Rückschrittsland Deutschland: Italien und Frankreich haben uns überholt

Länder wie Frankreich haben die Corona-Pandemie für ihre Digitalisierung genutzt – wir nicht. (Bild: Shutterstock / CrizzyStudio)
Es sind die kleinen Dinge, die aufmerksam werden lassen. Beispiel 1: Ich fahre mit dem Zug von Berlin nach Paris. Das WLAN ist gewohnt schlecht. Man plant schon gar nicht mehr damit. Bis man den Zug wechselt und im TGV auf einmal eine stabile Verbindung hat, mit der man problemlos Netflix- oder Youtube-Videos schauen kann.
Beispiel 2: Ich gehe essen. In jedem Pariser Restaurant, Café oder auf dem Markt ist das bargeldlose Bezahlen möglich. Bargeld brauche ich in Paris so gut wie nie. In Deutschland hingegen ist man ohne ziemlich aufgeschmissen: „Kartenzahlung erst ab zehn Euro – und nur mit EC“, wer kennt es nicht? Italien ist hier mindestens genauso gut aufgestellt.
Beispiel 3: Ich schließe in Frankreich einen Mobilfunkvertrag ab. 100 Gigabyte für 14,99 Euro – ohne vorgegebene Vertragslaufzeit. Ich weiß nicht, was ihr für Verträge habt, aber ich bin davon definitiv positiv überrascht.
Ich könnte noch mehr solcher Beispiele bringen. Doch vielmehr frage ich mich: Sind das alles nur gefühlte Wahrheiten, oder steht Frankreich in der Digitalisierung wirklich besser da als Deutschland?
Gefragt nach seiner Einschätzung zu Deutschlands Digitalisierung sagt Ijad Madisch, Co-Gründer und CEO von Researchgate und Mitglied des Deutschen Digitalrats: „Deutschland hinkt definitiv bei der Digitalisierung hinterher. Wir haben noch viel Arbeit vor uns und bewegen uns nicht so schnell voran, wie wir uns eigentlich voran bewegen müssten.“
Das zeigen auch Studien immer wieder. So belegte Deutschland laut „Digital Riser Ranking 2021“ des European Center for Digital Competitiveness unter den G7-Nationen den vorletzten Platz – zum zweiten Mal in Folge. Nur Japan schnitt noch schlechter ab. Bei dem Ranking wurden sowohl das digitale Ecosystem als auch das Mindset der Bevölkerung zum Thema Digitalisierung untersucht.
Zieht man den Kreis etwas größer, so steht Deutschland auch unter den 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländern (G20) weit abgeschlagen an drittletzter Stelle.

„Digital Riser Ranking 2021“ des European Center for Digital Competitiveness – Deutschland liegt weit abgeschlagen hinter Südafrika, Russland und Mexico. (Quelle: European Center for Digital Competitiveness)
Frankreich und Italien hingegen, auf deren wirtschaftliche und finanzielle Situation wir Deutschen oft etwas arrogant von oben herabblicken, haben die Corona-Pandemie genutzt und in dem Digitalranking kräftig hinzugewonnen.
Besser sieht es auch nicht aus, wenn man auf Kosten und Internet-Qualität schaut.
Im aktuellen weltweiten Preisvergleich fürs mobile Internet landet Deutschland auf Platz 156. Für die Studie des britischen Netzbetreibers Cable wurden die Preise für ein Gigabyte mobiler Daten in insgesamt 233 Ländern untersucht.
Bei uns kostet ein Gigabyte im Schnitt 2,66 Euro, umgerechnet 2,67 US-Dollar. Um zu diesem Wert zu kommen, hat Cable 60 verschiedene Preispläne betrachtet.
Frankreich und Italien stehen deutlich besser da: Italien belegt im globalen Ranking den zweiten Platz (durchschnittlich 0,12 Euro/Dollar) hinter Israel (durchschnittlich 0,04 Dollar). Frankreich landet auf Platz 7 (durchschnittlich 0,23 Euro/Dollar).
Platz 3 geht übrigens an San Marino (0,14 Dollar).
Doch nicht nur die hiesigen Internet-Kosten, sondern auch die Qualität enttäuscht.
Der am 1. August veröffentlichte Digital Quality of Life Index 2022 zeigt, dass wir insbesondere bei Internet-Qualität und E-Government, also wie digitalisiert die Verwaltung ist, schlecht abschneiden – Faktoren, die auch für potenzielle Fachkräfte aus dem Ausland eine Rolle spielen.

Internet-Qualität in Europa nach Ländern. (Quelle: Surfshark, Digital Quality of Life Index 2022)
Dabei gibt es seit Jahren Versprechen. Im Koalitionsvertrag der Ampelkoalitionen findet sich das Wort „Digitalisierung“ insgesamt 63 Mal.
Die Verwaltung soll digitalisiert werden. Wissenschaft und Forschung sollen digitalisiert werden. Und natürlich auch die Wirtschaft.
Die wiederum gibt ihre eigenen Versprechen ab. So wollen Deutsche Bahn, die Telekom und Vodafone beispielsweise ihren Teil zur Digitalisierung beitragen, indem sie die Funklöcher auf den Strecken schließen – allerdings erst bis 2025.
Doch trotz der Versprechen passiert bizarrerweise größtenteils nicht nur zu wenig, sondern gar das Gegenteil.
Digitalisierungsexperte Madisch nennt als Negativbeispiel, dass Arbeitsverträge jetzt wieder handschriftlich unterschrieben werden müssen – „ein echtes Armutszeugnis für Deutschland“.

Ijad Madisch. (Bild: picture alliance / Jan Haas | Jan Haas)
Er warnt davor, dass sich damit eine falsche Sichtweise durchsetzen könnte, nämlich eine digitalisierungsfeindliche: „Bei jedem Gesetz und jeder Handlung, die wir machen, müssen wir uns daher nicht nur fragen, wie man Digitalisierung abbilden kann, sondern auch: Wie können wir ein digitalisiertes Denken noch weiter fördern?“
Um weiterhin ein Fortschrittsland zu bleiben (oder wieder zu einem werden), müssen wir endlich ins Handeln kommen und weniger versprechen. Walk the talk, wie es so schön heißt. Wir brauchen mehr Bildung, mehr Diskurs, mehr Lösungsansätze, mehr Wettbewerb. Denn solange wir unseren Nachbarn wie Frankreich hinterherlaufen, bedeutet das langfristig einen Teufelskreis. Und gegen Frankreich zu verlieren, war ja auch bei der Fußball-WM 2018 bitter.
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