Rätsel um dunkle Materie: Forschende finden Galaxie, die es so eigentlich nicht geben kann
Forschende aus den Niederlanden, dem Vereinigten Königreich und den Vereinigten Staaten haben in AGC 114905, einer gasreichen, ultra-diffusen Galaxie, die etwa 248 Millionen Lichtjahre von der Erde entfernt ist, trotz intensivster Beobachtung und eingehender Analyse keine Spur von dunkler Materie gefunden.
Unser Modell der galaktischen Entwicklung wackelt
Das Ergebnis, das in den Monthly Notices of the Royal Astronomical Society veröffentlicht wird und auf dem Preprint-Server arXiv verfügbar ist, liefert das paradoxe Ergebnis, dass es offenbar Galaxien ohne dunkle Materie geben kann, obwohl die Annahme der Existenz von dunkler Materie für unsere Modelle der galaktischen Entwicklung unerlässlich ist.
Der Astronom Pavel Mancera Piña von der Universität Groningen in den Niederlanden ist verwirrt. Jetzt hätten er und sein multinationales Team das Problem, „dass die Theorie vorhersagt, dass es in AGC 114905 dunkle Materie geben muss, aber unsere Beobachtungen sagen, dass es sie nicht gibt.“ Tatsächlich werde der Unterschied zwischen Theorie und Beobachtung immer noch größer, so der Forscher.
Der Ausgangspunkt für die verwirrende Beobachtung geht auf das Jahr 2019 zurück, als Mancera Piña und seine Kolleginnen und Kollegen sechs Galaxien entdeckt hatten, die anscheinend keine dunkle Materie enthalten. Sie beschlossen, die Galaxien näher unter die Lupe zu nehmen. Beurteilungsfehler konnten sie schon früh ausschließen, weil alle sechs Galaxien aus den ersten Studien ein ähnliches Verhalten zeigten.
Beobachtungsdaten lassen nur einen Schluss zu
Mit AGC 114905, einer Galaxie von der Größe unserer Milchstraße, aber mit einem Tausendstel ihrer Sterne und einer deshalb viel geringeren Leuchtkraft, begannen sie nun. Dabei gingen sie davon aus, dass eine Galaxie umso mehr dunkle Materie enthalten müsse, je weniger „normale Materie“ sie aufweist. Diese Galaxien würden quasi von dunkler Materie zusammengehalten, so die These, die sich als falsch herausstellte.
Mithilfe des „Karl G. Jansky Very Large Array“, eines Interferometers für astronomische Beobachtungen im Radiobereich, situiert im US-Bundesstaat New Mexico hatten die Astronomen eine detaillierte, auf 40 Stunden ausgelegte Beobachtungsmission gestartet. Dabei nahmen sie die Galaxie mit einer hohen räumlichen Auflösung auf, um danach die Rotationskurve der Galaxie, also die Umlaufgeschwindigkeit der Objekte in AGC 114905 um ihr galaktisches Zentrum, zu ermitteln.
Diese Methode ist eine der gebräuchlichsten zur Berechnung der Menge an dunkler Materie in einer Galaxie. Das Vorhandensein dunkler Materie wird zur Erklärung besonders kurzer Umlaufzeiten herangezogen. Mit anderen Worten und vereinfacht ausgedrückt: je mehr dunkle Materie, desto kürzer die Umlaufzeiten.
Keine dunkle Materie, aber auch keine Gründe, warum nicht
Wie sich herausstellte, konnte die Rotationskurve von AGC 114905 auch ohne die Annahme von dunkler Materie erklärt werden. Das bedeutet, dass die Menge der dunklen Materie in der Galaxie, wenn nicht null, so doch wenigstens vernachlässigbar zu sein scheint. Das kann passieren. Dafür gibt es Erklärungsansätze.
So könnte etwa eine nahe gelegene massereiche Galaxie AGC 114905 ihre dunkle Materie entzogen haben. „Aber es gibt keine“, sagt Mancera Piña. Ebenso ist es bereits vorgekommen, dass die Forschenden bei der Messung schlicht von falschen Entfernungen zur beobachteten Galaxie ausgegangen waren. Aber die Entfernung von AGC 114905, so die Forscher, ist gut eingegrenzt. Eine weitere Möglichkeit bestünde darin, dass die geschätzten Beobachtungswinkel nicht stimmen. Auch dann könnte den Instrumenten die dunkle Materie entgangen sein. Die Forschenden halten das zwar für möglich, aber für sehr unwahrscheinlich, denn die Abweichungen müssten sehr groß sein, sagen sie.
So bleibt das Fehlen des kosmischen Bindemittels, der dunklen Materie, in AGC 114905 zunächst ein Rätsel. Die Forschenden wollen nun die sechs identifizierten Galaxien nacheinander in gleicher Weise intensiv beobachten, um zu schauen, ob sich ein Muster erkennen lässt, dass Hinweise auf eine Erklärung bieten könnte. Zunächst aber dominiert die Ratlosigkeit.