
Der Streit zwischen der Europäischen Union und dem Elon-Musk-Netzwerk X, vormals Twitter, geht in die nächste Runde. Der Digital Services Act (DSA) verpflichtet das Social-Media-Netzwerk, gegen dort verbreitete Falschinformationen und Fake News vorzugehen. Die EU-Kommission hatte dem Unternehmen erst kürzlich einen umfassenden Fragenkatalog übermittelt, um festzustellen, in welcher Weise und mit welchen Maßnahmen X den Verpflichtungen nachkomme. Anlass waren Hinweise auf verbreitete Gewaltaufrufe und Falschmeldungen nach dem Angriff der islamistischen Hamas auf Israel.
Business Insider hatte unter Berufung auf Personen, die mit dem Unternehmen vertraut sind, gemeldet, Musk erwäge hieraus resultierend und als Kritik auf den DSA den Rückzug der gesamten Plattform aus sämtlichen Staaten der Europäischen Union. Das dementierte Elon Musk allerdings zwischenzeitlich in gewohnter Weise via X: „Ein weiterer, völlig falscher Bericht von Business Insider. Das ist keine echte Publikation.“
Neue Vorschriften der DSA nehmen Musk in die Pflicht
Trotz des Rückziehers ist es allerdings weder weit hergeholt noch unwahrscheinlich, das sich X aus dem EU-Raum zurückziehen könnte. Musk hatte in den letzten Wochen schon mehrfach laut darüber nachgedacht, dass Twitter möglicherweise in Europa nicht mehr zugänglich sein könnte, um sich vor neuen Vorschriften der Europäischen Kommission zu schützen. Man würde damit dem Beispiel von Meta folgen, die bislang in der EU noch nicht mit dem Twitter-ähnlichen Dienst Threads an den Markt gegangen sind und dies ebenfalls mit rechtlichen Vorgaben der EU-Gesetzgebung begründet haben.
Der im August in Kraft getretene DSA verlangt von großen Online-Plattformen wie X die Einrichtung wirksamer und transparenter Systeme zur Moderation und Entfernung falscher, irreführender und schädlicher Informationen. Durch eine Welle von Falschmeldungen über den Krieg zwischen Israel und der Hamas, die sich schnell auf X verbreiten, verletzt die Plattform aller Wahrscheinlichkeit nach bereits die DSA.
Werbemarkt am Boden, X-odus der Nutzer:innen
Doch welche Auswirkungen würde es nach sich ziehen, wenn Elon Musk bei X von einem auf den anderen Tag den Stecker ziehen würde? Weniger als noch vor einem Jahr – ziemlich genau da übernahm der Milliardär das Ruder in dem sozialen Netzwerk und stieß ein ums andere Mal nicht nur die Nutzer:innen vor den Kopf, sondern auch die Unternehmen, die auf der Plattform Werbung schalteten. Inzwischen ist, zumindest was die ertragreichen Premium-Brands betrifft, nicht mehr viel vom Werbegeschäft übrig. Von Kryptowerbung über Games-Apps bis hin zu wenig vetrauenswürdiger E-Commerce-Werbung reichen die deutschen Nutzer:innen eingeblendeten Werbebotschaften – ein wertiges Umfeld stellen sie aber allesamt nicht mehr dar.
Fragt man Mediaplaner:innen, die Werbebudgets für Unternehmen verwalten, erklären diese in ungewöhnlicher Übereinstimmung, dass man derzeit keinen Kunden habe, dem man das Werbeumfeld Twitter in den Mediaplan schreiben würde. Von fehlender Brand-Safety ist da die Rede und von einem hoch riskanten Werbeumfeld. Ein Problem, das Social-Media-Plattformen, aber auch Medienplattformen mit User-Generated-Content seit jeher haben und das auch mit entsprechenden Tools nicht so einfach zu lösen ist. Denn werbetreibende Unternehmen müssen stets befürchten, dass ihre Werbebotschaft in einem Umfeld erscheint, das ihnen nicht gefallen kann.
Infolgedessen sanken die Preise für Werbung
Das ist aber nur die eine Seite des Business. Denn auf der anderen Seite stehen die Nutzer:innen – und die laufen laut Zahlen, die die neue Twitter/X-Chefin Linda Yaccarino kürzlich kommunizierte, scharenweise weg. Derzeit habe X 200 bis 250 Millionen täglich aktive Nutzer:innen – das wären definitiv weniger als die 257,5 Millionen Nutzer:innen, die Elon Musk vor einem Jahr bei seinem Amtsantritt nannte. Hinzu kommt, dass insbesondere seit der Umbenennung in X deutlich weniger neue Nutzer:innen hinzugekommen sind.
Für Deutschland gilt zudem noch speziell, dass Elon Musk Ende September mit seiner Aussage und der Kommentierung eines Postings zu den deutschen Seenotretter:innen und einer damit verbundenen zumindest impliziten Wahlempfehlung für die AFD (diese kam im empfohlenen Ursprungs-Post vor) für eine bemerkenswerte Nutzer:innenwanderung hin zur in vielerlei sehr ähnlichen Plattform Bluesky gesorgt hat. Das von Twitter-Gründer Jack Dorsey initiierte Projekt arbeitet noch mit einem Invite-Code-System und einem etwas anderen Algorithmus als Twitter, hat es aber in den letzten vier Wochen von gut einer auf knapp zwei Millionen Nutzer:innen geschafft.
Kann Bluesky an die Stelle von Twitter/X treten?
Natürlich wird sich auch bei Bluesky (ähnlich wie bei Mastodon) erst zeigen müssen, wie viele Nutzer:innen regelmäßig posten und interagieren, auffällig ist aber, dass zahlreiche Prominente von Politikern über Kulturschaffende bis hin zu reichweitenstarken X-Autor:innen ihren Wechsel zu Bluesky angekündigt und ihr Konto bei Twitter/X stillgelegt haben. Dabei werden meist sämtliche Posts bis auf die letzten gelöscht, nachdem Elon Musk angekündigt hat, man wolle mit den Tweets und Posts der Vergangenheit eine KI anlernen.
Es läuft also genau ein Jahr nach der Übernahme der Geschäfte alles in allem schlechter denn je für Elon Musks Pläne, X rentabel zu machen. Auch wenn der Unternehmer gerade in einigen Ländern (zunächst in Neuseeland und auf den Philippinen) über die Abschaffung kostenloser Neukonten nachdenkt und auch die generelle Abschaffung der kostenlosen Basiskonten über kurz oder lang im Raum steht, bleibt der Aufwand hoch. So wird das Unternehmen, sofern es denn im EU-Raum am Markt bleiben will, nicht umhinkommen, den Anforderungen des Digital Services Act (DSA) nachzukommen und für die Aussonderung von Fake News und Hate-Speech zu sorgen.
Einen Großteil dieser Sisyphus-Aufgabe kann künstliche Intelligenz erledigen, doch ohne menschliche Aufsicht und damit verbundene Kosten wird auch das nicht gehen. Ob das allerdings reichen wird, um die toxische Atmosphäre für Nutzer:innen und Werbekund:innen wieder auf Vordermann zu bringen, darf bezweifelt werden.
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