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„Nicht einfach blind einem Trend folgen“ – Holokratie bei Mercedes-Benz

Träge deutsche Konzerne? Mercedes-Benz.io nutzt holokratische Organisation bereits seit vier Jahren. Klare Rollen, Verantwortung und Vertrauen in die Mitarbeiten ermöglichen es, digital und ortsunabhängig zusammenzuarbeiten.

Von Katsche P. Platz
6 Min. Lesezeit
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(Foto: Mercedes-Benz)

Liest man die Forbes-Studie über besonders attraktive Arbeitgeber für Menschen, die gerne ortsunabhängig arbeiten, dann sucht man lange nach deutschen Unternehmen.

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Sind wir in Deutschland zu träge? Und was ist mit den großen Namen? Alles schwer zu manövrierende Schlachtschiffe? Mit der Tochtergesellschaft Mercedes-Benz.io will Mercedes-Benz neue Wege in Richtung globale virtuelle Zusammenarbeit beschreiten. An drei miteinander vernetzten Standorten (Lissabon, Berlin und Stuttgart) soll Arbeit anders gedacht, organisiert und gelebt werden. Denn die Mission von Mercedes-Benz.io ist zukunftsweisend: Hier soll der Weg hin zu einem datengetriebenen und digitalen Unternehmen geebnet werden. Wie das funktioniert? Nikolaus Kober, Head of Digital UX, steht Rede und Antwort.

(Foto: privat)

t3n: Warum organisiert ihr die Arbeit bei Mercedes-Benz.io anders als in herkömmlichen Strukturen?
Nikolaus Kober: Das hat zwei Gründe: Zum einen haben wir uns gefragt, welche Persönlichkeiten wir für die Erfüllung unserer Mission brauchen, und zum anderen, welche Form von Arbeits- und Unternehmensstruktur diese Menschen dazu benötigen. Dafür haben wir nachgeforscht, Werte ermittelt und uns darauf basierend auf die Suche nach einer passenden Antwort gemacht. Fündig sind wir bei der Holokratie geworden, die aus der amerikanischen Software-Entwicklung kommt und auf den Prinzipien der Soziokratie aufbaut.

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Attraktiver für die besten Talente zu werden, ist aber nicht der einzige Vorteil. In einer responsiven Organisation kommen wir nicht nur schneller zu Ergebnissen, sondern können auch schneller auf Ereignisse innerhalb und außerhalb unserer Unternehmen reagieren. Durch die Vergabe von Rollen und klaren Verantwortlichkeiten an Mitarbeiter und die Befähigung in diesen Rollen gibt es keine klassischen Hierarchien. Jeder weiß genau was und wie er entscheiden kann. „Da muss ich mal schauen, wer dafür verantwortlich sein könnte“ kennen wir nicht und „die Kompetenz, vielleicht zu sagen“ gibt es bei uns nicht.

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t3n: Wie kann man sich so eine Struktur genauer vorstellen?
Bei einer holokratischen Organisation gibt es keine klassischen Hierarchien in Linien. Wir sind in Circles, also Kreisen, organisiert, die alle jeweils einen klaren Purpose und darauf basierend einen Aufgaben- und Funktionsbereich umfassen. Je nach Zielsetzung des Kreises werden dafür notwendige Rollen kreiert, die dann von Mitarbeitern besetzt werden. Das kennt man beispielsweise auch aus Schwarmorganisationen oder Scrum. Jeder arbeitet hochgradig selbstorganisiert in seiner Rolle. Die Zuteilung der Rollen und die Strategie innerhalb des Circles erfolgt durch den jeweiligen Lead-Link. Benötigte Kernrollen eines Kreises werden demokratisch durch seine Mitglieder festgelegt.

t3n: Selbstorganisiert zu arbeiten, erfordert viel Disziplin und ein besonderes Skillset. Trainiert ihr das?
Das tun und müssen wir sicher noch intensiver. Wir achten jedoch bereits beim Einstellungsprozess darauf, dass die potenziellen Talente die passenden Fähigkeiten mitbringen. Nicht selten haben unsere Mitarbeiter eine Vergangenheit als Freelancer. Gerade junge Mitarbeiter bringen bereits viel Wissen, aber vor allem sehr viel Neugierde mit. Als Neueinsteiger sind sie noch offen für andere und neue Arbeitsweisen. Wir versuchen, ihnen Vertrauen zu geben und sie ihre eigenen Erfahrungen machen zu lassen. Eigenverantwortung heißt bei uns, die Freiheit und Möglichkeit zu haben, eigenverantwortlich zu gewinnen, aber auch Fehler zu machen. Fehler machen ist bei uns nicht nur willkommen, sondern auch unbedingt notwendig. Wer keine Fehler machen darf, kann auch nicht dazu lernen. Genau auf diese Weise erleben unsere Mitarbeiter eine steile Lernkurve und haben ein Arbeitsumfeld, das ein Höchstmaß an Austausch und Innovation bietet.

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t3n: Was sind eure Erfahrungen mit Remote Work?
Ortsunabhängiges, digitales Arbeiten ist ein wichtiger Bestandteil des Unternehmens. Es erlaubt uns, mit unterschiedlichen Charakteren aus unterschiedlichen Kulturen und Backgrounds aus aller Welt zusammenzuarbeiten und so von einem diversen und bunten Pool an Fähigkeiten zu profitieren. Ein Thema, das für alle Unternehmen zunehmend wichtiger wird. Die Gründe für die hohe Nachfrage sind vielschichtig. Remote Work kann erheblich dazu beitragen Beruf und Familie zu vereinen, beispielsweise wenn beide Eltern berufstätig sind. Ich arbeite zum Beispiel in dieser Sekunde zu Hause, meine Frau, die bei Daimler arbeitet, ebenfalls. So schaffen wir es heute, gemeinsam zum Elternabend im Kindergarten zu gehen

Mein persönlicher Eindruck ist , dass bei Remote Work immer etwas verloren geht, gerade, wenn es um emotionale Themen geht. Direkter menschlicher Austausch ist wichtig und für mich unersetzlich. Natürlich immer abhängig von der konkreten Aufgabe. Bei meinem Job arbeite ich viel auf sehr persönlicher Ebene mit Menschen, da wäre vollständig remote nicht möglich.

Für andere Aufgaben, beispielsweise wenn einzelne Kollegen an einem Ort real zusammenarbeiten, kann dieses Team sehr gut remote in ein Projekt eingebunden werden. Reine Einzelexpertise fragen wir dagegen eher selten ausschließlich remote ab.

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t3n: Im Prinzip entwickelt ihr ja Software. Ist euer Arbeitsmodell auch für Bereiche außerhalb der Software-Entwicklung interessant?

Ein agiles, schnelleres und noch flexibleres Mindset zu entwickeln, ist in dieser Welt unumgänglich, auch in anderen Bereichen. Das haben wir früh erkannt, agiles Arbeiten wird in allen Bereichen erprobt. Die ganze Branche befindet sich im Wandel, denn die Mobilität der Zukunft wird anders sein als in den letzten 100 Jahren.

Wir haben schon viele Unternehmen kennengelernt, die Holokratie erfolgreich ausprobieren – weltweit, vom Roboterbauer über den Pharmakonzern bis zur Anwaltskanzlei. Auch in Deutschland.

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Wichtig ist, nicht einfach blind einem Trend zu folgen. Für den einen mag die responsive Organisation die richtige Lösung sein, aber ein Mittel für alle ist sie definitiv nicht.

t3n: Hast du einen Tipp für Unternehmen, die Remote-Arbeit mehr ausprobieren wollen?
Einfach machen! Die Nachfrage von Arbeitnehmer und Freelancern, dass Remote-arbeiten möglich ist, wird immer weiter steigen.

Die Voraussetzung dafür ist Vertrauen. Unternehmen, die eine vertrauens- und verantwortungsvolle Arbeitskultur schaffen, werden auch erfolgreich mit Remote-Arbeit sein. Das funktioniert mit langjährigen Mitarbeiter genauso wir mit neuen Kolleginnen und Kollegen. Wir haben die Erfahrung gemacht, wenn wir jüngeren Kollegen von Beginn an mehr Verantwortung für ihre Aufgaben geben, lernen sie schneller selbstständig ihre Zeit einzuteilen, einzelne Aufgaben zu priorisieren und sich zu organisieren. Eine wichtige Voraussetzung für das Arbeiten außerhalb der Bürotüren.

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Natürlich gibt es arbeitsrechtliche Rahmenbedingungen, die beachtet werden müssen. Aber das bekommt man alles hin, das ist auch kein Hexenwerk.

t3n: Was hält Unternehmen davon ab, mehr ortsunabhängiges Arbeiten zuzulassen?
Häufig ist es die Angst vor Kontrollverlust oder Vertrauensbruch. Natürlich gibt es bei uns auch Fälle, in denen das nicht reibungslos funktioniert und das Gefühl entsteht das Vertrauen missbraucht wird. Dann ist wichtig, das direkt anzusprechen, statt das Remote-Arbeiten gleich wieder abzuschaffen. Ich habe schon von Fällen gehört, da war der eine krank und der andere war im Homeoffice, und beide trafen sich nachmittags beim Einkaufen. Für mich ist es in Ordnung, wenn jemand, der im Homeoffice arbeitet, seine Zeit frei einteilt. Hauptsache, das Ergebnis stimmt am Ende. Das ist genau das Vertrauen, das wir brauchen. Und das wird in unserer Organisation gefördert und geschult. Wir begleiten das, zum Beispiel mit der Rolle des Advocate. Das ist eine Art Mentor Plus, den jeder Mitarbeiter hat. Auch die Rolle People-Promoter fördert eigenverantwortliches Arbeiten und die persönliche Entwicklung jedes Mitarbeiters. Dazu gehören natürlich auch Fragen rund um Homeoffice und flexible Arbeitszeiten.

t3n: Welche Probleme habt ihr noch nicht gelöst?
Wir haben den Eindruck, dass sich Holokratie beziehungsweise die responsive Organisation für uns bewährt hat. Aber wir stellen auch das ständig auf den Prüfstand. Denn das Onboarding und Training für das Arbeiten in einer solchen Organisation bedeuten einen nicht unerheblichen Aufwand. Zudem stellen wir auch fest, dass nicht alle Menschen die Freiheiten der Selbstorganisation schätzen und aktiv nutzen. Seit ich 2016 den Job angetreten habe, haben wir uns weiterentwickelt und mehrfach umstrukturiert, weil wir aus Fehlern lernen. Arbeitsplätze hat das nicht gekostet. Im Gegenteil: Gerade weil wir wachsen und inzwischen an drei Standorten tätig sind, müssen wir schauen, welche Tools für die jeweilige Unternehmensgröße am besten passen.

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t3n: Wenn du deinen Enkeln nur ein Buch empfehlen könntest, welches wäre das?
Homo Faber von Max Frisch. Weil diese Geschichte so eindrücklich zeigt, wie wenig wir Menschen uns dem Leben aus Zufällen und Unwahrscheinlichkeiten hingeben und stattdessen immer nach der rationalen Erklärung suchen – und dabei scheitern.

t3n: Vielen Dank für das Gespräch.

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