sie.
Dabei stehe die Branche digitalen Neuerungen offen gegenüber, betont Stephan Neuser. Der Generalsekretär des Bundesverbandes Deutscher Bestatter vertritt über 80 Prozent der deutschen Bestattungsunternehmen. Die Digitalisierung der Branche habe durch die Pandemie einen Anschub bekommen, erklärt er. Digitales funktioniere aber nur, wo der persönliche Kontakt zwischen Angehörigen und Bestatter:innen nicht zu kurz komme.
Das Marktpotenzial von Bestattungsdienstleistern ist groß: 2,1 Milliarden Euro Umsatz hat die Branche in Deutschland 2019 erwirtschaftet. Über 40 Prozent mehr als noch zehn Jahre zuvor, gibt das Statistische Bundesamt an. Wie viel eine Bestattung kostet, hänge aber stark von den Wünschen der Angehörigen ab, weiß Generalsekretär Neuser. „Ob bei der Musik, dem Catering, der Dekoration oder der Trauerrede: Bestatter gehen seit Jahren auf immer individuellere Wünsche der Angehörigen für die Trauerfeier ein“, sagt er.
Grievy: Trauer per App bewältigen
Individueller sei auch die Trauer der Angehörigen geworden, so Theologin Ilona Nord. Religiöse Riten haben früher als zeitliche Marker und Struktur für die Trauer fungiert. Werden diese Riten unwichtiger, verläuft die Trauer freier, erklärt Nord. Die gewonnene Freiheit müssen die Betroffenen selbst gestalten und neue Formen der Trauer finden. Orientierung können dabei digitale Begleiter bieten. „Nach der anfänglichen Schockphase kann das für manche ein guter Weg sein, ihrer Trauer Ausdruck zu verleihen“, so Nord weiter. Mit einer Trauer-App möchte die Psychologin Nele Stadtbäumer genau das erreichen.
Ihre App Grievy setzt direkt nach dem Todesfall an, mit Checklisten und Informationen für die Organisation der Beisetzung. Herzstück der App ist aber das Programm zur Trauerbegleitung. „Es basiert auf der kognitiven Verhaltenstherapie, aber auch Methoden aus der Akzeptanz-, Commitment- und Traumatherapie sind eingeflossen“, ergänzt Stadtbäumer. An den Inhalten hat die Psychologie-Doktorandin über ein Jahr lang mit vier angehenden Psychotherapeutinnen gefeilt. Bis jetzt arbeitet das Team noch ohne Stipendium oder externe Finanzierung. Ende des Jahres soll eine kostenlose Beta-Version der App verfügbar sein. Ist die Testphase vorbei, werden Festbeträge fällig, um die App drei, sechs oder zwölf Monate nutzen zu können.
Nutzer:innen erwarten interaktive Themenkurse in sechs Bereichen, die anregen, sich mit der eigenen Trauer auseinanderzusetzen. Eine konkrete Übung zum jeweiligen Thema soll die Trauernden anregen, ihr Denken und Verhalten zu ändern. „Die App soll keine Eins-zu-eins-Trauerbegleitung durch Experten ersetzen. Aber sie kann entweder eine Begleitung unterstützen oder selbstständig angewandt werden“, sagt Nele Stadtbäumer. Die Smartphone-App senke die Hemmschwelle, sich mit der eigenen Trauer zu beschäftigen, erklärt sie.
Da der Trauerprozess aber immer unterschiedlich verläuft, sei das Schreiben universeller Hilfestellungen schwer gewesen, so Stadtbäumer weiter. Um den passenden Tonfall sind die Entwicklerinnen bemüht. „Die App darf niemandem das Gefühl vermitteln, sein Trauer-Erleben wäre nicht normal oder nicht in Ordnung. Jeder darf in der Form trauern, in der es sich persönlich richtig anfühlt. Grievy zeigt aber auch Verhaltens- und Gedankenmuster auf, die sich langfristig negativ auf den Trauerprozess auswirken können, gibt konkrete Hilfestellungen und verweist auf Hilfsangebote.“
E-Memoria: Das Facebook für Verstorbene
Eine weitere Anlaufstelle, um Trauer digital auszuleben, bietet das Stuttgarter Startup E-Memoria. Über QR-Codes auf Gräbern verbindet die Plattform die Online- mit der Offline-Welt. Wie in einem sozialen Netzwerk können Angehörige ein kostenloses Profil anlegen und es mit Fotos und Informationen über die verstorbene Person und ihr Leben füllen. Bekannte können auf dem Profil kondolieren und sich per Mail an Geburts- und Todestag der Person erinnern lassen. Für eine einmalige Einrichtungsgebühr von 69 Euro plus 24 Euro im Jahr können Angehörige eine Premiumseite buchen, zu der auch zwei Edelstahlplaketten mit QR-Codes gehören. Am Grabstein oder einer Vase angebracht, führen sie Friedhofsbesucher:innen auf das digitale Profil. Je nach Preiskategorie ist die Seite dann für ein, fünf oder zehn Jahre online.
QR-Codes auf Gräbern verbindet die Plattform die Online- mit der Offline-Welt
Als „Facebook für Verstorbene“ beschreibt Gründer Christian Paechter E-Memoria. Zusammen mit seinem Freund Timo Maier gründete er das Startup 2014 am Küchentisch. Nach dem Tod seines Großvaters wünschte sich der damals 36-Jährige eine digitale Möglichkeit der Anteilnahme. „Online gab es aber nur unseriöse Seiten voller Werbung und Kitsch. Wir wollten etwas Pietätvolles erschaffen“, erklärt Paechter. 250 Profile inklusive QR-Codes verzeichnet die Plattform bislang. Dabei hätten sich, entgegen der Vermutungen des Gründerduos, jüngere Menschen mit dem Onlineangebot schwergetan. „Ältere Menschen sind uns meistens viel aufgeschlossener begegnet. Vermutlich, weil sie schon mehr Berührungspunkte mit Trauer und Tod gehabt haben“, so Paechter.
Das Startup habe auch viele Anfragen zur Vorbereitung des eigenen Abschieds bekommen. Momentan arbeiten die Gründer an einem neuen Design und neuen Funktionen für die Plattform. Nutzer:innen sollen bald weitere Möglichkeiten für das digitale Kondolieren haben und Fotos von den Grabstätten hochladen können.
Genau darin sieht Theologin Nord einen Schwachpunkt der Plattform: Öffentlich lesbare Kommunikation wie das Kondolieren sei nicht gleichzusetzen mit privater Kommunikation, durch die viele Angehörige ihre Trauer ausdrücken. Öffentlicher Austausch funktioniere hingegen bei prominenten Verstorbenen besonders gut, sagt sie. Gut an E-Memoria sei aber, dass die QR-Codes auf Gräbern die Realität um digitale Elemente erweitere. „Der Friedhof wird so von einer reinen Grabstätte zu einer Erinnerungsstätte“, meint die Expertin für digitale Trauer.
Wo verblassende religiöse Strukturen Lücken hinterlassen, stehen Gründer:innen mit neuen Geschäftsmodellen bereit, diese zu schließen. Sie liefern Anstöße für einen anderen Umgang mit Trauer und Tod. Die drei deutschen Gründungsteams wollen der Trauer auch im Digitalen einen Platz schaffen. Das hätten sich Christian Paechter von E-Memoria, Farvel-Gründerin Lilli Berger und App-Entwicklerin Nele Baumstädter schon früher gewünscht. Denn eine Gemeinsamkeit haben die drei: Die Motivation zum Gründen wurzelt in der Trauer um die eigenen Eltern oder Großeltern.